Jean-Claude Juncker, Discours à l'occasion du "DGAP im Dialog", Francfort

Sehr verehrter Herr Oetker,
Sehr verehrter Herr Nonnenmacher,
Meine sehr verehrten Damen und Herren.

Je länger ich den Vorrednern zuhöre, um so mulmiger wird es mir, weil ich mir im Flugzeug überlegt habe was ich sagen sollte zu dem Thema das mir gestellt wurde, und ich stelle jetzt fest, dass das Thema, zu dem ich mir überlegte was ich sagen könnte, überhaupt nicht das Thema ist, das Sie jetzt ansprechen.

Ich hatte über Lissabon und die Folgen nachgedacht, wie geht es weiter, wie macht man das? Aber darüber reden Sie überhaupt nicht mehr, weil Sie mich hier über Finanzfragen in die Enge treiben möchten.

Insofern findet es sich gut, dass ich den feinsortierten Plan, den ich mir im Flugzeug notiert habe, eben da habe liegen lassen, und insofern zur freien Rede – was auch mit Plan der Fall gewesen wäre – gezwungen bin. Und trotzdem möchte ich, weil das passt ja alles zusammen, mit dem Lissabonner Vertrag beginnen und dem, was sich eigentlich vor dem Lissabonner Vertrag abspielte, weil Verträge versteht man nur wenn man ihre Vorgeschichte kennt.

Die Europäer sind eigentlich aus der Geschichte kluge Erdenbürger geworden. Wir hatten das Drama des Zweiten Weltkrieges erlebt – ich als jemand der später geboren wurde nur die Wiederaufbauzeit, aber auch nicht richtig, weil ich bin im Dezember 1954 geboren, da war schon das Wichtigste aufgebaut, nämlich die Menschen. Die hatten für sich selbst und ihren Kontinent entschieden, nachdem sie von den Frontabschnitten und aus den Konzentrationslagern zurückgekehrt waren, dass das nicht mehr passieren sollte.

Insofern sind wir eigentlich dieser Kriegsgeneration, der leidgeprüften, zu großem Dank verpflichtet, weil die jeden Grund gehabt hätten, ihre Hände in den Schoß zu legen, anstatt sich die Ärmel hoch zu krempeln.

Wenn ich die Geistesverfassung der heute Lebenden mit der Aufbruchsstimmung der damals Lebenden vergleiche, dann sehen wir eigentlich schlecht aus. Wenn die Kriegsgeneration so gewesen wäre wie wir, dann läge Berlin heute noch in Schutt und Asche, aber die haben Trümmerfrauen in die Stadt geschickt und die Stadt und ganz Europa aufgebaut.

Und die später Geborenen sind eigentlich Erbverwalter einer großen Generation. Und das was wir hingekriegt haben, nach dem Zweiten Weltkrieg, und als die Jüngeren an die Schalthebel der Macht kamen, seit Anfang der 1990ger Jahren, das lässt sich durchaus zeigen.

Das was wir allerdings hingekriegt haben in den 1990er Jahren – Stichwort Euro – hätten wir ohne die direkten Vertreter der Kriegsgeneration überhaupt nicht hinkriegen können. Weil damals zeichnete sich Europa aus durch ein Zweigespann von Staats- und Regierungschefs – auf Ebene der Finanzminister, auf der ich damals tätig war, war das auch noch feststellbar – ein Zweigespann aus Menschen, die mit dem Thema Krieg noch etwas anzufangen wussten und denen, die den Krieg nicht mehr direkt erlebt hatten.

Ich werde nie vergessen, als ich die Regierungskonferenz im ersten Halbjahr 1991 zur Einführung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion leitete, dass die Hälfte der damals tätigen Finanzminister noch direkte Kriegserfahrungen hatten. Hervorragende Gestalten. Der italienische Finanzminister, Guido Carli, hatte damals 90 Jahre. Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, dass er inzwischen verstorben ist. Und der kam aus einer Gedankenwelt, und aus einer Gefühlswelt, die mich sehr beeindruckt hat, auch wenn er mich manchmal zum Schmunzeln angeregt hat. Weil nach der ersten Sitzung die ich leitete, bei Mittag – das sind Arbeitsessen bei den Finanzministern – sagte er: “Erinnerst du dich noch, als Italien Mitglied des Internationalen Währungsfonds wurde?“ Ich habe dann bescheiden zugegeben, dass ich überhaupt nicht wusste, wann Italien Mitglied wurde, dann hat er gesagt: „Das war 1947.“ Ich sagte: „Ich bin aber 1954 geboren, und ich kann mich daran nicht erinnern.“ Die nächste Sitzung sagte er: „Du erinnerst dich doch noch daran, als Lenin die Macht ergriffen hat?“ Er kam aus einer Welt, aus einer Gefühlsbefindlichkeits- und Bilderwelt, die völlig anders waren, als das, was wir Jüngeren – ich war damals 37 – erlebt hatten. Aber Andere waren auch noch am Kriegsgeschehen beteiligt und gezeichnet, in ihrer Familie, und selbst.

Man konnte damals in Europa eigentlich viel unkomplizierter reden, weil trotz mancher Bedenken, die immer wieder geäußert wurden, das Europäische im Mittelpunkt des Denkens und vor allem des Fühlens stand. Europa war nicht diese abgeklärte, rationale Veranstaltung die es heute geworden ist, sondern war eigentlich etwas, was Viele aus dem Bauch heraus artikulierten, ohne dass es rational falsch gewesen wäre.

Viele der heutigen Staatsmänner und –frauen der Luxusklasse haben Europa nur im Kopf, und nicht im Herzen und nicht im Bauch. Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen dem was heute ist und dem was morgen sein wird, und was früher mal war. Ich habe die Gesprächskultur von früher wesentlich lieber gehabt, als das kluge Reden von heute.

Wir haben den Euro gemacht – ja, gemacht. Der Euro musste richtig gemacht werden, das hatte was mit Handwerk zu tun. Politik ist nicht nur kluges Reden und feinsinniges Vortragen, es hat auch mit Machbarkeit, also mit machen dessen zu tun, was man zum Gelingen bringen möchte. Den Euro haben wir gemacht!

Und einige haben auch höchste innenpolitische Risiken auf sich genommen, um diesen Euro auf die Umlaufbahn zu schicken. Das waren Generationen von Politikern, die auch noch bereit waren, innenpolitische Risiken zu tragen um Europäisches von der Stelle zu bringen. Das ist eine aussterbende Spezies.

