Jean-Claude Juncker, Discours à l'occasion de la Petersberger Convention, Bonn

Sehr verehrter Herr Ministerpräsident, lieber Jürgen,

Eminenz, Exzellenzen,

Lieber Herr von Dohnanyi,

Meine Damen und Herren,

Liebe Freunde!

Ich bin sehr froh, dass ich heute Morgen nach Bonn kommen durfte, um an dieser Petersberger Konvention teilzunehmen.

Mein Thema lautet: rheinischer Kapitalismus/soziale Marktwirtschaft – Modell für Europa? Schon alleine die Interpunktion des Titels meines Vortrages zeigt Ihnen, dass das was hier von mir erwartet wird nicht zu leisten ist, weil der Ministerpräsident hat mir angedeutet, mir stünden dafür genau 30 Minuten zur Verfügung und die bräuchte ich eigentlich zur Einleitung in das Thema. Deshalb muss ich das im Sauseschritt und in einem infernalen Rhythmus hier bewerkstelligen.

Um mir und Ihnen den Vortrag einfach zu machen, untersuche ich nicht was denn der Unterschied sein könnte zwischen rheinischem Kapitalismus und sozialer Marktwirtschaft. Ich dekretiere einfach apodiktisch, dass das genau dasselbe ist, dann brauchen wir diesen verschlingenden Zeitaufwand nicht zu leisten.

Soziale Marktwirtschaft ist ein unkontroverses Thema gewesen. Eigentlich fast eine Leerformel, denn die soziale Marktwirtschaft als Konzept ging auf oder ging unter in einem etwas breiigen Konsens aller relevanten Akteure der Volkswirtschaft und in diesem breiigen Konsens aller Debattierenden in unseren öffentlichen Debatten. Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass es den Vätern der Lissabonner Vertrages ohne größeren Kampf gelang, die soziale Marktwirtschaft als eine der Zielsetzungen der Europäischen Union in den Artikel 2 des Lissabonner Vertrages festschreiben zu lassen. Das hat zu keinen größeren Kontroversen geführt. Einige britische Zwischenrufe waren schnell beantwortet und dann war die soziale Marktwirtschaft zum Ziel der Europäischen Union erklärt worden.

Leerformel habe ich gesagt, weil man die letzten beiden Jahrzehnte wenig Zeit darauf verwendete, über die Intensität dieses Begriffes nachzudenken, denn man hielt sich eigentlich an die illustren Vorgaben, nicht weniger illustren Vordenker wie Müller-Armack, der einfach die soziale Marktwirtschaft zu einer Art dritten Weg zwischen liberaler Macht und Planwirtschaft erklärt hatte. Gewissermaßen als ein Instrumentarium zur Zähmung des Kapitalismus. Wobei mir hier erwähnenswert scheint, dass der Begriff Kapitalismus selbst sehr unterschiedliche Konnotierungen diesseits und jenseits des Atlantiks aufweist. Wir reden nicht gerne über den Kapitalismus, der Begriff ist fast negativ gefärbt, währen die Amerikaner von Capitalism reden und eigentlich Marktwirtschaft meinen. Aber Social Capitalism hat den Weg in den amerikanischen Sprachgebrauch nicht gefunden und da sieht man sehr schnell den Unterschied zwischen Marktwirtschaft, Marktliberalität und sozialer Marktwirtschaft. Wobei das Sozialattribut mehr als nur eine schwache Nuancierung des Gesamtbegriffes Marktwirtschaft ist.

Wenn man besser verstehen möchte was Deutsche mit einem Begriff, der fast nur in Deutschland verwendet wird, eigentlich meinen, ist es sehr heilsam, bei Ausländern nachzuschlagen. Nicht bei mir, aber bei richtigen Ausländern! Hilfestellung gibt dabei der französische Ökonom Michel Albert, der ein bisschen aus der Mode gekommen war die letzten Jahre, aber zurzeit wieder eine fröhliche Renaissance erlebt. Ich kann auch Michel Albert nur empfehlen, weil es der ständige Sekretär der französischen Akademie der Moral- und Politikwissenschaften ist. Die hat insofern Bedeutung als ich da Mitglied bin und der Papst auch. Er wurde das als er Kardinal war und wurde Papst nachdem er Mitglied der Akademie geworden war und ich möchte eigentlich das bleiben was ich bin. Insofern ist das auch kein in aller Hinsicht Beispiel gebendes Prozedere.

