Interview mit Xavier Bettel im Luxemburger Wort

"Ja, ich will Premierminister bleiben”

Interview: Luxemburger Wort (Marc Schlammes)

Luxemburger Wort: Xavier Bettel, was ist die wesentliche Erkenntnis, die Sie aus den Debatten zu ihrer Regierungserklärung zurückbehalten?
Xavier Bettel: Dass es eigentlich mehr gemeinsame Punkte gibt, als wir zugeben. Beispielsweise der übergreifende Konsens, dass im Wohnungsbau mehr getan werden muss. Beispielsweise im Sozialen, wo die Leistungen hochgehalten werden sollen. Ich behalte aber auch fehlende Alternativen von der Opposition zurück - mit Ausnahme von Déi Lénk.
Aber deren Vorschläge entsprechen nicht meinen Visionen für das Luxemburg von morgen.
Luxemburger Wort: Zu Beginn Ihrer Rede thematisierten Sie eingehend den Krieg in der Ukraine, verwiesen auf die europäische Geschlossenheit mit Sanktionen und Waffenlieferungen, auch aus Luxemburg. Wann wird die Zeit für Gespräche oder gar Verhandlungen kommen, um den Konflikt zu beenden?
Xavier Bettel: Ich gehöre zu den wenigen europäischen Staats- und Regierungschefs, die nach dem 24. Februar noch Kontakt zu Präsident Putin hatten. Das bereue ich nicht, auch wenn ich von der CSV dafür kritisiert wurde. Wenn nicht miteinander gesprochen wird, gibt es keine Lösung. Seit Butscha ist das Vertrauensverhältnis jedoch zerstört. Das ist ein Knackpunkt für mich. Erst die Massaker an unschuldigen Menschen und dann auch noch die Schuldigen auszeichnen: Das ist inakzeptabel. Wenn es jetzt von ukrainischer Seite dennoch das Signal geben sollte, mit dem russischen Präsidenten zu reden, würde ich das trotzdem tun.
Luxemburger Wort: Bemerkenswert ist bis dato die europäische Geschlossenheit. Wenn es nun in den Wintermonaten bei Gas und Strom zu Versorgungsengpässen kommen sollte, dürfte diese Geschlossenheit auf eine harte Probe gestellt werden.
Xavier Bettel: Wir müssen uns in der EU sehr bewusst sein: Wenn die europäische Solidarität nicht mehr gewährleistet ist, dann hat Putin gewonnen.
Luxemburger Wort: Man könnte meinen, Sie sind zum Klima-Premier geworden, so ausführlich thematisierten Sie die Klima- und Energiepolitik. War dies auch deshalb nötig, weil die Klimakrise einmal mehr droht, durch andere Krisen in die zweite Reihe gedrängt zu werden - und weil vielerorten nun eine Energiepolitik betrieben wird, die nur bedingt klimafreundlich ist?