Wir haben auch mit Inbrunst, fast, die Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa betrieben.

Wenn ich mir die letzten 20 europäischen Jahre aus der Nähe betrachte, weil ich jetzt aus der Ferne auf sie blicken kann, fällt mir auf, dass wir eigentlich auf den Hauptachsen der europäischen Straßenführung keine Fehler gemacht haben.

Ich bin ein sehr europakritischer Mensch, ich habe über Europa nicht eine Illusion verloren, weil ich mir nie irgend eine Illusion über Europa gemacht habe; ich bin europakritisch, auch als mithandelnde Person, obwohl kleiner Heiliger in einer großen Kirche. Aber dort wo es um wegweisende Entscheidungen ging, haben die Europäer alles richtig gemacht.

Wenn wir heute keinen Euro hätten, dann hätten wir in den letzten beiden Jahren einer totalen Explosion des europäischen Währungssystems beigewohnt. Viele Deutsche taten sich ja schwer, was sich nachvollziehen lässt, aufgrund deutscher Volksvermögensgeschichte und inflationärem Abmordens deutscher Volksvermögen. Wenn wir heute die Deutsche Mark noch hätten, jetzt in dem Moment, dann würde die Deutsche Mark unvorstellbare Höhen erreicht haben, das deutsche Exportgeschäft – wesentlicher Abtriebsmotor deutschen Wirtschaftswachstums – wäre völlig weggebrochen und die Staaten in Südeuropa hätten sich in einen Reigen von kompetitiven Abwertungen begeben, dass uns allen die Luft weggeblieben wäre. Das europäische Währungssystem wäre nicht aus den Fugen geraten, es wäre regelrecht vernichtet worden, wenn wir es noch hätten.

Ich war von 1989 bis vor kurzem Finanzminister meines Landes. Ich habe diesen Job aufgegeben, um ihn gegen den des Schatzministers auszuwechseln, was ich inzwischen auch fast schon wieder bedauere. Denn ich wollte immer Premierminister und Finanzminister sein, aus reinen Faulheitsgründen, weil ich festgestellt hatte, in meiner Eigenschaft als Premierminister und als Finanzminister, dass die Finanzminister sich dauernd über die Unvernunft ihrer Premierminister beklagen und die Premierminister sich dauernd über das Unvermögen ihrer Finanzminister beklagen. Dann schien es mir einfacher diesen Disput mit mir selbst auszuführen, man setzt sich, wenn man Zweierlei in einer Person kombiniert, meistens auch durch. Das habe ich sehr gemocht. Jetzt muss ich mich mit einem Finanzminister darüber unterhalten. Aber als Schatzminister hat man auch noch Zugriff auf einige wesentliche Bestandteile dessen, was man Finanzpolitik nennt.

Wenn ich an die Zeit zurückdenke, habe ich insgesamt an 15 Auf- und Abwertungssitzungen in Brüssel teilgenommen. Und da drängen sich einem Erinnerungen auf, die man mit niemandem mehr teilen möchte, weil ja auch niemand mehr da ist der dabei war. Ich bin der einzige Unterzeichnender des Maastrichter Vertrages, der sich überhaupt noch in der aktiven Politik befindet, was mich regelmäßig zu der Feststellung verleitet, dass der Euro und ich die einzigen Überlebenden von Maastricht sind. Aber das nützt dem Euro zurzeit nicht sehr viel, dass das so ist.

Das waren dramatische Stunden.

Wer weiß denn eigentlich noch, auch in Deutschland, dass Deutschland und die Niederlande 6 Jahre vor der Einführung des Euros aus dem europäischen Währungssystem aussteigen wollten, weil Frankreich es nicht schaffte dem Rhythmus, der von den Niederlanden und von Deutschen vorgegeben wurde, zu folgen. Hätten wir das zugelassen, dann wäre es nie zur Schaffung des Euros gekommen.

Wenn wir die Ausdehnung, die von den Ost- und Mitteleuropäern gewünschte Ausdehnung der Europäischen Union – das heißt ihre Friedens- und Solidaritätssphäre in Räume hinein, die sich schwieriger gestalten lassen, bis zum heutigen Tag, als unsere Gegenden – hätten wir das nicht gemacht, dann hätten wir es nicht geschafft, ein Phänomen in den Griff zu bekommen, von dem viele nicht einmal wissen, dass es bestand.

Es hat nach dem Fall der Mauer bis zum Jahre 1997 insgesamt in der Europäischen Union, und an der direkten Pheripherie der Europäischen Union, 27 neue Staaten gegeben, die manchmal über Nacht gegründet wurden. Diese 27 neuen Akteure europäischer, kontinentaler, internationaler Politik, die hätten sich, gnadenlos für andere, im Rausch ihrer neuentdeckten Souveränität und Autonomie gewälzt und ausgetobt.

Dadurch dass die Europäische Union sich aufnahmebereit zeigte haben wir viele Konflikte, die es latent gab und latent immer noch gibt, in eine Richtung bewegt wo sie sich ausgetragen hätten. Dadurch dass aber die europäische Unionsdisziplin in diese Räume eindrang, war es möglich, mehr als nur zivilisiertes Nebeneinander zu organisieren, sondern konzentriertes Miteinander zu provozieren.

Wenn ich mir den heutigen Tag vorstelle ohne Euro, also 16 nationale Währungen, die sich auch gnadenlos bekämpft würden, und jeder auf Kosten des anderen versuchen würde das Beste aus der eingetretenen Lage zu machen; und mir vorstelle, dass wir diese internationale, kontinentale Disziplinierung, via Erweiterung, nach Ost- und Mitteleuropa nicht geschafft hätten, dann möchte ich mir nicht vorstellen, wie der Kontinent heute aussähe.

Begeistert, berauscht von diesen Erfolgen, und staunend, dass wir das überhaupt geschafft haben, zum ersten Mal in Frieden europäische Geschichte und europäische Geographie zusammen zu führen; berauscht von dem Glücksgefühl, unter tausend Mühen diese europäische Währungseinheit geschafft haben – die nicht nur wir selbst uns nicht zutrauten, sondern auch die, die uns von fern beobachteten uns nicht zutrauten – haben wir uns dann auf den Weg gemacht, einen europäischen Verfassungsvertrag zu konstruieren, der, wie bekannt, an den Referenden in Frankreich und den Niederlanden gescheitert ist, und das luxemburgische Referendums-Ja zu diesem Vertrag hat ihn, trotz dieses massiven Beitrages, nicht retten können.