Michel Albert beschreibt den rheinischen Kapitalismus und die soziale Marktwirtschaft, denn er macht auch die Gleichung dadurch, dass er drei Hauptcharakteristika nennt, die diese ausmacht, nämlich Marktfreiheit, Wettbewerb und soziale Finalität. Er beschreibt die soziale Marktwirtschaft als ein gesamtökonomisches Verhalten, das nicht ergebnisoffen und nicht normen- und konsequenzneutral ist. Und weil er die soziale Marktwirtschaft an dem Dreigestirn "Marktfreiheit, Wettbewerb und soziale Finalität" festmacht, dekliniert er auch die Konsequenzen, die sich aus dieser dreigeteilten Begrifflichkeit ergeben, indem er sie unterteilt in makroökonomische und mikroökonomische Konsequenzen, die sich aus diesem angewandten und anzuwendenden Konzept ergeben.

In der makroökonomischen Rubrik zählt er die Begriffe auf, die uns bekannt vorkommen und die allesamt auch Eingang in europäische Verträge und auch in den letzten Lissabonner Vertrag gefunden haben. Makroökonomische Konsequenz ist hohes Wachstum. Es gibt keine soziale Marktwirtschaft ohne hohes Wachstum und niedrige Inflation. Hohe Inflation und soziale Marktwirtschaft sind zwei konträre Begriffe, gehen nicht zusammen. Soziale Marktwirtschaft funktioniert nur bei niedriger Inflation und auch nur bei niedriger Arbeitslosigkeit sagt Albert, um dann im sozialeren Teil der Konsequenzbildung auch festzustellen, dass soziale Marktwirtschaft ohne anständige Arbeitsbedingungen auch nicht denkbar ist, und auch nicht ohne soziale Sicherheit, und auch nicht ohne gesunde Staatsfinanzen, und auch nicht ohne effiziente öffentliche Dienstleistung.

In der Rubrik der Konsequenzen finden wir vielfältige, detaillierte Zielsetzungen europäischen Tuns wieder, das ja auch Eingang gefunden hat in nationales Tun. Besser würde man sagen: Vieles was national richtig gewachsen war hat Eingang gefunden in das gesamteuropäische Denken. Im Mikroteil seiner Konsequenzbeschreibung stellt er einfach nüchtern fest, dass Betriebe, die in der sozialen Marktwirtschaft wirtschaftlich tätig sind, nicht für sich selbst da sind, sondern dass sie den Menschen zu dienen haben. Wirtschaft gewissermaßen als Diener der Menschheit, was ein anderes Wort für Solidarität in der Gesellschaft ist. Was er wiederum dadurch abfedert, eigentlich erläuternd ergänzt, dass er hinzufügt, dass soziale Marktwirtschaft, die den Menschen dienen soll nicht funktionieren kann, wenn nicht auch das Prinzip der Selbstverantwortung, des sich zuständig Fühlens für das eigene Tun und die Subsidiarität sich hinzugesellen. Gewissermaßen soziale Marktwirtschaft als das Gesamtprodukt von staatlichem und privatökonomischem Wirken, gipfelnd in der Feststellung, die auch lange nicht von Konsens geprägt war, dass der Markt alleine keine Solidarität produziert, sondern dass Solidarität nur entsteht durch effizientes Markthandeln und durch den normativen Zugriff, den normativen Eingriff der öffentlichen Hand der staatlich Handelnden.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise, besser die Finanz- und Wirtschaftskrise, die wir erlebt haben und die wir teilweise durchschritten haben, das Tal das wir aber noch nicht verlassen haben, war und ist nicht die Krise der sozialen Marktwirtschaft, sondern ist die Krise, die Katastrophe die dann entsteht, wenn man sich nicht mehr an die Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft beim Festlegen des eigenen Tuns und beim Vordenken dessen was man übermorgen tun sollte hält. Die Krise, von der Jürgen Rüttgers zurecht gesagt, sie wäre eine moralische, weil sie aus der ethischen Nicht-Erdung des wirtschaftlichen Tuns eigentlich resultierte, ist die Krise die aus falsch verstandener Gier entsteht, also aus Erwartungshorizonten an das wirtschaftliche Tun, die eben keiner sozialen Finalität entsprechen. Ich sage das für viele, die im Bankgewerbe tätig waren, für diese eben ethisch nicht geerdeten Manager. Ich sage das aber auch für viele, die als Kunden, als Anleger sich eigentlich dachten, dass man Wohlstand auch ohne Arbeit, ohne Anstrengung und ohne Leistung erreichen kann. Ich sage dies jenen, die den Satz so irrsinnig gerne geglaubt haben, der in Rieseninseraten in unseren Tageszeitungen auch heute noch zu lesen ist und der da lautet: "Lassen Sie ihr Geld für sich über Nacht arbeite!" Man soll selbst arbeiten, wenn man gerne zu Wohlstand käme, anstatt mit dem eigenen Geld und mit den Talenten anderer darauf zu spekulieren, dass sich wundersame Geldvermehrung über Nacht einstellt, im Übrigen immer zu Kosten anderer und auf Kosten anderer, die weniger Geld haben.

