Jean-Claude Juncker, Discours à l'occasion de la 68. Journée des juristes, Berlin

150 Jahre nach seiner Gründung ist der Deutsche Juristentag nach Berlin zurückgekehrt. Nicht zum ersten Mal, aber zu seiner Jubiläumsveranstaltung kam, denke ich, keine andere Ortswahl in Frage als die der deutschen Hauptstadt. Zwischen 1860 und 2010 ist in Europa eine Geschichte mit unendlicher Dichte über die Europäer, zu deren Unglück und zu deren Glück, hereingebrochen.

Zwischen 1860 und dem Jahre 2010 liegt ein Deutsch-Französischer Krieg – einer von insgesamt 400. Wir zählen die in Luxemburg, weil sie normalerweise auf unserem Territorium stattfinden, wenn es losgeht.

Ein Deutsch-Französischer Krieg, zwei furchtbare Weltkriege und dieses, in der ganzen Welt bestaunte und von der ganzen Welt bewunderte epochale europäische Leistungsdenkmal, das sich Europäische Union nennt. Weil die Menschen, die aus den Konzentrationslagern und von den Frontabschnitten 1945 in ihre zerstörten Dörfer und Städte zurückkamen, aus diesem ewigen Nachkriegsgebet "Nie wieder Krieg" ein politisches Programm gemacht haben, das bis heute wirkt. So dass wir heute zu unserem Glück in der Europäischen Union auf einem beruhigten Kontinent zusammenleben können.

Ich bin gerne nach Berlin gekommen, weil man hier in Berlin die Deutsche Einheit und die europäische Einheit regelrecht fassen, erfassen, anfassen kann. Hier in Berlin finden sowohl Deutschland als auch Europa statt, und deshalb bin ich froh, wieder in dieser schönen und vor allem freien Stadt Berlin zu sein. Ich bin gerne in Berlin, weil ich zu den wenigen der deutschen Sprache mächtigen Politiker gehöre, die sich über die Deutsche Einheit freuen. Das war ein Glücksfall für Deutschland (Beifall).

Ich bin auch gerne nach Berlin gekommen, weil es mir auch um historische Wiedergutmachung geht. Als der Deutsche Juristentag 1860 gegründet wurde, war Luxemburg Mitglied des Deutschen Bundes. Das haben die Luxemburger immer gewusst, die Deutschen wahrscheinlich nicht.

Und zu den Gründungsmitgliedern gehört auch Luxemburg, aber die Frau Bundesjustizministerin hat erklärt, dass kein Luxemburger der Aufforderung nachgekommen wäre, nach Berlin zu reisen. Ich möchte Ihnen sagen, Luxemburg ist mit 150jähriger Verspätung heute in Berlin eingetroffen. (Beifall) Weil wir keinen luxemburgischen Juristentag kennen, wie viele andere europäische Länder auch, sind wir froh, dass wir nächstes Jahr den Europäischen Juristentag in Luxemburg durchführen dürfen.