Ich war stets der Auffassung, obwohl ich manchmal von mir auch andere Dinge lese, das gebe ich ehrlich zu, dass dieser Ausdruck „Europäische Verfassung“ ein Unding war. Der Vertrag, den wir Verfassung nannten, war ja keine richtige Verfassung, hat aber den Eindruck gegeben, als würden wir jetzt Europa quasi verstaatlichen, als würden wir aus dieser Europäischen Union einen quasi föderal funktionierenden, zentralorganisierten Einheitsstaat machen.

Die Menschen mögen so etwas überhaupt nicht. Ich mag das eigentlich auch nicht. Ich bin Europäer, ich habe da alle möglichen medizinischen Überprüfungen inzwischen überstanden, und jeder sagt, der ist so, der tickt so, das ist so, der kann nicht anders. Aber ich bin auch gerne Luxemburger, ich bin gerne Nachbar der Saarländer, der Rheinlandpfälzer, der Lothringer, der Wallonen, ich will überhaupt nicht, dass dies alles verschwindet. Es ist eine irrige Auffassung zu denken, alle Europäer drängten nach dem europäischen Einheitsstaat. Das tun die überhaupt nicht. Wer den Europäern einen Einheitsstaat überstulpen möchte, der wird brutal scheitern. Und wer den Eindruck gibt, dadurch dass er einen Vertrag Verfassung nennt, dass er genau mit dies im Schilde führte, kann sich überhaupt skeptischen und kritischen Meinungen gegenüber nicht glaubhaft artikulieren.

Dieser Verfassungsvertrag ist gescheitert, obwohl er Europa gut getan hätte, weil er einige Dinge enthielt, symbolischem Zuschnittes, die so atypisch für gemeinsames europäisches Denken eigentlich nicht sind. Dass wir uns eine Fahne geben wollten, und die dann millimetergenau im Vertrag mit Farben und Sternenbanner beschrieben, das haben wir im Lissabonner Vertrag wieder eliminiert. Das hat mich nie gestört, weil egal wo ich rede, wo eine nationale Flagge hängt, hängt auch eine europäische Flagge. Das tut nationalen Flaggen gut, wenn sie europäische Nuancierung erfahren. Und es tut der europäischen Flagge gut, wenn es noch nationale Flaggen daneben gibt. Weil nur so lässt sich, wie wir Juristen sagen, dieses sui generis Konstrukt Europäische Union eigentlich begreifen, und auch erfühlen. Es ist ein Miteinander, und ein Füreinander von europäischen Staaten, und nicht ein europäischer Schmelztiegel der alles was regionale oder nationale Bedeutung hat, hinweg schwemmen würde.

Und wir haben auch die Hymne, die wir im Verfassungsvertrag stehen hatten, nicht in den Lissabonner Vertrag aufgenommen, weil plötzlich gedacht wurde, wenn Nachbarn dasselbe Lied singen, dann kann man ihre Unterschiedlichkeit nicht mehr erkennen. Dabei kennt niemand den Text der 9. Symphonie von Beethoven. Ich höre immer nur dass man sie spielt, ich habe noch nie jemanden sie singen hören. Es ist so, also ob die Europäer des gemeinsamen Singens nicht fähig wären. Es wäre ja ein vielstimmiger Chor geworden, vielstimmige Chöre sind schöner, als unisingulär ausgerichtete.

Das ist weg, der Lissabonner Vertrag ist da, und dieser Vertrag hat es in sich, obwohl er mir nicht die Genugtuung hat verschaffen können, die aus einem Vertragswerk entstanden wäre, wenn ich es selbst und alleine verfasst hätte. Es wäre ein Kunstwerk geworden. Nur hätte ich das Problem, dass ja sonst niemand damit einverstanden gewesen wäre. Und weil ich manchmal auch des Fortschritts, des sich weiter entwickelnden Denkens fähig bin, stelle ich fest, dass einige Dinge, die ich noch vor drei Jahren in Vertragsform gegossen hätte, heute schon nicht mehr meiner evoluierten Meinung entsprechen.

Insofern ist dieser Lissabonner Vertrag, den wir zu 27 abgeschlossen haben, die bestmögliche Schnittmenge dessen was wir fähig waren mit 27 Staaten zustande zu bringen. Wobei ich hier gerne, trotz aller Kritik an diesem Lissabonner Vertrag, anfügen würde, dass das schon etwas ist, auf so einem, durch Blut und Krieg gezeichneten Kontinent wie Europa, dass 27 Staaten sich auf einen Vertrag einigen, der weiter geht als alle anderen vergleichbaren internationalen Verträge. Wer hätte das gedacht 1943, dass wir dies einmal zu 27 machen könnten.

Churchill hat 1947 bei einer berühmten Rede, nicht die Züricher Rede, sondern die Rede, die er anlässlich des ersten Pan-Europakongresses in Den Haag gehalten hat – Mitterrand war dabei, Adenauer war dabei, andere auch – gesagt, angesichts der Weigerung der Sowjetunion, ihre damaligen so genannten Satellitenstaaten von dem Marshallplangeldern profitieren zu lassen, und diese Staaten – Rumänien, Bulgarien und andere – Mitglieder des Europarates werden zu lassen, hat er gesagt, 1947: „Wir fangen heute im Westen an, was wir eines Tages im Osten zu Ende führen können.“

Churchill hat gegen Stalin gewonnen. Darüber freut sich niemand mehr. Man muss sich nur vorstellen, wie es denn gekommen wäre, wenn es anders gekommen wäre. Was uns Westlern im Übrigen gut täte, wäre die Vorstellung, dass wir sowjetisch besetzt gewesen wären, und die Menschen in Osteuropa von den Amerikanern und Briten besetzt gewesen wären. Dann würde viel arrogantes Auf-Andere-Hinunterblicken unterlassen werden, in der westlichen Art, sich die Dinge der Welt für uns möglichst angenehm zu erklären.

Dieses sich Zusammenraufen auf unserem Kontinent war wichtig, und deshalb ist der Lissabonner Vertrag ein Fortschritt per se, wenn auch unvollständig und lückenhaft.

Immerhin schreibt dieser Vertrag Prinzipielles fest, indem er den Europäern eine Grundrechtecharta in die Hand gibt, und bedauerlicherweise sind Briten, sind Irländer und sind Polen nicht dazu zu bewegen gewesen, sich dieser Grundrechtecharta und ihrer Einklagbarkeit anzuschließen.

