Interview von Xavier Bettel im Luxemburger Wort

"In der Politik braucht es Ambitionen"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

 

Luxemburger Wort: Xavier Bettel, haben Sie am 13. Oktober ernsthaft daran geglaubt, dass Sie heute noch Premierminister sind? 

Xavier Bettel: Ich hatte es gehofft, aber richtig daran geglaubt habe ich nicht. Die Hoffnung war größer als der Glaube. 

Luxemburger Wort: Wieso hat die DP eine Koalition mit der CSV erst gar nicht in Erwägung gezogen? 

Xavier Bettel: Man kann einwenden, dass wir alle Möglichkeiten hätten in Erwägung ziehen sollen. Doch die CSV war angetreten, um den Premierminister zu stellen. Claude Wiseler har diesen Anspruch am Wahlabend, als die Resultate bereits bekannt waren, noch einmal bekräftigt. Der Posten des Regierungschefs war für die CSV eine conditio sine qua non. Doch die Dreierkoalition ist nicht abgewählt worden. Es hat innerhalb der drei Parteien Verschiebungen gegeben, doch unter dem Strich haben wir nur einen Sitz verloren. Es gab die Möglichkeit, die Regierung fortzuführen, da ist es normal, dass auch genau das zunächst ausgelotet wurde. Mit der CSV zu reden, nur um zu reden, wäre reine Show gewesen und das wollte ich in der Tat nicht. 

Luxemburger Wort: Bei Ihrer Regierungsklärung haben die beiden Vertreter der Piraten mit den Regierungsparteien gestimmt. Stimmt, Sie dies angesichts der knappen Mehrheit zuversichtlich? 

Xavier Bettel: (lacht) Eine Mehrheit von 33 Stimmen hatte ich noch nie. Nein, im Ernst, ich habe eine Mehrheit von 31 Sitzen und darauf stelle ich mich für die kommenden fünf Jahre ein. 

Ich freue mich natürlich, wenn die anderen Parteien unsere Texte mittragen. Doch ich verlasse mich weder auf die Piraten noch auf Déi Lénk. Ich werde nicht versuchen, eine alternative Mehrheit zusammen zu bekommen. 

Luxemburger Wort: Zum Schluss der vergangenen Legislaturperiode traten immer wieder Differenzen zwischen den drei Koalitionsparteien zu Tage. Beinhaltet eine ganz knappe Mehrheit von 31 Sitzen nicht doch Risiken? 

Xavier Bettel: Ich konnte keine großen Differenzen ausmachen. Die Mehrheit war mit 32 Sitzen auch in der vergangenen Legislaturperiode schon knapp. 31 oder 32 Sitze, das macht keinen großen Unterschied. Ich bin überzeugt, dass der Zusammenhalt diesmal noch enger sein wird. Mir ist auch wichtig, dass wir die Parteien stärker einbinden und mehr mit den Fraktionen diskutieren. 

Luxemburger Wort: Die Zusammensetzung der Regierung mit beispielsweise zwei Vizepremiers deutet auf mehr Machtpolitik und auf weniger Kollegialität hin ... 

Xavier Bettel: Die Kollegialität ist genau so groß wie vor fünf Jahren. Die Zusammensetzung spiegelt den Wählerwillen wider. Die DP hat zwölf Sitze, die LSAP zehn und die Grünen neun. 
Diesem Kräfteverhältnis wurde Rechnung getragen. Ich finde es absolut legitim, und ich hatte es übrigens selbst vorgeschlagen, dass die Grünen einen Vizepremier stellen können. 

Luxemburger Wort: Mit dem Ministerium für die Digitalisierung ist ein neues Ressort hinzugekommen. Was wollen Sie als zuständiger Minister in den nächsten fünf Jahren genau tun, wo liegen Ihre Prioritäten? 

Xavier Bettel: Das Spektrum reicht von A bis Z. 
Bei der Digitalisierung geht es natürlich um die Infrastrukturen. Es geht aber auch um die Ausbildung in den Schulen, um die SG-Strategie, es geht um die Bereiche E-Health, Fintech und vieles mehr. Wir brauchen auch eine Strategie für den Umgang mit der künstlichen Intelligenz. 
Bei den Infrastrukturen und in Bezug auf die Kompetenzen schneiden wir international sehr gut ab. Doch beim E-Government, also der Digitalisierung der Behörden beispielsweise, hinken wir hinterher. Ich bin nicht nur Minister für die Digitalisierung, ich bin auch verantwortlich für die Verwaltungsreform. Die beiden Ressorts gehen Hand in Hand. 
Es ist schon viel passiert. Doch mit der administrativen Vereinfachung ist es ein bisschen wie mit dem Ungeheuer von Loch Ness: Alle reden davon, doch sie ist nicht richtig greifbar. Was ich sagen will, ist: Es braucht viele kleine Schritte und es ist wichtig, dass der digitale Bereich gestärkt wird. Mein Ziel ist es, dass die Bürger ihre Geburtsurkunde, den Auszug aus dem Strafregister usw.per Handy beantragen können. Es muss zudem möglich sein, dass man nicht für jeden Antrag seine gesamten persönlichen Daten erneut eingeben muss. Das Geburtsdatum und der Geburtsort ändern nicht, also muss man diese Angaben bei jedem weiteren Antrag automatisch abzurufen können. Natürlich kann man den Antrag auch weiterhin ganz normal in Papierform zustellen. Ich freue mich darauf, diese Herausforderungen zusammen mit Marc Hansen anzugehen. 