Wir Luxemburger haben mit Mangelwirtschaft und Defizitverwaltung unsere Erfahrungen. Es spricht ja beispielsweise in den unterschiedlichen Teilen Europas niemand die Weltsprache luxemburgisch. Das zwingt dazu, die Sprache der anderen zu sprechen. Und da wir keinen Juristentag haben, und diese Art der Mangelwirtschaft zur Perfektion beherrschen, laden wir einfach die europäischen Juristen nach Luxemburg. Dann haben wir auch welche, und ich möchte Sie jetzt schon für Mai nächsten Jahres nach Luxemburg einladen, weil wir das nicht so gut machen können wie die Berliner. Das luxemburgische Arbeitsrecht ist – ich war 17 Jahre Arbeitsminister – auch weitaus weniger flexibeler als das der roten Geiger, wie es da hieß in dem eben gehörten Musikstück, aber ich würde Sie gerne einladen – Sie werden in Luxemburg wie Prinzen empfangen werden. Wir haben keinen Juristentag, andere Nachbarländern haben auch keine Juristentage, und ich empfinde das sehr wohl als Mangel und als Defizit, weil die Beiträge, die Einflüsse, die Zurufe des Deutschen Juristentages ja sehr wesentlich an deutscher Rechtsschöpfung und an deutscher Rechtsentwicklung beteiligt waren und weil alle juristischen Sparten im Deutschen Juristentag ihre Heimstatt gefunden haben, Richter, Anwälte, Notare, Professoren, Rechtanwender und Rechtsschaffende – nicht alle Rechtsschaffende sind auch Rechtschaffene. Rechtsschaffende, Rechtspolitiker finden ihr Auskommen miteinander in dem großen Kreis des Deutschen Juristentages, und diese Pluri-Disziplinarität der mitwirkenden Juristen verschiedenster Provenienzen ergibt in der Summe ein Produkt von höchster Qualität. Dies kann man nun am deutschen Rechtszustand auch ablesen, weil es kaum eine Domäne, kaum einen Rechtsbereich, kaum ein Rechtsgut gibt, das vom Deutschen Juristentag nicht berührt worden wäre: sei es im Familienrecht, im Kindschaftsrecht, im Gleichstellungsrecht, im Sexualrecht, im Arbeitsrecht, im Staatsrecht und/oder teilweise auch im Europarecht. Überall und überall dort, wo Fortentwicklung, wo tugendhaft Ergänzung stattfand, war die Hand des Deutschen Juristentages zu sehen und zu spüren. Ich wünschte mir deshalb, dass vom Deutschen Juristentag auch die Botschaft an die Länder ausgeht, die nicht über Juristentage verfügen, sich derartige Instrumentarien an die Hand zu geben. Es tut der Rechtsentwicklung gut, wenn sie nicht nur denen überlassen wird, die denken, exklusiv dafür zuständig zu sein. Europäische Juristentage sind eine Notwendigkeit, weil europäisches Recht ja auch jeden Tag, jede Woche, jeden Monat wichtiger wird. Ich vermag die Prozentzahl der Gesetzestexte nicht zu nennen, die direkt oder indirekt vom europäischen Gesetzgeber beeinflusst oder sogar bestimmt werden. Ich glaube, dass die Augen der innerdeutschen Debatte sehr oft auf hochprozentige Zahlen gerichtet werden, die so nicht stimmen. Ich glaube nicht, dass über 70 Prozent der Gesetze, die vom Deutschen Bundestag votiert werden, europäischer Provenienz sind. Das würde mich doch wundern, bei der rechtschöpfenden Fantasie der Deutschen, dass sie sich selbst zu 60 oder 70 Prozent auf Europa verließen. Aber immerhin ist die Zahl der Texte mit europäischem Ursprung gewaltig hoch, und deswegen hat es Sinn für Juristen und für Politiker – auch für Politiker, die wie ich Jurist sind – sich intensiver und länderübergreifend mit diesem heranwachsenden, sich herausbildenden, fortbildenden europäischen Rechtsraum und Rechtsrahmen zu beschäftigen.

Es wäre mir sehr lieb, dass man, wenn ich an die Regie ein Wort richten darf, ein bisschen Licht in diesen Saal gebe, weil ich Sie überhaupt nicht sehe (Beifall). Es ist unsinnig, irrsinnig mit Menschen zu reden, die man nicht sieht – das geschieht auch in Ihrem Interesse, weil ich an Ihren Gesichtszügen erkenne, wann Schluss sein muss. (Beifall)