Dieser Vertrag schreibt in seinen Zielsetzungen fest, dass die Europäische Union ein Wirtschaftsmodell hat, das sich soziale Markwirtschaft nennt. Das stand in keinem anderen Vertrag. Das steht nirgendwo in irgendeiner Verfassung, oder in irgendeinem Vertrag außerhalb Europas.

Man vergisst das schnell, man vergisst das insbesondere dann schnell, wenn eine Finanz- und Wirtschaftskrise genau deshalb entsteht, weil man sich an die Grundtugenden der sozialen Markwirtschaft nicht gehalten hat. Was wiederum zeigt, dass es nicht reicht etwas in einen Vertrag zu schreiben, damit es Bestand hat. Vertragsbestimmungen die von weit her kommen und lange Zeit wirken sollen, die brauchen täglichen Einsatz, und der tägliche Einsatz für die soziale Marktwirtschaft war nicht bewundernswert groß.

Erhard, Müller-Armak, und wen immer man herbei zitieren möchte um glaubhaft zu belegen, dass dies auf einer soliden ordnungspolitisch geordneten Gesamtphilosophie beruht, haben sich die soziale Marktwirtschaft eigentlich als Dritten Weg zwischen Planwirtschaft und Marktliberalität ersonnen, gewissermaßen eine gesetzlich verankerte Zähmung des wilden Kapitalismus sich erdacht, als sie dieses Konzept niederlegten. Davon haben wir uns, durch ungenügendes Denken und oberflächliches Reden stufenweise entfernt gehabt in den letzten 20 Jahren, weil die Stichworte Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung, eigentlich Schlachtworte waren, und wer sich auf dem Feld den Liberalisierern stellte, der wurde sehr oft in die archaischen Rubriken der Zeitgeschichte abgesondert, wie das mir öfters widerfahren ist.

Aus diesem Konzept resultieren andere Zielsetzungen, die in diesem europäischen Vertrag stehen, nämlich hohes Wachstum, niedrige Inflation, niedrige Arbeitslosigkeit, gesunde Staatsfinanzen, effizient funktionierende öffentliche Dienstleistungen. Das sind alles Folgeprinzipien der sozialen Marktwirtschaft, und all dies hat Vertragsbestand durch diesen Lissabonner Vertrag gekriegt. Insofern ist dies eigentlich die Einbetonierung der Nachkriegsfundamentalprinzipien die in den Ländern beobachtet und respektiert und eingehalten wurden, die zu den fortschrittlichen Nationen dieses Planeten gehören. Sie sind Bürger eines solchen Landes.

Es kam uns sehr darauf an bei diesem Lissabonner Vertrag, diesem Grundanliegen der Europäischen Union, dieser Elementarzielsetzung der Europäischen Union, dadurch Beständigkeit zu geben, dass wir uns effizientere Entscheidungsstrukturen an die Hand geben würden, um genau diese zum weiteren Gelingen zu bringen.

Deshalb wurden die Institutionen der Europäischen Union umgemodelt, indem auch ein Zustand behoben wurde, der Jahrzehnte lang als Demokratiedefizit beschrieben wurde, nämlich ungenügende parlamentarische Mitwirkungsmöglichkeiten. Und der Zwang – in den 1960er Jahren auch von den französischen Gaullisten immer wieder mit neuen, falschen Argumenten widerlegt – dass man einstimmig entscheiden müsste damit man richtig entscheiden könne. 44 Gebiete, Domaines, Felder europäischer Politik, werden durch den Lissabonner Vertrag zusätzlich in den Bereich der Mehrheitsentscheidung eingewiesen. Nur noch ganz selten ist der Fall feststellbar wo einstimmig entschieden werden muss.

Die nationalen Parlamente kriegen Mitwirkungsrecht, wenn auch kein Mitentscheidungsrecht. Dort wo mit Mehrheit entschieden wird im Ministerrat hat das Parlament gleichberechtigte Mitentscheidungsbefugnisse, bis hin zu europäischen Haushaltsfragen, wo das Parlament bis zum Lissabonner Vertrag eingeschränkte Rechte im Direktvergleich mit den regierungsseitig Handelnden in Europa hatte. Was eine Vertragsbestimmung ist von der man erst in den nächsten Jahren merken wird, wie fundamental richtungsgebend sie sein kann, wenn das Parlament sich seiner Rechte vollumfänglich bewusst wird. Weil das Parlament jetzt auch mitentscheidend wird bei dem, was man früher obligatorische Ausgaben nannte; zum Beispiel Agrar- und Landwirtschaftsausgaben werden jetzt gleichberechtigt vom Parlament mitentschieden. Damit wird die Agrarlobby, in einiger Zeit von heute aus betrachtet, vor ein Riesenproblem gestellt werden, weil die Abgeordneten aus den ländlichen Bezirken sind weniger zahlreich als die Agrarminister die aus ländlichen Bezirken kommen. Ich sage das nicht aus Nichtrespekt vor der europäischen Agrarpolitik, ich bin ein großer Anhänger der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik, weil zu einem Kontinent und zu seiner sicherheitspolitischen Fundierung gehört auch, dass ein Kontinent sich selbst ernähren kann, was die Europäer nicht konnten bis zum Jahre 1964.

Ich bin nicht jemand der prinzipiell gegen hohe Agrarausgaben wäre. Wenn die Europäer sich selbst nicht mehr ernähren können, werden wir so abhängig wie wir in energiepolitischen Fragen abhängig sind. Das wäre eine Abhängigkeit zu viel, also bin ich ein Anhänger der gemeinsamen Agrarpolitik, die selbstverständlich Umbau auf vielen Etagen dieses Gebäudes strikt ver- und ertragen würde.

Wir haben uns jetzt auf Ebene des Europäischen Rates, des Ministerrates, darauf geeinigt dass wir einen ständigen Ratsvorsitzenden haben, in der Person von Herman van Rompuy. Sie wissen, dass alle 6 Monate der Vorsitz der europäischen Union wechselt und ein anderer Premierminister, nämlich derjenige der rotierenden Ratspräsidentschaft, die Geschäfte führte. Dabei bleibt es auch, dass alle 6 Monate ein anderes Land den Vorsitz führt, aber der Vorsitzende der Gruppe der Staats- und Regierungschefs ist für 2,5 Jahre gewählt, wie übrigens auch der Vorsitzende der Eurogruppe.