Xavier Bettel: Wir kennen die Klimakrise seit Jahren.
Doch immer, wenn sich ein anderer Konflikt auftut, wird nicht mehr über das Klima gesprochen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist dies anders: Uns wird unsere Abhängigkeit von fossilen Energien und von einem Produzenten, Russland, schonungslos vor Augen geführt. Gleichzeitig erkennen wir, dass es wirklich Alternativen gibt. Der Moment für die Akzeptanz einer anderen Energie- und Klimapolitik war noch nie so groß. Das zeigt auch der von mir initiierte Klima-Bürgerrat: Dessen Empfehlungen gehen über das hinaus, was im nationalen Energie- und Klimaplan (PNEC) vorgesehen ist.
Luxemburger Wort: Dadurch entsteht eine gewisse Erwartungshaltung, die sehr schnell in Enttäuschung münden kann, wenn der Klima-Bürgerrat feststellen muss, dass seine Empfehlungen nicht berücksichtigt werden.
Xavier Bettel: Wir haben noch immer ein Parlament, das die politischen Entscheidungen trifft. Daher ist die für Ende des Monats anberaumte Debatte auch so wichtig. Der Klima-Bürgerrat ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Wenn wir also dessen Ideen nicht ernst nehmen, dann haben wir als Politiker nichts verstanden und hinken den Erwartungen der Bevölkerung hinterher. Wir müssen in der Klimapolitik einen möglichst breiten Konsens schaffen; sie eignet sich nicht als Mehrheit-gegen-Opposition-Feld, wo der PNEC mit 31 zu 29 Stimmen verabschiedet wird.
Luxemburger Wort: Als Zankapfel zwischen Mehrheit und Opposition, aber auch innerhalb der Koalition gilt die Steuerpolitik. War es eine verpasste Chance, die Steuerreform nicht gleich zu Beginn der Legislaturperiode in Angriff genommen zu haben?
Xavier Bettel: Nein, denn wir konnten Bürger und Betriebe in der Corona- und Energiekrise auch deshalb unterstützen, weil es bis dahin keine hohen Ausgaben gab, abgesehen von unserer Investitionspolitik. Wir sind in der Koalition keine Sparfetischisten. Jede der drei Parteien hat ihre DNA in Steuerfragen; gemeinsam haben wir uns aber darauf verständigt, nichts auf Kosten kommender Generation zu machen, sondern dann an den Steuerschrauben zu drehen, wenn der budgetäre Spielraum stimmt.
Das ist der Unterschied zur Opposition: Sie wollen gleichzeitig Steuererleichterungen und keine weitere Verschuldung. Ich sage Ihnen: Es ist entweder das eine oder das andere.
Luxemburger Wort: Sie, wie auch die Finanzministerin, pochen bei den Ausgaben auf die Wahrung des Triple-A und der Schuldenobergrenze von 30 Prozent.
Wie erklären Sie einem Bürger oder Betrieb, der zurzeit darum kämpft, am Monatsende über die Runden zu kommen und sich steuerliche Erleichterungen erhoffte, Ihren Standpunkt?
Xavier Bettel: Wir können heute hingehen und die Verschuldung auf 50 Prozent anwachsen lassen: Dann können wir weitere Ausgaben in Milliardenhöhe tätigen. Und was geschieht morgen? Die Dienstleistungsbranche, die mit dem Finanzplatz rund 80 Prozent der Einnahmen gewährleistet, kehrt Luxemburg den Rücken. Und dann? Das Triple-A besteht zwar nur aus drei Buchstaben - die aber sehr viel bedeuten, wenn sie weg sind. Wir sollten nie vergessen, dass Luxemburg einmal ein armes Land war, das Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben verließen.
Ich will nicht der Premier sein, der seinem Nachfolger ein armes Land überlässt.
Luxemburger Wort: Von der Opposition kam die Kritik, keinen „Apel fir den Duuscht" beiseite gelegt zu haben. Hat es die Regierung übertrieben mit ihrer Gratis-Politik, ob beim öffentlichen Transport oder bei der Betreuung in Schulen, Maison Relais oder Musikschulen, was zudem klassische Gießkannenpolitik ist ohne selektiven Ansatz?
Xavier Bettel: Die Opposition hat all dem zugestimmt.
Da bin ich dann schon überrascht, wenn sie jetzt dagegen sind. Für mich ist es wichtig, alle Kinder gleich zu behandeln und nicht nach sozialen Kriterien abzustempeln. Das Plus an Mehreinschreibungen bestätigt uns auch in unserer Politik. Und wenn der öffentliche Transport heute kostenlos ist, bedeutet dies nicht, dass wir nicht mehr investieren: Es werden weiter Gelder in Bahn und Bus fließen, um sie als sichere, bequeme und pünktliche Alternative zum Auto zu etablieren. Was den famosen „Apel fir den Duuscht" anbelangt: Ich habe die Opposition gefragt, wo sie denn den Rotstift angesetzt hätte. Doch da kam nichts - außer jetzt von der CSV-Co-Fraktionschefin, die im „Kloertext" bei RTL den Bummelbus nannte. Mit Verlaub: Das reicht nun wirklich nicht, um das Defizit zu decken.