In allen Konzertsälen dieser Welt erklang während 15, 20 Jahren – seit dem Fall der Berliner Mauer und diesem Irrglauben, der viele befallen hatte, dass nachdem der Kommunismus gescheitert war, der Kapitalismus eigentlich plötzlich fehlerfrei erschien und man über seine Verrenkungen und über seine Irrungen und Wirrungen eigentlich nicht mehr nachdachte. In allen Konzertsälen der Welt erklang das hohe Lied des Geldes und kein Gegenchor wagte es dagegen anzusingen. Dieses totale ökumenische Money-Hosianna war das eigentlich Lied nach dem getanzt wurde in den letzten 15, 20 Jahren. Dann sind wir plötzlich aus dem Schritt geraten, weil wir merkten, die Partitur stimmt ja gar nicht, weil wir die Partitur auch nicht mehr richtig erkennen konnten. Geld und Gier, dann also auch Geldgier, ist etwas wozu man sich nicht offen bekennt und deshalb versteckt man sie in komplizierten Produkten, in intransparent strukturierten Finanzprodukten, die man anbietet. Man möchte ja nicht der Geldgier unterliegen und deshalb möchte man auch nicht verstehen – und deshalb wollen auch die, die derartiges erfinden nicht verstanden werden – was man eigentlich tut und wie man es tut und auf Kosten vom wem man es tut.

Hinzu kam die Nichthaftung der eigentlich Verantwortlichen, der Verursacher. Es wurden Unsummen an Geldvermögen, auch an Volksvermögen zerstört und niemand wird dafür so richtig zur Verantwortung gezogen. Wer ein Fahrrad klaut und sich erwischen lässt, der muss nicht nur das Fahrrad zurückgeben, der geht auch nicht zum Staat und sagt, könntest du mir bitte ein Fahrrad leihen, damit ich dem, dem ich es gestohlen habe das Fahrrad zurückgeben könnte. So funktioniert das nicht in einer geordneten Gesellschaft. In einer ungeordneten Gesellschaft, in einer fast regelfreien, in einem die Norm als Prinzip öffentlichen Handelns und privater Teilnahme am öffentlichen Handeln ablehnenden System, gibt es diese Haftung nicht. Stattdessen entsteht aus der Nichthaftung der eigentlich Verantwortlichen das Haftungsprinzip der öffentlichen Hände und des Staates.

Marktversagen, so wurden wir belehrt, kann es eigentlich nicht geben, weil es die unsichtbare Hand gibt, die das Marktgeschehen zum allgemeinen Wohle reguliert. Wenn dann Marktversagen vorkommt und wenn das Prinzip der Nichthaftung zur Anwendung kommt, im Falle dass es zu Problemen kommt die man lösen muss, kommt es zum Haftungsprinzip des Staates, der eigentlich ursächlich nicht am Zustandekommen der eingetretenen katastrophalen Lage beteiligt war. Der sich aber auch fragen muss, ob er dann richtig reagiert hat die letzten 20 Jahre, als uns dauernd erklärt wurde, Regierungen sollten sich um ihre eigenen Sachen kümmern und nicht um die Wirtschaft. Die Wirtschaft wüsste schon wie sie funktioniert.