Ich war stets gegen das Konzept, habe das auch öffentlich geäußert – das hat einigen nicht gefallen, wie die weitere Geschichte zeigte – dass dies kein Grüßaugust werden dürfe, und kein Frühstücksdirektor, sondern wirklich jemand der eine sehr präzise Auffassung von europäischem Leadership hat, was international verbindliche Absprachenmöglichkeiten für ihn in petto halten müsste. Aber dies ist ein Fortschritt, weil es den Europäern leichter fallen wird, via Herstellung einer gewissen Beständigkeit, in der Welt konsequenter mitreden zu können.

Ich habe vier Mal den Vorsitz in meinem langen politischen Leben in der Europäischen Union geführt, davon zwei Mal als Premierminister 1997 und 2005. Und es war schon so – aber wenn man länger dabei ist, kann man dieses Handicap übertünchen – dass amerikanische und russische Präsidenten sich alle 6 Monate umstellen mussten, um zu wissen, mit wem sie es denn jetzt genau zu tun hätten. Man musste fast – ich nicht, weil ich schon ein Veteran war als es losging – fast den Pass zeigen, um sich Eingang im weißen Haus und im Kreml zu erzwingen. Das ist jetzt einfacher geworden.

Wir haben eine Hohe außenpolitische Vertreterin – weil man den noch im Verfassungstext angedachten Titel „Außenminister der Europäischen Union“ nicht haben wollte, weil dies auch wieder staatlichkeitssymbolisch gewirkt hätte – die für europäische Außenpolitik zuständig ist. Diese weder vorschlagen, noch erfinden kann, sondern sie koordiniert auf Grund dessen, was die 27 Regierungen und die Kommission vortragen.

Frau Ashton ist gleichzeitig Vizepräsidentin der Kommission, wovon wir dachten, es wäre ein kluger Schachzug. Von dem ich aber jetzt feststelle, dass niemand in der Welt versteht, was das eigentlich soll, da niemand genau weiß was denn der Unterschied zwischen Ministerrat und Kommission ist.

Das habe ich am eigenen Leibe erfahren, öfters. Mir ist besonders in Erinnerung geblieben, das Jahr 1997 war das wohl, da war ich Vorsitzender der Europäischen Union, und ich lag in meinem Pariser Bett, weil dann schläft man in der Zeit immer in anderen Betten. Das Telefon klingelt und Clinton war am Apparat und ärgert sich bei mir und beschimpft mich wegen einer Airbus-Boing-Geschichte, und ich hab mir das alles angehört, und dann hab ich gesagt „Bill, das geht mich einen feuchten Dreck an, dafür ist die Europäische Kommission zuständig“. Und dann hat er gesagt „Ihr Europäer erfindet dauernd neue Ausreden. Das geht euch als Europäer schon etwas an.“ Es hat mich im Übrigen morgens, als ich im Élysée-Palast bei Chirac war sehr gewundert dass Chirac mir gesagt hat: „Du hast Clinton aber gestern Nacht gut geantwortet.“ Das zeigt mir auch dass die europäischen Geheimdienste relativ gut funktionieren, wenn man in nicht-heimischen Betten liegt.

Also die Dinge sind etwas klarer geworden. Kissinger hat sich Anfang der 1970er Jahre, oder Mitte der 1970er Jahre, darüber beklagt, dass er nicht wüsste, wen er anrufen müsste, wenn er ein Problem mit Europa zu regeln hätte. Jetzt weiß er es: den Präsidenten des Europäischen Rates, die Hohe Außenvertreterin, den Präsidenten der Eurogruppe. Wenn der amerikanische Finanzminister ein Problem hat, weiß er dass er mit mir darüber reden muss, auch die Japaner und die Chinesen wissen das. Und im Übrigen halte ich diese Geschichte – die auch in der FAZ immer wieder prominente Erwähnung findet, in den Kommentaren auf der ersten Seite, wo die klugen Köpfe ja noch in Form sind wenn sie die erste Seite lesen – halte ich für einen Witz, dass man immer wieder sagt, Kissinger hat gefragt, er brauche eine Telefonnummer und er hat noch immer keine. Es gibt auch in den USA nicht eine Telefonnummer. Wer mit dem amerikanischen Präsidenten verhandelt, dem wird dauernd bedeutet, dass er sich doch bitte an den Senat und an das Repräsentantenhaus, wenden soll, oder an den Gouverneur von X oder Z.

Wer versucht, in Deutschland denjenigen zu finden, der sehr genau weiß wofür er zuständig ist, und wofür er nicht zuständig ist, der hat auch einen langen, administrativen, hürdenreichen Weg vor sich. In Frankreich auch. Ich ertappe mich dauernd dabei – obwohl ich denke, ich wäre in deutschen Grundgesetzfragen relativ fest, jedenfalls immer bevor das Karlsruher Gericht das Verfassungsdenken manchmal auf komische Wege umlenkend weiterdenkt – den Buchstaben des Grundgesetzes kenne ich, trotzdem hat man Schwierigkeiten herauszufinden von Zeit zu Zeit, was macht Rheinland-Pfalz, was macht der Bund?

Das ist so einfach nicht, in Frankreich auch nicht. Ich bin Nachbar der Lothringen, das ist nicht einfach – die Franzosen hatten letzten Sonntag, und haben nächsten Sonntag Regionalwahlen – herauszufinden, was ist denn jetzt Paris und was ist Provinz. Das Meiste ist übrigens Paris. Ich wollte mal Luxemburgischkurse im Zollgrenzbezirk nach Lothringen organisieren, weil wir viele französischen Grenzgänger haben – auch Rheinland-Pfälzer und Saarländer, aber vor allem französische – deshalb wollten wir Luxemburgischkurse anbieten, hätten wir auch selbst bezahlt, auch Lehrer hingeschickt. Dann hat der Regionalpräfekt aus Metz mir mitgeteilt, es ginge nicht an, dass eine fremde Macht eine fremde Sprache auf dem französischen Territorium unterrichtet, und die fremde Macht war Luxemburg. Nur zum besseren Verständnis.

Also, so einfach ist das nicht, in den Nationalstaaten, auch nicht in den USA, und die Dinge jetzt einigermaßen geregelt, genau wie auch die Kompetenzaufteilung zwischen Europäischer Union und Nationalstaaten klarer gefasst ist, als sie das jemals war.