Es kommt schon sehr darauf an, dass man europäisch auch nur das nennt, was europäisch ist, und nicht-europäisch das nennt, woran man als Nationalstaat intensiv bei der Werdung teilgenommen hat. Mich ärgert es sehr, dass viele regierende Premierminister, Finanzminister oder andere, Europa in die Pflicht nehmen, wo Europa überhaupt nicht gefordert war, dass man alles in die europäische Ecke drückt, was einem nicht in den nationalen Kram passt, was man aber wegen des nationalen Krames machen musste. Mich ärgert, dass Premierminister und andere die Brüsseler Gipfel verlassen und den Menschen zu Hause erklären, sie hätten sich durchgesetzt gegen alle anderen. Das ist für mich ein riesiges Problem, weil wir Luxemburger aus den erwähnten Gründen ja mehrsprachig sein müssen. Sehen die Menschen sich bei uns mehrere Nachrichtensendungen an, so hören sie den französischen Staatspräsidenten relativ konstant erklären, er hätte sich durchgesetzt. Dann kommt die Tagesschau, und bei uns sehen die sich auch belgische Fernsehsender an und britische, weil wir auch englisch sprechen. So, und wenn meine Nachrichtensendung kommt, haben sich alle schon so massiv durchgesetzt, dass ich mich überhaupt nicht mehr durchsetzen kann. Und ich bin auch dagegen, dass man so tut, als hätte man sich gegen andere durchgesetzt – Europa ist keine Boxveranstaltung, in Europa versuchen wir, die Dinge so zu tun, dass sie allen Europäern zum Vorteil gereichen (Beifall). Nun ist der europäische Gesetzgeber ja der Gesetzgeber der besonderen Art, weil Gesetze in Europa in einem gleichberechtigten Verfahren erlassen werden: im Regelfall vom Europäischen Parlament und vom Ministerrat, also von den Ministern, von den Regierungen der Nationalstaaten, aber eigentlich fängt europäische Gesetzgebung zu Hause an, und eigentlich hört sie bei der Umsetzung zu Hause auf. Es ist nur die Strecke zwischen Anfang und Ende, die in europäischer Hand ist, aber doch auch nur in geteilter Hand der nationalen Minister und der von den europäischen Völkern gewählten Europaabgeordneten, die Normen setzen, die dann durch Überführung ins nationale Recht zur allgemeinen Gültigkeit gelangen.

Wobei ich weiß, dass auch das Bundesverfassungsgericht, dem meine Hochachtung gilt, moniert hat, dieses Europäische Parlament wäre eigentlich ungenügend legitimiert, weil es nicht gleichheitsgerecht zusammengesetzt wäre. Da tick ich sofort, weil ich ja denke zu verstehen, was gemeint ist.

Es gibt für viele luxemburgische Abgeordnete nicht genug deutsche Abgeordnete. Und weil es uns trotz aller Anstrengungen auch in diesem Jahrhundert nicht gelingen wird, dass es mehr Luxemburger als Deutsche gibt, muss man sich auch in Karlsruhe mit dieser Tatsache abfinden, dass kleinere Staaten in der Europäischen Union eine objektiv begründbare und auch genauso vorstellbare Überrepräsentanz haben. So wie auch der Bundesrat nicht gleichheitsgerecht zusammengesetzt ist und der amerikanische Senat auch nicht. Man muss sich daran gewöhnen, dass dann Große und Kleine mit einander können müssen, wenn Europa etwas werden soll. Ich hätte zum Beispiel auch nach New York fliegen müssen, wie die Frau Bundeskanzlerin, die von der Weltpolitik überrascht wurde. (Beifall)

Alle Regierungschefs der Welt treffen sich in New York und reden darüber, wie man es schaffen kann, die Entwicklungshilfe aller Länder – vornehmlich der reichen Länder – auf 0,7 Prozent ihres Bruttosozialproduktes anzuheben. So, jetzt zahlt Luxemburg aber 1 Prozent Entwicklungshilfe. Deshalb wollte ich das Pult in New York denen überlassen, die erklären müssen, wieso sie es immer noch nicht geschafft haben. (Beifall)

So erklärt sich meine Anwesenheit hier und ihre Anwesenheit dort. Und im Übrigen, wer ist denn jetzt groß und klein? Der, der seine nationalen Verpflichtungen ernst nimmt und auch die Verpflichtung Entwicklungshilfe ernst nimmt oder diejenigen, die sich etwas schwerer mit dem Erreichen dieser Ziele tun? Luxemburg gehört jedenfalls zu den G 0,7 Ländern und keines der G 7 Länder gehört zu den G 0,7 Ländern. Umgekehrt wäre es besser für die armen Menschen in der Welt. So lange jeden Tag 25000 Kinder einen Hungertod sterben, so lange ist Europa mit seinen Aufgaben in der Welt nicht fertig. Das ist auch unser Problem. (Beifall)