Das hat ja plötzlich Spaß gemacht wieder Premierminister zu sein, denn man wurde plötzlich wieder gebraucht und man musste sich auch nicht entschuldigen, dass man da war. Früher gab es Säle die man betrat, dort wurde einem bedeutet, Fremdkörper sollten sich etwas stillhalten. In den letzten zwei, drei Jahren hat man sich wieder mit tränenfeuchten Augen an die gewandt, die eigentlich die Legitimität haben um Regeln festzulegen. Aber die erotisierende Wirkung die plötzlich von der Politik ausging, die ist schon wieder stark am Abfallen stelle ich fest, weil es doch wieder ein Sich-wieder-Trauen gibt, um den Politikern zu sagen, wir sollten uns mal um unsere eigenen Dinge kümmern und die Banken und die Manager machen lassen, die wüssten schon wie man das macht. Ja, hätten sie es gewusst, dann hätten wir es auch besser gewusst, nämlich schon viel früher, wie man das hätte machen können.

Dass wir zur Bankenrettung als Regierungen bereit waren, halte ich im Übrigen auch für ein sozialmarktwirtschaftliches Prinzip, denn soziale Marktwirtschaft funktioniert auch nicht ohne Verantwortungsübernahme der Regierenden und der Parlamente. Dass die Bankenrettung in Gang gebracht wurde, war nicht wegen der schönen blauen Augen sich fehlerhaft verhaltender Banker. Im Übrigen bin ich gegen eine Pauschalkritik an den Bankern und am Bankwesen. Wir wissen sehr genau über wen wir reden, wenn wir über "die" Banker reden, dann reden wir nicht über alle Banker, die haben das nicht verdient. Dass wir die Bankenrettungspläne auflegten machten wir hauptsächlich, um Schaden von der Realwirtschaft abhalten zu können. Deshalb die vielen Konjunkturprogramme in Europa und in der Welt. Deshalb auch der erstaunliche Vorgang, dass trotz aller Torheit der Regierenden, die Regierenden überall, vornehmlich in Europa und auch in den USA, die richtigen Lehren gezogen hatten aus dem was 1929 und in den Folgejahren passierte. Der Zweite Weltkrieg, eine direkte Konsequenz dessen was 1929 passierte, entstand nicht so sehr wegen den Ursachen die zu der Krise von 1929 geführt hatten, sondern wegen der Nichtbewältigung der Folgen die in den 30er Jahren daraus resultierten: Protektionismus, Brüning’sche überzogene Sparpolitik, sich auf das eigene Land konzentrieren und nicht die damals auch schon im Ansatz global existierenden Gesamtzusammenhänge. All dies erklärt das was ab 1930/40 in Europa passierte und – behaupte ich – in diesem Land auch das was Anfang der 30er Jahre passierte.

Wer also, weil es Marktversagen gibt, staatliche Nachfrage organisiert, damit die Lücken der privaten Nachfrage gefüllt werden, handelt essentiell im sozialmarktwirtschaftlichen Geiste, der ansonsten nämlich nur marktwirtschaftlich funktionieren würde und die ganze Misere eigentlich den Selbstheilungskräften des Marktes überlassen würde, die es aber in der Form wie es sie hätte geben müssen, nicht geben konnte.

Was mich umtreibt nach dieser Krise, inmitten dieser Krise, je nachdem wo man gedankenmäßig angelangt ist, ist, dass sich aus dieser Finanz- und Wirtschaftskrise sehr schnell eine Systemkrise entwickeln kann. Mich treibt das wirklich um! Es ist nicht so, dass die Leute, die Menschen, die uns beobachten, nur technisches Interesse aufbrächten für das was wir da tun. Die fragen sich prinzipiel: Was tun die da eigentlich? Und wieso konnte das passieren? Und aus diesem Nichtverstehen dessen was passierte – und niemand hat das ja vorausgesehen, also kann auch niemand was im Nachhinein detailgenau erklären – und aus dem plötzlichen Entdecken massivster Gerechtigkeitslücken, die in unseren Gesellschaften bestehen, ergibt sich eine Art Rückzug in das Private. Die Menschen sind überhaupt nicht mehr, falls wir nicht schlüssige Antworten finden, interessiert an dem was wir Gemeinwohl nennen, sondern ziehen sich ins Private zurück: Haus – Boot – Auto! Verwechseln den Blick auf den eigenen Nabel mit dem planetarischen Horizont, den sie dort zu erkennen glauben und das ist kein Horizont. Das ist eine strikte Begrenzung – je nach Körpervolumen sogar überhaupt nicht erkennbar – wenn man sich in Richtung Nabelblick bewegt. Also die tektonischen, sozialen Folgen die sich aus dieser nicht bewältigten Krise, falls sie denn nicht bewältigt würde, ergeben, treiben mich schon um, weil dies auch zu Verwerfungen der Gesellschaft führt, zu einer höchst unterschiedlichen Repräsentanz politischer Kräfte, weil es im Endeffekt politische Extreme stärken und die Parteien der Mitte, dort wo die soziale Marktwirtschaft eigentlich angesiedelt ist, wesentlich schwächen würde.