Nun erzähle ich Ihnen hier im Plauderton von diesem Vertrag, und eigentlich interessiert mich dieser Vertag nur in Maßen. Weil es kommt überhaupt nicht auf die Verträge an. Ich bin sehr dafür, es kann ja auch nicht anders sein, dass man einem Staatengebilde, wie auch einem Nationalstaat, juristischen Boden gibt; man muss wissen in welcher Gesamtordnung man sich bewegt. Aber ein Vertrag löst keine Probleme. Ein Vertrag stellt einen sehr oft vor unlösbare Probleme. Aber ein Vertrag selbst löst keine Probleme. Das eigentliche Problem in Europa ist ja nicht der Vertrag, sondern das, was die, die mit der Umsetzung des Vertrages beauftragt sind, aus diesem Vertrag machen, das heißt, es ist immer, in allen Fällen, eine Frage, und zwar exklusiv, des politischen Willens, und nicht der Folgegebung die man einem Vertrag gibt.

Es gibt imperfekte Verträge, die zu perfekten Resultaten führen, wenn die handelnden Personen in Form sind. Und es gibt perfekte Verträge, die imperfekt bleiben, weil die handelnden Personen nicht auf der Höhe der Zeit sind. Ergo müssen wir uns darauf verständigen, dass der politische Wille der handelnden Personen, sprich der Regierungen, sprich der Parlamentarier, sprich der Kommission ausschlaggebend ist für die Gesamtdichte des Erreichbaren, und des zu erreichenden Gesamtresultates. Und daran mangelt es.

Der Vertrag scheitert in seinen Möglichkeiten an der Tatsache, dass wir zwar alle Instrumente haben, aber nicht alle Ambitionen. Normalerweise sagt man, man hat nicht die Instrumente seiner Ambitionen, aber Europa hat nicht die Ambition seiner Instrumente, weil der politische Wille unterentwickelt geblieben ist. Und weil es eine gefährliche Tendenz zur partiellen, übermorgen totalen Renationalisierung des gesamten europäischen Politiktuns gekommen ist, oder kommen wird.

Auch deshalb ist der Euro wichtig, und erhaltenswert, weil der Euro kontinentale Friedenspolitik mit anderen Mitteln ist, zu einem Moment wo sich die Frage nicht stellt die sich wieder stellen würde, falls man nicht die europäischen Gewässer so kanalisiert dass sie sich nicht in sich überschüttende Gegenrichtungen bewegen.

Was ich beschreiben möchte ist die Tatsache, dass wir, obwohl wir einen Vertrag haben der mangelhaft ist, aber trotzdem integrationspolitisch betrachtend eine fördernde und vertiefende Wirkung haben könnte, wir vor weiteren europäischen Integrationsschritten zurückschrecken und die Integrationsschritte die wir schon getätigt haben, eigentlich in eine kleinfüssige Fortbewegungsmanier wieder zurückentwickeln möchten.

Ich nehme das Thema Euro, weil Herr Dr. Oetker mich ja eigentlich ermahnt hatte – ich bin der Ermahnung bisher noch nicht nachgekommen – mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Wenn man sich zu einem bestimmten Punkt kurz äußern möchte, muss man lange vorher über andere Dinge reden, damit das Ganze noch kohärent und zusammenhängend erscheint, und niemand einem den Vorwurf macht, man hätte die eigentliche Frage nicht beantwortet. Man muss immer am Schluss eines Vortrages sagen, zur eigentlichen Frage hatte ich leider keine Zeit zu kommen. Ich komme schnell dazu.

Wir haben im Euroraum viele Probleme die mich Tag und Nacht beschäftigen, nachts allerdings weniger. Wir haben das Thema europäische Wirtschaftsregierung. Ich mag den Ausdruck nicht, der kommt aus einer französischen Gedankenwelt, die weniger kartesianisch aufgelegten Menschen nicht in der Form geläufig ist, und die auch bei deutschen Ordnungspolitikern regelmäßigen Schüttelfrost auslöst, wenn man von Wirtschaftsregierung spricht. Trotzdem hat die Kanzlerin die Vokabel unternommen, nicht merkend, weder sie noch Herr Sarkozy, dass sie völlig andere Inhalte vehikulieren wenn sie über Wirtschaftsregierung reden als das was sie gemeinsam beschlossen haben.

Aber richtig ist, dass wir die Wirtschaftspolitik, von der der Vertrag sagt, sie wäre national zu gestalten, aber im allgemeinen Interesse zu handhaben, dass wir die stärker koordinieren müssen, sowohl auf Ebene der 27 als vor allem auch auf Ebene der 16 Eurostaaten. Es muss klar sein, dass es intimeren Koordinierungsbedarf der Wirtschaftspolitik im Euroraum – der sich durch eine gemeinsame Währung auszeichnet – gibt, als in dieser etwas schwammigeren Europäischen Union zu 27. Und da muss man über viele Dinge reden. Das versuchen wir auch seit Jahren in der Eurogruppe, aufgrund eindeutiger Vertragsbestimmungen und aufgrund von Ratsbeschlüssen des Europäischen Rates über die Verstärkung der Koordinierung der Wirtschaftspolitik.

Dazu gehört, dass man nicht nur über Haushaltsfragen redet. Die sind wichtig, sie sind eminent wichtig. Dazu gehört dass man nicht nur über Exit-Strategien aus der Verschuldungs- und Defizitspirale redet. Das ist alles eminent wichtig, jeder muss ja wissen, nach diesem massiven staatlichen Eingriff in den Wirtschaftsfluss, der sich durch Anhäufung von Defiziten und Schulden letztendlich, für jeden sichtbar, zusammengetragen hat. Jeder muss ja wissen, dass wir nicht weiter machen können mit dieser – ich sage das so salopp – dieser Schuldenmacherei und dieser Defizitanhäufung. Verschuldung ist süßes Gift für die die heute leben, und ist bitteres Gift für die, die morgen zahlen müssen.

Deshalb muss man aus dieser Schuldenpolitik in einem koordinierten, gesonderten, intelligent überlegten Ausstiegsszenario sich verabschieden. Darüber muss man reden, in der Eurozone intensiver, als auf Ebene der 27, und die Eurozone mit den Amerikanern, mit den Japanern, mit den Chinesen. Das machen wir.

Dazu gehört, dass man über Wettbewerbsfähigkeit in der Eurozone reden muss. Was ist das Problem Griechenlands? Es ist ein Haushaltsproblem, ja, aber es ist vor allem ein Wettbewerbsfähigkeitsproblem, weil Griechenland hat unwahrscheinlich an Wettbewerbsfähigkeit, in direktem Vergleich mit anderen Eurostaaten, vor allem mit dem Bestperformer Deutschland, eingebüßt seit Eintritt in die Eurozone. Weil eigentlich die Annehmlichkeiten des niedriges Zinssatzes bewusst genutzt wurden, und die Bringpflicht nicht in vollem Umfang erkannt wurde, und die bestand darin für gesunde Staatsfinanzen zu sorgen, und auf die Wettbewerbsfähigkeit in einem Lande zu achten.