Luxemburger Wort: Mit Blick auf das Tripartite-Abkommen: Wie wichtig ist es, dass die jetzigen Beschlüsse ausreichen, um die Inflation zu bändigen und es im Wahljahr zu keiner weiteren Runde kommen muss?
Xavier Bettel: Wenn es zu einer weiteren Index-Tranche in 2023 kommen sollte, werde ich meine Hausaufgabe erledigen und mich mit den Sozialpartnern zusammensetzen - Wahlen hin oder her. Die Menschen müssen sich auf eine Regierung verlassen, die verantwortungsvoll handelt. Ich bin mir bewusst, dass dies in einer Vorwahlzeit keine einfache Mission darstellt. Aber auch der Premierminister kann sich den Zeitpunkt einer Index-Tranche nicht aussuchen. Und bis dato sind meine Tripartite-Runden stets mit einem Ergebnis im Interesse von Bürgern und Betrieben ausgegangen.
Luxemburger Wort: Machen Sie sich keine Sorgen, dass sich die Unternehmer als traditionelle DP-Wählerschaft nach dem jüngsten Tripartite-Abkommen dennoch von Ihnen und Ihrer Partei abwenden?
Xavier Bettel: Jene Unternehmer, mit denen ich mich unterhalte, sind sich bewusst, wie wichtig der Index für ihre Arbeitnehmer ist. So wie sie mir sagen, dass ihnen ein Szenario mit fünf Index-Tranchen das Genick gebrochen hätte, sagen sie ebenfalls, dass sie mit der jetzigen Lösung leben können. Wir dürfen nicht vergessen: Der Index ist stets das Ergebnis einer Preissteigerung. Und es wäre in der jetzigen Lage unverantwortlich und unverständlich gewesen, den Mechanismus einfach auszusetzen. Dessen sind sich die Arbeitgeber auch bewusst. Sie wissen, dass es ihrem Unternehmen gut geht, wenn es den Angestellten gut geht. Und dann geht es auch ihnen selbst gut.
Luxemburger Wort: Wie gehen Sie damit um, dass ihr einstiger Vize-Premier, Dan Kersch, sich als Abgeordneter derart an Ihrer Partei abarbeitet und fast schon wie der 30. Oppositionsabgeordnete rüberkommt?
Xavier Bettel: Herr Kersch hat sich in der Chamber zur blau-rot-grünen Mehrheit bekannt. Das ist ein wichtiges Statement. Darüber hinaus hat er, wie jeder Abgeordnete, das Recht, seine Meinung zu äußern. Diese Meinung muss ich nicht teilen. Ich habe ein Koalitionsabkommen, an das ich mich halte und das wir gemeinsam abarbeiten wollen. Es gibt nicht den Wunsch, alternative Mehrheiten zu finden.
Luxemburger Wort: „Verantwortung übernehmen”, die Kernbotschaft Ihrer Erklärung, wird auch als Bewerbung für eine Fortführung der blau-rot-grünen Koalition interpretiert. Vorausgesetzt, die Arithmetik stimmt im Oktober 2023, werden Sie die Koalition dann fortsetzen?
Xavier Bettel: Erst einmal müssen die Wähler entscheiden. Ich kann ihnen nur sagen, dass ich nichts ausschließe und ich kann ihnen versichern, dass die Chemie zwischen den drei Parteien im Moment stimmt. Gewiss, die Flitterwochen sind vorbei. Aber das bedeutet doch nicht, dass die Scheidung eingereicht wird. Unsere Zusammenarbeit ist weiterhin vertrauensvoll.
Luxemburger Wort: Zuletzt hat es immer mal Gerüchte gegeben, Sie würden Ihre Karriere auf europäischer oder internationaler Ebene fortsetzen. Werden Sie in einem Jahr nochmals kandidieren, um Premierminister bleiben zu können?
Xavier Bettel: Auch wenn meine Partei mich noch nicht gefragt hat: Ich bin voller Energie und Motivation, um weiterzumachen. Also, ganz klar: Ja, ich will Premierminister bleiben. Und ja, es hat auch Angebote gegeben, die ich aber abgelehnt habe.
Luxemburger Wort: Wenn man seit Monaten tagein, tagaus mit Krisen konfrontiert ist: Was macht Xavier Bettel, um seine positive Lebenseinstellung nicht zu verlieren? Oder verzweifeln Sie nicht manchmal doch an den alltäglichen Krisenszenarien?
Xavier Bettel: Nein, kein Verzweifeln. Die multiplen Krisen spornen mich viel mehr an, pragmatische Lösungen im Interesse der Menschen zu finden. Wobei ich zugeben muss, dass dies während der Covid-Krise besonders schwerfiel, weil ich als liberaler Politiker zwischen Freiheit und Einschränkung abwägen und Entscheidungen fällen musste, die tief in den Alltag meiner Mitbürger einschnitten. Das war eine moralische und mentale Herausforderung.

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