Deshalb ist der Moment gekommen, der "richtigen" sozialen Marktwirtschaft zu einem Revival, zu einer Renaissance, zu einer Wiedergeburt zu verhelfen und die richtigen Politikschritte jetzt einzuleiten, die dies gewährleisten können. Über die makroökonomischen Konsequenzen, die Michel Albert aufgelistet hat, kommt besondere Bedeutung derjenigen des hohen Wirtschaftswachstums zu. Wir haben uns in jahrelangen Debatten von dieser Vorstellung entfernt, dass wir mit Null-Wachstum glücklich werden könnten. Die Null-Wachstums-Propheten haben ihre besten Bücher, falls sie jemals gut waren, in den 60er und 70er Jahren geschrieben. Seither redet niemand mehr von Null-Wachstum, weil wir auch erlebt haben, vornehmlich im Jahre 2009, was es denn heißt, Null-Wachstum oder weniger als Null-Wachstum. Wir hatten ja die Erfahrung nicht mehr gemacht seit Kriegsende, was Rezession im eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet. Wir werden, je nach Volkswirtschaft unterschiedlich zu bewerten, bis zum Jahre 2012 brauchen, falls das Wachstum wieder einigermaßen auf Trab kommt und wieder die volkswirtschaftliche Kraft des Jahres 2007 erreicht. Viele weigern sich aus dieser Wachstumsverflachung und haushaltspolitischen Applanierung dessen was eigentlich möglich gewesen wäre, wenn es die Verflachung des Wachstums nicht gegeben hätte, die eigentlichen Konsequenzen zu ziehen. Wir sind ärmer geworden im letzten Jahr und tun sehr oft so als ob wir so weitermachen könnten wie bisher.

Das Thema Wachstum ist ein essentielles Zukunftsthema, weil wir auch an Potentialwachstum in der Eurozone und darüber hinaus eingebüßt haben. Das potentiale Wachstum, das was wir eigentlich schaffen könnten, wenn wir völlig in Schuss und in Form wären, hat sich halbiert, konkludiert aus dieser Krise heraus. Das heißt, alle Politik muss darauf gerichtet sein, nichts zu unterlassen was dazu beitragen könnte, das Wachstumspotential wieder nach oben zu schrauben. Eine eminente, sozialmarktwirtschaftliche Aufgabe, weil die Überlebensfähigkeit unserer sozialen Sicherungssysteme eminent von einer Steigerung des Wachstumspotentials abhängt. Kein Land der Eurozone wird die Lasten schultern können, die in Zukunft aufgrund der demographischen schiefen Pyramide kommen, wenn wir das Wachstumspotential nicht nach oben schrauben können. Wir können Renten, Pensionen und Krankenversicherungsleistungen in zehn Jahren nicht mehr zahlen mit dem Wirtschaftswachstum das wir aktuell haben. Daraus ergeben sich vielfältige Folgen für die Haushalts- und Sozialpolitik, die wir zurzeit anlegen.

Wir müssen raus – weil zur sozialen Marktwirtschaft gehören gesunde Staatsfinanzen und zur sozialen Marktwirtschaft gehört intergenerationelles Denken – aus den Defizit- und Schuldenspiralen, die wir dabei sind sich in die Höhe schrauben zu lassen. Es war richtig und es war options- und alternativlos, dass die Staaten sich verschuldet haben zum Zwecke der Finanzierung der Konjunkturprogramme, die wir brauchten, um die öffentliche und private Nachfragelücke aufzufüllen. Aber wir können nicht weitermachen, Jahresdefizit an Jahresdefizit zu reihen und Schuldenberge auf Schuldenberge zu türmen, das dürfen wir nicht. Wir dürfen es nicht wegen der Finanzierungsnotwendigkeit der sozialen Sicherungssysteme und wegen der Lebenschancen die wir gerne erhalten möchten oder wieder herstellen möchten für die Menschen, die heute jung sind oder vielleicht noch nicht geboren sind.