Dem Juristen und dem Politiker stellt sich natürlich die Frage, wer in letzter Instanz zuständig wäre, wenn es um Rechtdeutung, Rechtsauslegung und um Rechtsinterpretation in Europa geht? Wer hat das letzte Wort in Europa? Ich nähere mich diesem Thema auf Zehenspitzen, weil die große Berufsgruppe stark vertreten ist und ich mag sie sehr, weil ich mich als Jurist und auch als Premierminister sehr intensiv mit der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes auseinander setze. Dieses Gericht hat, genau wie der Deutsche Juristentag, vielleicht sogar mehr dazu beigetragen, dass Deutschland ein liberaler Rechtsstaat nach dem 2. Weltkrieg geworden ist. Ich bin sehr dafür, dieses Gericht zu kritisieren. Ich bin dagegen, es zu schmähen, weil die Republik verdammt ist, mit sich und diesem Gericht zu leben. (Beifall)

Aber wem steht die letzte Kontrolle zu? Wer hat die Totalaufsicht über europäische Rechtsauslegungen? Ist das im deutschen Rahmen das Bundesverfassungsgericht oder ist das der Europäische Gerichtshof? Gehört die Totalaufsicht Karlsruhe oder gehört das Interpretationsmonopol dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg? Dies ist eine Frage, mit der sich intensiv auseinandergesetzt werden muss. Wer denkt, es gibt gute Gründe die Frage, die ich stelle, so zu beantworten: „Die letzte Instanz wäre in Karlsruhe beheimatet“, der muss sich, weil es ja viele „Karlsruhes“ in der europäischen Union gibt, mit der Frage beschäftigen, was wir dann mit dem Zustand divergierender Rechtssprechung in Europa gestalterisch anfangen sollen. Wie wir damit umgehen müssen. Diese Auslegungskonflikte zwischen verschiedenen Verfassungsgerichten, verschiedenen Ländern der Europäischen Union, können sehr wohl zu einer europäischen Rechtsverwirrung führen, die die Bürger irre macht und die Politiker nicht klug werden lässt, was ohnehin relativ schwierig ist. Wenn es aber der Europäische Gerichtshof ist – und ich bin schon der Meinung, dass dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg große Bedeutung zukommt – müssen wir uns auch mit der Frage beschäftigen. Ich bin nicht deshalb der Meinung, dass der Europäische Gerichtshof sich nahe an das Interpretationsmonopol heranrubbeln muss, weil er in Luxemburg beheimatet ist. Ich kann dem Charme des genius loci sehr wohl widerstehen, weil ich ja auch der Auffassung bin, dass in einigen Rechtsauslegungen der Europäische Gerichtshof – so sehr Integrationsmotor und Integrationsbeschleuniger er in den letzten Jahrzehnten war – auch manchmal von einem meganationalen Elan angetrieben zu einer Überdehnung europäischer Kompetenzzuordnung gekommen ist. Auch darüber muss man in aller Ruhe reden. Eigentlich ist der elementare Sinn für Gewaltentrennung bei mir so ausgeprägt, dass ich derartiges nicht sagen dürfte. Aber hier ist der Deutsche Juristentag und ich bin ja auch Jurist. Insofern beschäftige ich mich mit dem Thema nicht immer, wenn der Europäische Gerichtshof die Kompetenzklassifizierung in Europa so vornimmt, dass sich die nationalen Gerichtsbarkeiten und das nationale Parlament – was ja auch sehr oft passiert – nicht behaken und ultra vira sowie ultra credita den Europäischen Gerichtshof in seine Kajüte zurückschicken. Nein, es ist schon so, dass der Europäische Gerichtshof zuständig ist, um in der Kompetenzordnungsausführung seine Jurisprudenz in vielfältigen, sehr oft widerstrebenden Stimmen anderer Gerichte in Europa hinzuzufügen, wobei ich mich hier nicht in den Streit einmischen möchte, der nach dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Lissabonvertrag aufkam. Ein zu empfehlendes Stück Rechtslektüre. Ich möchte mich nicht in den Streit einmischen, der eigentlich richtig ist, dass das oberste deutsche Gericht verifizierend, antizipierend, souverän, parlamentsbremsend vorschreibt nach den Regeln „bis hier hin und nicht weiter“ oder nach den Regeln der Solange-bis-Entscheidung. Wir müssen uns aber als Juristen oder als Politiker, vor allem als Rechtspolitiker, vor allem Väter der Europäischen Verträge – das sind nun mal die Regierungen – mit diesen Fragen beschäftigen und uns auch mit der Terminologie des Deutschen Verfassungsgerichtes und der Terminologienausfallblüten nicht-deutscher Verfassungsgerichte auseinander setzen. Ersichtlicher Kompetenzverstoß: vor dem wird gewarnt. Von hinreichend qualifizierter Kompetenzverletzung wird gewarnt. Und das Verfassungsgericht spricht von strukturell bedeutsamer Kompetenzverschiebung und stellt Stoppschilder auf, wo diese Gefahren im Anmarsch sind. Ich kritisiere das nicht. Fundamental ist dabei nur, dass wir in Europa sehr aufmerksam nicht nur die innerdeutsche Rechts- und Verfassungsrechtsdebatte und das Wirkungsfeld zwischen Europarecht und deutschem Grundgesetz verfolgen müssen. Wir müssen uns auch mit den Entscheidungen anderer Gerichtsbarkeiten anderer Verfassungsgerichte in der EU auseinandersetzen, um zu ergründen, wie denn die sich anbahnenden divergierenden Entwicklungen in den Griff zu bekommen sind. Ich sehe – weil wir aus den vorhin erklärten Gründen mehrere Verfassungsgerichtsbarkeiten in Europa von Luxemburg aus beobachten müssen – dass hier eine divergierende Grundströmung am Entstehen ist, die es uns als politisch Handelnde in der Europäischen Union sehr schwer macht. Als Eurogruppenobermufti war ich beteiligt an dem Aufspannen des Rettungsschirms für Griechenland – es hat mir sehr viel freundliche Post aus Deutschland eingebracht, vielen Dank dafür – und für den etwas größeren Eurorettungsschirm. Da muss man sich sehr intensiv mit der Rechtsprechung des deutschen Verfassungsgerichts auseinandersetzen. Und mir leuchtet ein, dass deutsche Finanzminister und deutsche Bundeskanzler darauf verweisen. Es leuchtet aber nicht jedem ein, weil nicht jeder automatisch damit einverstanden ist, dass eigentlich die Rechtsprechung des deutschen Verfassungsgerichtes über die Grenzen wirkt und Integrationsfortschritte – unabhängig vom genannten Beispiel – verhindern könnte, weil die deutsche Politik dazu übergangen ist, die Urteile des Verfassungsgerichtes relativ restriktiv auszulegen und deshalb sehr oft zu integrationshemmenden Wortmeldungen in der europäischen Union verleitet wird. Ich möchte einfach, dass man, wenn man einen europäischen Juristentag veranstaltet, auch über diese Probleme redet und über die oft mit den Befindlichkeiten Anderer angesichts der beschriebenen eingetretenen Sachlage sich beschäftigt. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass Parlamente Recht setzen, auch europäisches Recht und internationales Recht. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass dieses europäische Recht dem Richter, sowohl dem nationalen wie auch dem europäischen weniger große Spielwiesen unter die Füße legen würde, wenn wir bei der Rechtsfassung etwas klarer wären als wir es sind.