Luxemburger Wort: Nicht nur die Opposition moniert, dass das Regierungsprogramm in vielen Punkten vage bleibt. Lassen Sie diese Kritik gelten? 

Xavier Bettel: Ich lasse die Kritik gelten, wenn es um die Punkte geht, zu denen wir noch weitere Informationen brauchen, bevor wir Entscheidungen treffen können. Es gibt Punkte, wo ich erst das Pro und Kontra abwägen will. Wir müssen auch die budgetären Vorgaben berücksichtigen. 

Ich kann die Kritik verstehen, ich teile sie aber nicht. In der Politik braucht es Ambitionen. Ich werde mich nicht unter Druck setzen lassen, wenn es um die Umsetzung der verschiedenen Maßnahmen geht. 

Luxemburger Wort: Können Sie ein Beispiel geben, bei welchen Punkten Sie noch zusätzliche Informationen brauchen? 

Xavier Bettel: Die Energieziele sind ein gutes Beispiel. Wir sind uns einig, dass wir beim Tanktourismus gegensteuern müssen. Wir haben uns aber bewusst kein konkretes Datum gesetzt, weil wir nicht von heute auf morgen auf die Einnahmen verzichten können. Ähnlich sieht es bei der Betriebsbesteuerung aus. Ich will, dass wir im internationalen Umfeld wettbewerbsfähig bleiben. Zur Zeit weiß ich aber nicht genau, wie sich dieses Umfeld entwickeln wird. Also setze ich auch kein Datum. Der Bau der schnellen Tram nach Esch ist ein weiteres Beispiel. Ein verbindliches Datum kann ich nicht geben, weil ich nicht weiß, wie schnell es uns gelingt, die benötigten Grundstücke zu erwerben. In Hellingen hat es damals ewig gedauert. In einem Rechtsstaat gibt es nun einmal Prozeduren, die wir einhalten müssen. 

Luxemburger Wort: Auch in Bezug auf die Finanzierbarkeit der einzelnen Maßnahmen wurden Fragen laut. Ist die Finanzierung gesichert? 

Xavier Bettel: Ja! Die Frage nach der Finanzierbarkeit wird übrigens schon fünf Jahre lang aufgeworfen. Immer wieder wird der Vorwurf erhoben, die Regierung gehe unverantwortlich mit den öffentlichen Geldern um und würde die Staatsschuld in die Höhe treiben. Das stimmt alles nicht.
Es wurde noch nie so viel in die Infrastrukturen investiert wie in den letzten fünf Jahren. Und das war auch dringend nötig. Unsere Finanzsituation ist gut, wir haben genügend Spielraum, um unsere Politik umzusetzen. Das belegen die Zahlen der Finanzinspektion. Das Regierungsprogramm ist kein "Schönwetterprogramm", wie die ewigen Schwarzmaler behaupten. 
Ich weiß, dass das internationale Umfeld sich ändern kann. Doch wir haben in der vergangenen Legislaturperiode bewiesen, dass wir Verantwortung übernehmen, dass wir bereit sind, auch unpopuläre Maßnahmen zu ergreifen, wenn es erforderlich ist. 

Luxemburger Wort: Der Statec hat seine Wachstumsprognosen von vier auf drei Prozent nach unten revidiert ... 


Xavier Bettel: Das stimmt. Doch ich orientiere mich ebenfalls am Ist-Zustand, den die Finanzinspektion errechnet hat. 
Außerdem sind drei Prozent noch ein sehr stabiles Wachstum. 

Luxemburger Wort: Mit wie viel Euro schlagen die einzelnen Maßnahmen, etwa der kostenlose öffentliche Transport, denn nun zu Buche? 

Xavier Bettel: Laut unseren Berechnungen liegen die Kosten für den kostenlosen öffentlichen Transport zwischen 30 und 40 Millionen Euro. 

Luxemburger Wort: Wie wollen Sie die betroffenen Gemeinden entschädigen? 

Xavier Bettel: Wir werden uns mit den Vertretern der Gemeinden zusammensetzen und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Jeder muss einen Teil der Verantwortung übernehmen. 

Ich bin zuversichtlich, dass wir einen gemeinsamen Nenner finden werden. 

Luxemburger Wort: Wie hoch sind die Kosten für das Gratisangebot bei den Maisons relais? 

Xavier Bettel: Die gratis Kinderbetreuung ist eine Einzelmaßnahme, die man zusammen mit den anderen Vorhaben betrachten muss. Es ist ein Gesamtpaket von Sachleistungen. Die Detailzahlen zu den Maisons relais werden demnächst vorliegen. 