Zur sozialen Marktwirtschaft gehörte soziale Sicherheit. Ich bin sehr dagegen, dass man aus dieser Finanz- und Wirtschaftskrise eigentlich die Schlussfolgerung zieht, dass man so weitermachen kann wie bisher, indem man die sozialen Sicherungssysteme regelmäßig abbaut und nach unten korrigiert. Ich bin überhaupt nicht damit einverstanden und war es auch nie, dass man die gesetzliche Rentenversicherung aufkündigt, dass man die gesetzliche Krankenversicherung aufkündigt, dieser totale Marsch ins Private führt in das Verderben. Reden Sie mal mit den amerikanischen Rentnern, die millionenfach ihre Rentenbezüge jetzt vermissen, verloren haben, die bestohlen wurden durch rein privatmarktwirtschaftlichen Umgang mit den Problemstellungen der sozialen Sicherung.

Anständige Arbeitsbedingungen! Ich habe mich immer dagegen gewehrt, ich trage das auch immer vor, weil ich damit beweisen kann, dass ich das immer schon gewusst und gesehen und gesagt hatte. Ich habe mich immer gegen diesen Deregulierungswahn gewehrt. Diese überzogene Flexibilisierung aller Lebensverhältnisse. Ich bin sehr für angemessene Flexibilisierung des Arbeitsrechtes, dort wo das Arbeitsrecht, der Kündigungsschutz, Arbeitszeitregelungen übertriebene Rigiditäten aufweisen. Aber die Durchflexibilisierung des Arbeitsraumes geht nicht konform mit den Elementaranforderungen die sich aus der sozialen Marktwirtschaft ergeben.

Wenn mein Vater, der Stahlarbeiter war, immer nur Zeitverträge gehabt hätte, hätte bangen müssen alle sechs Monate, ob sein Arbeitsvertrag verlängert wird, dann hätte ich nicht zur Universität gehen können. Das können dann nur die, deren Vater auf die Erneuerung des Arbeitsvertrages nicht angewiesen ist, weil die Vermögenslage des Haushaltes so ist, dass Arbeit weniger wichtig ist. Wer aber gerne hätte, dass alle Bevölkerungsschichten teilnehmen können am Wohlstand und dass sie durch ihre Talente, durch ihre Energien auch dazu beitragen, dass der Wohlstand sich noch vermehren kann, der muss auch dafür sorgen, dass in Punkto Arbeitsrecht und Sozialrecht Schutzmechanismen in genügender Zahl und in zufrieden stellender Dichte bestehen bleiben, damit das soziale, marktwirtschaftliche System, das auf die Teilhabe der Arbeitnehmerschaft nicht verzichten kann, überhaupt noch funktionieren kann.

Und gleiches gilt für den Respekt den ich mir erbitte für öffentliche Dienstleistungen. Anstatt dass man in einen totalen Privatisierungswahn abrutscht und alles privatisieren möchte was sich in öffentlichen Händen befindet – dass öffentliche Hände sich sehr oft verheddern, wenn es um vernünftiges Wirtschaften geht, das braucht man mir, der ich das täglich tue, nicht besonders unter Beweis zu stellen. Aber zu denken, dass sobald jemand nicht mehr als öffentlicher Dienstleister unterwegs ist, sondern als ökonomischer Privatier, dass dann alles besser würde, das wage ich zu bezweifeln. Es gibt Beispiele zuhauf, sowohl in den USA wie in Großbritannien wie auch in unseren Ländern, wo Privatisierung, die ich im Prinzip bejahe, nicht die Ergebnisse gezeigt hat von denen man dachte, dass sie sie automatisch zeigen würde. Ich bin für das Beibehalten eines relativ breiten, öffentlichen Korridors, weil öffentliche Dienstleistungen auch mit zu den Fundamenten, die es zu bewahren gilt, der sozialen Marktwirtschaft gehören.

Ich habe angefangen mit Artikel 2 des Lissabonner Vertrages. Dies bringt mich zum Schluss, weil ich mich hier an die 30-Minuten-Regel ohnehin nicht gehalten habe, mich also auch nicht besonders beeilen muss, um das wieder in Ordnung zu bringen. Ich würde auch gerne mit Europa schließen.