Ich war 17 Jahre Arbeitsminister, 20 Jahre Finanzminister und bin seit 15 Jahren Premierminister. Aus dieser Art der ungeschickten und ungelenkten Kompromisslerei, die wir betreiben, wenn wir als Regierungschefs und Finanzminister zusammensitzen, entsteht kein, um es mal salopp zu formulieren, sauberes Recht. Kompromisslerei verhindert die Lesbarkeit des Rechtes und deshalb müssen wir – Klaus Wowereit hat das auch gesagt – Sorge dafür tragen, dass wir so formulieren, dass Recht verstanden wird und so begründen, dass die ratio legis wieder aufleben kann, damit man sich wieder fragen kann, ohne dass Widersprüchliches zu lesen ist, welches denn die Intentionen des europäischen Gesetzesgebers waren, anstatt uns dann über die Interpretationen derer zu ärgern, die mit dem Auslegen dessen beschäftigt sind, was wir eigentlich krumm in die Welt gesetzt haben. Was heißt Altersdiskriminierung? Ohne dass ich das Mangold-Urteil durchwandern möchte: nirgendwo haben wir im Detail festgelegt, was wir damit meinen. Und jeder Gesetzesgeber hat es so umgesetzt, wie es ihm national ins Zeug passte. Und dann ist es Sache des Richters, in diesem Dickicht sich zurechtzufinden und dann kommt es zur divergierenden Rechtsentwicklung, zu divergierender Rechtsauslegung und Deutung. Und deshalb sollten wir uns eher bemühen, etwas mehr sach- und fachgerechte Normensetzung in Europa vorzunehmen als uns dann im Nachhinein zu ärgern. (Beifall)