Luxemburger Wort: Im Regierungsprogramm geht überhaupt nicht mehr die Rede von der sozialen Selektivität, die zumindest zu Beginn der letzten Legislaturperiode immer wieder ins Fenster gestellt wurde. Wieso? 

Xavier Bettel: Bei den Punkten, die wir vorhin angesprochen haben, etwa der kostenlosen Kinderbetreuung, handelt es sich mehr um gesellschaftspolitische Fragen als um Fragen der sozialen Selektivität. Es geht nicht darum, was die Eltern verdienen. Wir stellen die Kinder in den Mittelpunkt. Und wir wollen den Frauen mehr Möglichkeiten geben und ihnen erlauben, unabhängig zu sein, wenn sie das wollen. Wenn beispielsweise der gut verdienende Bankdirektor seine Frau, die ihren Beruf aufgegeben hat, um die Kinder zu betreuen, verlässt, dann hat sie trotz der guten Einkünfte ihres ehemaligen Mannes nach der Scheidung womöglich ein Problem. Beim öffentlichen Transport muss man bedenken, dass heute nur noch eine Minderheit überhaupt bezahlen muss. Die Maßnahme ist zudem eine gute Werbung für Luxemburg, es geht um Nation Branding. 

Luxemburger Wort: Ab dem kommenden Jahr gilt der 9. Mai als offizieller Feiertag. Wieso gerade der Europatag, hätte es nicht auch andere Möglichkeiten gegeben? 

Xavier Bettel: Luxemburg ist eine der europäischen Hauptstädte. Wir werden das erste europäische Land sein, das neben dem Nationalfeiertag auch die europäische Idee feiert. Wir sind uns heute nicht mehr bewusst, was die Europäische Union für uns bedeutet. Der Friedensprozess, den wir seit 1957 erleben, ist eine riesige Errungenschaft. Bei den Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs stelle ich immer wieder fest, dass sich auch die politischen Leader oft nicht mehr bewusst sind, dass die Europäische Union mehr ist als ein ökonomisches Projekt. Sie sind sich oft nicht mehr bewusst, dass es auch um die europäischen Werte geht. 

Luxemburger Wort: Vieles deutet darauf hin, dass es zu einem ungeordneten Brexit kommen wird. Wie bereitet sich Luxemburg konkret auf diese Situation vor? 

Xavier Bettel: Wir haben schon vor Monaten eine spezielle Abteilung im Außenministerium ins Leben gerufen, deren Aufgabe es ist, Luxemburg auf einen harten Brexit vorzubereiten: Seit Ende vergangener Woche liegen die Vorschläge der EU-Kommission für den Fall eines "No-Deal" vor. Die Verantwortlichen im Außenministerium werden das Dokument in den nächsten Tagen analysieren. Wir müssen klären, wie es mit den britischen Bürgern, die in Luxemburg leben, weitergeht. Sie gehören zu Luxemburg. Wir werden dafür sorgen, dass sie unverzüglich die erforderlichen Papiere erhalten. 

Wir werden niemandem die Tür weisen. Wir müssen darüber hinaus Lösungen für die luxemburgischen Staatsbürger finden, die in Großbritannien leben. Es bleiben sehr viele Fragen offen. Ich weiß nicht, wie es beim Brexit ausgehen wird. 

Ich bin aber überzeugt, dass die britische Premierministerin den besten Deal ausgehandelt hat, den es gibt. 

Teresa May hat das Maximum herausgeholt. Mehr war nicht drin, denn die EU darf ihre eigenen Interessen nicht aufgeben. Ich respektiere die Wahl der Briten, ich bedauere aber ihre Entscheidung. 

Wenn es um die Interessen des Finanzplatzes ging, hatte Luxemburg mit London immer einen verlässlichen Partner in Brüssel. Ich werde allerdings nicht zulassen, dass Europa sich Regeln auferlegt, wie etwa die Finanztransaktionssteuer, die später in Großbritannien nicht gelten werden. Ich bin nicht gegen eine Finanztransaktionssteuer, aber sie muss für alle gelten. Wenn sie weltweit eingeführt wird, oder zumindest auf der Ebene der OCDE, dann bin ich bereit, darüber zu diskutieren. Gegen die Einführung einer europäischen Transaktionssteuer werde ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfen. 

Eine europäische Finanztransaktionssteuer wäre Selbstmord. 

Luxemburger Wort: Was sind Ihre politischen Ideale? 

Xavier Bettel: Ich bin unverbesserlich in meinem Bestreben, dafür zu arbeiten, dass es den Menschen gut geht. Es mag banal klingen, aber dies ist meine tägliche Motivation mich zu engagieren. Ich bin sehr gerne unter und nah bei den Menschen und treffe dabei auch immer wieder Personen und Persönlichkeiten, die durch die verschiedensten Ursachen mehr Leid, als Glück im Leben haben. Es irgendwie zu schaffen, das Leben für jeden lebenswerter zu machen, das ist, mein politisches Ideal - und ja, ich finde auch, dass jeder für sich selbst auch einen Teil dazu beitragen kann und muss. 

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