Darum müssen wir reden. Das heißt wir müssen auch über Lohnpolitik reden können. Wobei ich weiß, dass Lohn- und Tarifpolitik staatskompetenz-eingegrenzte Aufgabenstellungen sind. Aber Finanzminister dürfen doch in der Eurozone über die Lohnfindung im öffentlichen Dienst reden. Sie müssen sich auch mit den Konsequenzen der Tarifpolitik, die fast in keinem Lande so ausgeprägt ist wie in Deutschland, auch was Tarifautonomie anbelangt, unterhalten dürfen, um im Endeffekt gemeinsam zu begreifen: in welche Richtung bewegen wir hier den ökonomischen Gesamtzug?

Da darf kritisches Fragen erlaubt sein, da müssen kritische Fragen gestellt werden. Haben wir auch, zum Beispiel, den Griechen gestellt. Weil der griechische öffentliche Dienst hat seit 1998 bis 2008 eine insgesamte Lohnerhöhung von 97% gekannt. Der Deutsche 10%, Irland 114%, Spanien ist sehr weit davon entfernt. Das heißt, die Länder die heute wirklich lädierter aus der Wirtschaftskrise herauskommen, obwohl wir noch nicht aus der Wirtschaftskrise heraus sind, die haben vieles an selbstverschuldetem Verfehlen auf dem Kerbholz, und darüber muss man reden.

Und deshalb bin ich froh, dass jetzt jeder einsieht, dass die Wirtschaftspolitik koordiniert werden muss. Die deutsche Politik hat das lange nicht gewollt. Und es gibt noch andere Regierungen, andere Länder, die das eigentlich nicht wollen, obwohl es die natürlichste aller denkbaren Folgen aus einem gemeinsamen Währungsgebiet eigentlich ist. Ich mache mir einiges an der Kritik der französischen Finanzministerin zur deutschen Wirtschaftspolitik zu eigen – bei Weitem nicht alles. Was ich aber strikt ablehne, ist dass man in Berlin und sonst wo, die beleidigte Leberwurst spielt, nur weil ein Finanzminister, der die selbe Währung hat wie der deutsche Finanzminister, sich in das interne Wirtschaftsgehabe der größten Ökonomie der Währungszone einmischt.

Einmischen wird zur Pflicht in Europa. Dann muss man offen miteinander diskutieren. Ich teile vieles an dem Kritikansatzpunkt von Frau Lagarde nicht, aber vom Prinzip her geht es völlig in Ordnung, dass man sich auch zu Problemen und zu Zuständen in anderen Ländern äußern darf, ja, äußern muss, ansonsten es keine kollektive und solidarische Führung des gemeinsamen Geldes und seiner direkten und indirekten Folgen geben kann.

Griechenland, womit ich mich nun wirklich nicht nur tagsüber beschäftige, ist ein besonders schwieriger Fall, weil viele darüber reden, und nur wenige etwas darüber wissen. Bis hin zur Veröffentlichung der öffentlichen Meinungen in Deutschland ist die Ignoranz über griechische und europäische Probleme relativ ausgeprägt.

Selbstverständlich hat Griechenland, das muss man wissen, diese Krise selbst verschuldet. Es ist nicht so wie in allen Zeitungen steht, dass wir das einfach hätten so anwachsen lassen. Wir haben mit den Griechen dauernd darüber geredet, dauernd in der Eurogruppe Ermahnungen erlassen. Nur, die Eurogruppe war eine informelle Truppe, bis zum Inkrafttreten des Lissabonner Vertrages, sodass man aus diesem informellen Kreis – die Eurogruppen hat jetzt erst einen Statut erhalten, obwohl informell bleibend – nicht einfach herausplaudern konnte.

Stellen Sie sich einmal vor, ich hätte als Eurogruppenvorsitzender nach einer Eurogruppensitzungen vor zwei Jahren gesagt, ich stelle fest, Griechenland ist ein korruptes Land. Was wäre dann passiert? Es hätte einen riesen Aufschrei gegeben: so kann man mit anderen nicht umgehen. Jetzt sagt der griechische Premierminister, Griechenland ist korrupt, und er tut auch alles, bewundernswerterweise und mit viel Einsatz und viel Mut, um die Dinge in Griechenland in die richtige Richtung zu bewegen.

Also, Griechenland muss seine Hausaufgaben machen, und Griechenland macht seine Hausaufgaben zurzeit. Es hat alle Forderungen, die wir nachgereicht haben nach dem ersten Sanierungsprogramm der griechischen Regierung, in das zweite aufgenommen, hat Mehrwertsteuer erhöht, Luxussteuern, Lohnkürzungen im öffentlichen Bereich durchgeführt, kein Anheben der Renten – das passiert den Deutschen eh, wegen der Rückentwicklung der realen Löhne gibt es keine Rentenerhöhung in Deutschland. Die Griechen haben das entschieden, obwohl es eine reale Lohnerhöhung in Griechenland gab, viel zu breiten Ausmaßes, was wiederum ein Wettbewerbsfähigkeitsproblem der Griechen erklärt.

Jetzt geht es darum, weil gegen Griechenland spekuliert wird, dieser Spekulation einen Riegel vorzuschieben. Das Problem Griechenlands ist nicht die Spekulation gegen Griechenland. Die Spekulation findet ja nicht gegen Deutschland, Niederlande oder Luxemburg statt. Die Spekulanten wissen schon, wieso Griechenland zum Zielgebiet erklärt wurde. Die Gründe für das griechische Abrutschen müssen behoben werden und das wird die griechische Regierung auch tun. Wenn dann trotzdem via Finanzinstrumente, von denen man denken kann was man möchte, ich denke nicht viel Gutes darüber, sich eine Spekulationswelle irrationalen Profils gegen Griechenland weiter bewegt, dann muss die Solidarität der anderen Europäer organisierbar sein.

Ich bin strikt dagegen, dass man den Griechen sagt, ihr könnt machen und lassen was ihr wollt, wir sind da, wir helfen euch. Das wäre eine falsche Politik. Aber wenn Griechenland alles tut, was wir von Griechenland verlangen, und trotzdem kommen die Dinge nicht in Ordnung, weil die Finanzmärkte irrationale Bewegungen sich nicht abgewöhnen können, dann müssen die Europäer sagen, „falls dies so weiter geht, müsst ihr Finanzmärkte wissen, dass wir Griechenland nicht hängen lassen“.