Wir sind, ich sage das unter dem strengen Blick des Bundesbankpräsidenten, meines Freundes Axel Weber, auf Gedeih und Verderb, aber im Prinzip zu unserem Glück, in der europäischen Währungsunion vereint. Das Thema soziale Marktwirtschaft, das Thema, wie viel Dosis an Sozialem braucht die Marktwirtschaft und wie viel Nuancierung durch das Marktwirtschaftliche braucht der soziale Anspruch, ist ja auch ein eminent europäisches Thema. Denn mein Thema war ja heute "soziale Marktwirtschaft – Modell für Europa!".

Darüber werden wir reden müssen, wie wir strukturelle Reformen anlegen, die unabdingbar notwendig sind, vor allem im Bereich der Sicherung der Finanzierung unserer Alterssysteme. Dieser Policy-Mix zwischen sozialem Anspruch und zunehmend marktwirtschaftlichem, nicht "laisser aller", aber die Menschen sich in der Wirtschaft frei bewegen lassen, wird auch ein Thema sein, wenn wir über die so genannten Exit-Strategien zu befinden haben: Wann fangen wir an mit dem Abbau der aufgebauten Konjunkturprogramme, weil deren Schuldenfinanzierung nicht beständig ist, nicht dauerhaft ist, nicht "sustainable" ist – wie das im Neudeutschen heißt? Darüber werden wir reden müssen. Diese Exit-Wege sind verschiedenartig von Land zu Land, weil nicht alle Länder in der Eurozone sich exakt in derselben Konjunkturlage befinden oder nicht an demselben Punkt des Zyklus angekommen sind.

Wir werden darüber reden müssen, was wir unterlassen haben, nicht total, aber immerhin unterlassen; über die Divergenzen, die Wettbewerbsunterschiede die es zwischen den einzelnen Ländern in der Eurozone gibt, das griechische Drama. Die griechische Tragödie, die finanziell beschrieben wird, indem die Haushaltsdefizite in Griechenland und sonst wo, aber konkret in Griechenland, aufmerksam überwacht werden, ist ja kein Vorgang, der sich nur finanziell erklären ließe. Das eigentliche Problem ist, dass Griechenland beispielsweise – andere Länder befinden sich nicht in derselben aber in einer annähernd schlimmen Lage – an Wettbewerb eingebüßt haben. Eine Lohnpolitik, vornehmlich im öffentlichen Sektor betrieben, die in keinerlei Verhältnis mehr stand zu Produktivitätsfortschritten und Messlatten, die man anlegen muss, wenn es um tarifpolitische Vereinbarungen geht. Darüber wird man reden müssen. Wie man auch wird darüber reden müssen, ob es auf Dauer so sein kann, dass größere Staaten der Eurozone strikt nur exportorientiert wachsen, wenn sie wachsen und die Binnennachfrage ungenügend stärken, während andere in der Eurozone vornehmlich die Binnennachfrage stärken und nicht so sehr ihre Exportfähigkeitsdimension positiv verändern. Diese Divergenzen sind für die Kohäsion, für den Zusammenhalt der Eurozone nicht breit genug. Es gibt sie auch in anderen einheitlichen Währungsgebieten. Aber wenn diese Divergenzen sich verstärken, wenn die Unterschiede immer größer werden, wenn in einem Land A die Löhne um 12 % wachsen, im Land B die Löhne im gleichen Zeitraum um 100 % wachsen und man darüber nicht redet, es also zulässt, dass Auseinanderentwicklungen in großer Zahl stattfinden, dann gehen wir schweren Zeiten entgegen. Deshalb braucht man eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik nicht nur auf Ebene der Europäischen Union, sondern vornehmlich weil sie dort intensiver und intimer betrieben werden muss, im Euroraum und in der Eurogruppe.

Dort gilt auch die sozialmarktwirtschaftliche Regel, dass jeder aufgrund des Prinzips der Selbstverantwortung dafür zuerst sorgen muss, dass er alles tut, damit bei ihm zu Hause die Lage so ist, dass sie anderen nicht zum Schaden gereicht. Ich bin strikt dagegen, dass man einfach Geld über den Tisch schiebt von Nord nach Süd, von Süd nach Nord, von Westen nach Osten, wenn jemand seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Nein, es braucht immer eine strikte Konditionalität, es braucht strikte Vorschriften dessen was im eigenen Lande zu tun ist, damit man, falls es dann noch notwendig wäre, die Solidarität der gesamten Gruppe in Anspruch nehmen kann.