Nun sind wir ja nicht nur als Nationalstaaten eine Schicksalsgemeinschaft. Wir sind ja auch als Europäische Union, überhaupt auf dem europäischen Kontinent eine Schicksalsgemeinschaft. Und deshalb muss man beide Schicksalsgemeinschaften adäquat bedienen, ohne die Eine, die nationale atmosphärisch und physisch zu verkleinern, ohne die Andere atmosphärisch aufzublasen. Europa ist kein Staat, Europa ist kein Bundesstaat, Europa ist ein Staatenbund und wer denkt, dieser Staatenbund könnte nach den Regeln des Bundesstaates geführt werden, der irrt sich. Ich bin radikal gegen die Begriffswahl „Die Vereinigten Staaten von Europa“. Die Menschen wollen das nicht. Sie wollen nicht, dass die Europäische Union ein Gebilde wird nach Mustervorlage der vereinigten Staaten von Europa. Sie sind gerne Berliner, Bayern, Schwaben, Thüringer, Saarländer. Ich bin gerne Luxemburger und Europäer. Der moderne Patriotismus, meine Damen und Herren, hat zwei Dimensionen: wir sind Deutsche und Luxemburger und wir sind Europäer und da ist kein antinomes Verhältnis zwischen beiden Größen, sondern das geht zusammen. So wie deutsche Einheit und europäische Einheit. Zusammengehen, so muss auch die Sorge um den Nationalstaat möglich sein, obwohl wir dabei sind, diese Europäische Union täglich zu vertiefen. Deshalb muss man auch Geduld haben mit dieser Europäischen Union, dessen veritable juristische Natur wir ja überhaupt nicht beschreiben können. Deshalb sagen wir Juristen ja auch, die Europäische Union wäre ein Gebilde sui generis, weil uns nichts Gescheiteres einfällt. Das ist die Restkategorie, wo wir das unterbringen, das wir nicht annähernd exakt beschreiben können. Ich wünsche dieser Europäischen Union, dass sie, dadurch dass der deutsche Juristentag auch seine Wirkung, was Europarestfragen, auch was europaarbeitsrechtliche Fragen anbelangt – Arbeitsrecht ist das Stiefkind der europäischen Integration – ihre Wirkung vergrößert und zwar dadurch, dass der Juristentag nächstes Jahr zusammen mit anderen europäischen Juristen den europäischen Juristentag in Luxemburg veranstaltet, zu dem sie, wie ich gesagt habe, sehr herzlich willkommen sind.

Ich habe vor zwei, drei Wochen im nordrheinwestfälischen Kempen einen Preis erhalten. Ich erhalte manchmal Preise und Auszeichnungen, weil ich inzwischen vor allem in Deutschland zum Kreis der üblichen Verdächtigen aufgestiegen bin, insofern passiert das dann immer wieder. Dort habe ich den Thomas von Kempen-Preis erhalten. Thomas von Kempen war ein Mystiker aus dem 15. Jahrhundert und weil in der Preisbegründung stand, er hätte mein Denken sehr geprägt, habe ich mich um sein Denken gekümmert, indem ich (Gelächter) bei Kant nachgelesen habe zur de imitatione Christi – der Christinachfolge –, was er über die Dinge der Welt so alles zusammengetragen hat. Und das war schön, das muss ich ehrlich zugeben, kann ihnen das nur empfehlen. Es sind aber vier Bände (Gelächter), schon sehr beeindruckend. Ich habe auch nicht die vier Bände gelesen, sondern nur das Inhaltsverzeichnis (Gelächter) und Kapitel 9 Spruch 16.6 der Imitatio handelt von der Vermeidung überflüssiger Reden. So, es gibt überflüssige Reden, aber man kann sie abkürzen. Vielen Dank. (Beifall)

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