Nun habe ich jedes Verständnis dafür, dass man das nicht so tut, dass die Griechen, und demnächst vielleicht Andere denken könnten, jetzt brauchen wir keine eigenen Anstrengungen mehr zu machen, jetzt können wir uns im Sessel zurücklehnen.

Aber wenn man sieht, dass eine Regierung sich tapfer bemüht, und ein ganzes Volk sich eigentlich tapfer bemüht die Dinge in Ordnung zu bringen, dann muss man auch zumindest erklären, wenn das alles nicht hilft, dann sind wir ein Solidarwerk. Ich bin im Übrigen strikt der Meinung, dass Griechenland keine Hilfe braucht. Und Griechenland fragt ja auch nicht um Hilfe nach. Aber die Finanzmärkte müssen wissen, dass sie irgendwo von der gesamten Eurozone gestoppt werden können, weil Solidarität, das wird ja oft gesagt, ist keine Einbahnstraße. Das zählt aber in beide Fahrrichtungen.

Die Griechen müssen wissen, dass es Solidarität nur gibt, wenn sie ihren eigenen Laden – um das fast zu despektierlich zu formulieren – in Ordnung bringen. Und die Europäer müssen wissen, dass wir den Griechen zur Seite stehen müssen, weil ich doch gedacht hatte, nach dieser Finanzkrise, dass man denen glauben könnte, die dem Primat der Politik eigentlich dauernd ins Wort redeten, und sagen, wir sind diejenigen, die die Finanzmärkte, und die Finanzjongleure daran hindern möchten ihr Unwesen weiter zu treiben. Die Ratingagenturen, die wir vor 6 Monaten in Grund und Boden verdammt haben sind jetzt die, die die Bonitätsausweise für Griechenland nach unten korrigieren. Die bei Lehman-Brothers nichts haben kommen sehen, das sind jetzt diejenigen, denen man blindlings vertraut wenn es um Griechenland geht. Ich bin der Meinung, dass sie im Fall Griechenlands auch Recht haben. Ich stelle nur fest, dass es amerikanische Ratingagenturen sind und dass wir Europäer es bis heute nicht hingekriegt haben eine europäischen Ratingagentur auf die Beine zu stellen. Viele Banken, denen von den Regierungen, das heißt vom Steuerzahler geholfen wurde, über den reißenden Strom sich hinweg zu bewegen während der Finanzkrise, sind jetzt dabei eines der Länder der Eurozone wieder massiv in Bedrängnis zu bringen, und damit die gesamte Eurozone eigentlich tendenziell zu fragilisieren. Da ist nicht sehr viel gelernt worden aus dem was man hätte lernen können. Und deshalb muss die Politik sich dieser Sache bemächtigen. Und dann noch mal dieses Elementarprinzip in Erinnerung rufen, dass die Griechen zuerst ihre Hausaufgaben machen müssen, und dass wir dann erst beistehen.

Das zeigt im Übrigen wie intimst wir als 16 Euro-Unterwirtschaftsräume des Eurowirtschaftsraumes miteinander verbunden und verwoben sind. Und da macht es keinen Sinn, sich schamlos wieder in Richtung Renationalisierungsgelüste abtreiben zu lassen.

Was ich vielerorts beobachten kann – was auch sehr oft naheliegend ist, weil man ist es leid, dauernd zu erklären, dass Europa eigentlich unser aller Rettung ist, man erklärt viel lieber, dass in Brüssel nur Blödsinn gemacht wird. Und die vielen Premierminister und Minister die aus Brüssel zurückkommen und über Europa nur schlecht reden, und sich immer präsentieren als der Gewinner der Sitzungen, was ja auch voraussetzt und zur Folge hat, dass es auch Verlierer gäbe, von denen höre ich nie etwas, niemand erklärt sich zum Verlierer. Für das europäische Publikum muss das wirken wie ein Boxkampf der da alle paar Monaten in Brüssel stattfindet, wo 27 Kerle aufeinander einhauen und der Klügste gibt nach und macht die Kompromisse möglich. Die Unklügsten sind dann die ewigen Sieger.

Alles das macht keinen Sinn, wenn Nationalpolitik so gestaltet wird, dass man innenpolitische Erklärungen für europäische Vorgänge sich dauernd neu erfindet. Dann darf man sich nicht wundern, dass viele Europäer diesem europäischen Integrationsgedanken abhold werden. Wer die ganze Woche erklärt, das Mädchen sei hässlich wie die Nacht, der kann nicht erwarten, dass die Braut beklatscht wird wenn sie Sonntags zum Traualtar schreitet. Das geht nicht. Das ist so im Leben, das ist auch so in der Europäischen Union. Und wir sollten uns hüten vor Vereinfachungen die der Sache nicht dienlich sind.

Man muss sich einige Dinge vor Augen halten, eigentlich nur eines. Am Anfang des 20. Jahrhunderts stellten die Europäer 20% der Weltbevölkerung dar. Am 1. Januar 2000 waren die Europäer noch 11%, Europäer im weitesten Sinne des Wortes. Mitte des Jahrhunderts werden die Europäer noch 7% der Weltbevölkerung ausmachen. Und am Ende des Jahrhunderts noch genau 4%.

Es wird 600 Millionen Europäer, und fast eben so viele Nordamerikaner geben, gegen den Rest der Welt. Ich sage, gegen den Rest der Welt, mir macht der Wettbewerb mit dem Rest der Welt nicht zu schaffen, wieso sollten Inder und Chinesen nicht genau so gut leben dürfen wie wir, wir sind ja nicht die Herren der Welt. Wir denken wir wären sie, wir waren sie eigentlich nie, ansonsten die Welt ja besser sein müsste, wie sie ist.

Ich habe keine Angst vor dem Wettbewerb. Ich sage nur, wer jetzt denkt, jetzt wäre der Moment gekommen, wo alles globaler, verwobener, vernetzter wird, jetzt wäre der Moment gekommen um uns wieder in nationale Divisionen rückzudividieren, der irrt sich fundamental. Wer Mitte dieses Jahrhunderts nur noch 7% der Weltbevölkerung darstellt der hat allen Grund dazu, das europäische Haus in Ordnung zu halten, und die europäischen Dinge noch stärker zusammen wachsen zu lassen, als sie auseinanderstreben zu lassen.

Ich danke Ihnen.

Dernière mise à jour