Die griechische Regierung hat nicht mustergültig regiert. Die griechischen Regierungen! Aber diese Regierung hat ihre Verantwortung übernommen und hat ein Maßnahmenpaket vorgelegt, das glaubwürdig ist und von dem ich denke, dass es auch die Kapitalmärkte letztendlich überzeugen wird, falls diese noch rationellem Denken zugänglich sind, was wünschenswert wäre. Ansonsten werden wir die Finanzmarktregulierung noch etwas intensiver und enger gestalten müssen als wir dies ohnehin vorhaben.

Ich habe mit Präsident Sarkozy und Angela Merkel, dem Kommissionspräsidenten einen Brief zukommen lassen, wo wir die Frage stellen: Inwiefern bestimmte Finanzmarktinstrumente wie Kreditausfall-Versicherungen nicht auch gebraucht werden, um gegen Staaten zu spekulieren. Das griechische Problem ist kein Problem in erster Linie, der von Spekulanten herbei geführten Lage. Es wird gegen Griechenland spekuliert, weil die Lage in Griechenland so ist wie sie ist. Aber dass diejenigen, die in hohem Maße von den europäischen Staaten profitiert haben im Moment der Bankenkrise, jetzt zu diesem postpubertären Verhalten schreiten, um gegen die zu spekulieren die sie eigentlich gerettet haben, das ist jedenfalls nicht vereinbar mit den Grundregeln und den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft und darum wird die Politik sich kümmern müssen.

Im nationalen Alleingang werden wir das nicht schaffen, das Großherzogtum eh nicht. Aber die kleine Bundesrepublik auch nicht. Deshalb ist es für jeden, der die Dinge der Welt einigermaßen im Blick, wenn auch nicht im Griff hat, klar, dass wir nicht weniger Europa, sondern dass wir mehr Europa brauchen und dass wir auf nationale Eifersüchteleien verzichten müssen, wenn es – um es salopp zu formulieren – um das große Ganze geht. Das Ganze wird immer weniger groß.

Wir hatten am Anfang des 20. Jahrhunderts eine europäische Bevölkerung, die 20 % der Erdbevölkerung ausmachte. Wir haben am 1. Januar 2000, also beim Eintritt in das 21. Jahrhundert noch genau 11 % Europäer auf der Erdoberfläche. Im Jahr 2050 werden wir noch 7 % sein und am Ende des Jahrhunderts 4 %. Wer also jetzt denke, jetzt wäre der Moment gekommen, um den Euro zu testen bis ihm die Luft ausgeht und damit Europa endgültig zu schwächen, wer jetzt denke, man könne einfach so in das Eurowährungsgebiet einziehen oder einfach so das Eurowährungsgebiet verlassen, der schwächt Europa. Wer jetzt denkt, wir bräuchten keine Koordinierung, keine intensive Koordinierung der Wirtschaftspolitiken in Europa, der irrt sich fundamental. Wer jetzt denkt, wir könnten wieder kleinteiliger werden in Europa, uns in Nationalstaaten zurückentwickeln, die nicht mehr bereit wären, auf ihren direkten und entfernteren Nachbarn, im Sinne europäischer Solidarität, Rücksicht zu nehmen, der irrt sich fundamental. Wir werden weniger, also müssen wir stärker werden. Nicht weil wir Angst vor dem Rest der Welt hätten, nicht weil wir im Jahre 2100 dächten, wir 600 Millionen Europäer, so viele Prachtexemplare wird es noch von uns geben, könnten den Wettbewerb mit den 8,5 Milliarden Menschen nicht aufnehmen. Wo steht denn geschrieben, dass wir die Herren der Welt wären? Wo steht denn geschrieben, dass alles sich nach uns richten muss? Wo steht denn geschrieben, dass die Chinesen und Inder nicht auch Recht auf mehr Sonne haben und die Afrikaner, vor allem die Afrikaner, auf längere Augenblicke im Sonnenschein. Nein, die Welt ist multipolar, wir müssen nicht nur uns selbst lieben und nicht nur uns in unseren eigenen Nabel vernarren, verlieben, sondern müssen auch einen Blick für andere haben. So lange alle sechs Sekunden ein Kind in der Welt an Hunger stirbt, ist Europa mit seiner Aufgabe nicht am Ende.

Vielen Dank.

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