Interview-portrait avec le Premier ministre, Jean-Claude Juncker

Werner Reuß: Ich würde gerne mit ein paar Daten über Ihr Land beginnen, wenn Sie erlauben. Luxemburg ist Mitgründerstaat der EWG, wie das damals hieß, also des Vorläufers der Europäischen Union. Luxemburg grenzt an Belgien, an Frankreich, an Deutschland und besteht aus drei Distrikten und 12 Kantonen. Luxemburg hat 500.000 Einwohner und dabei einen Ausländeranteil von ungefähr 45 Prozent, wenn ich das richtig nachgelesen habe. Luxemburg hat zumindest in Europa das höchste Pro-Kopf- Einkommen und einen dementsprechend hohen Lebensstandard. Das ist die Außensicht von Luxemburg. Wie sieht denn der Premierminister, wie sieht der Mensch Jean-Claude Juncker Luxemburg?

Jean-Claude Juncker: Ich mache keinen Unterschied zwischen Premierminister und Mensch, denn das läuft bei mir zusammen: Da gibt es keine Schnittmenge, sondern da decken sich die Ansichten wirklich vollkommen. Luxemburg wirkt nach außen als ein reiches Land, und es ist auch in der Tat ein reiches Land aufgrund einer erfolgreichen Wirtschaftsgeschichte auf der Basis von entsprechenden wirtschaftspolitischen Grundeinstellungen. Aber Luxemburg ist von innen betrachtet ein Land, in dem es auch Armut gibt. Viele Nicht-Luxemburger denken, in Luxemburg gäbe es keine armen Menschen. Nein, die gibt es sehr wohl. Es gibt in Luxemburg auch Verlierer, denn diese wirtschaftliche Erfolgsgeschichte war nicht so, dass sie alle mitgenommen hätte. Das, was ich zu tun versuche, hat vor allem mit diesen Menschen zu tun. Wir versuchen ganz zielorientiert, diese Menschen wieder auf eine gute Bahn zu setzen. Luxemburg weiß, dass es ein sehr kleines Land ist – auch wenn es "Großherzogtum" heißt. Daraus ergeben sich keine Minderwertigkeitskomplexe, aber wir haben durchaus einen Sinn für Geografie und Demografie und wissen daher, dass unsere Nachbarstaaten aufgrund von deren Geografie und Demografie unendlich stärker ins Gewicht fallen, als das unser Staat je könnte. Daraus ergibt sich unser Selbstverständnis: Wir müssen versuchen, zwischen unseren beiden großen Nachbarn, also Frankreich und Deutschland, zurechtzukommen. Manchmal gelingt uns das, indem wir Brücken legen zwischen den beiden. Denn diese beiden Staaten verstehen sich durchaus nicht so gut, wie es das öffentliche Bild diesbezüglich vermuten lässt. Und wir sind um ein gutes Verhältnis zu Belgien bemüht: Wir wollen mehr als nur gutnachbarliche Beziehungen zu Belgien haben! Wir arbeiten nicht gegeneinander, sondern zusammen, und zwar für etwas.

Werner Reuß: Luxemburg war immer schon und ist immer noch sehr europhil. Luxemburg ist auch Standort wichtiger europäischer Institutionen: Der Europäische Gerichtshof ist hier, der Europäische Rechnungshof, die Europäische Investitionsbank und, wie ich glaube, auch das Sekretariat des Europäischen Parlaments. Und Luxemburg ist natürlich ein wichtiger und großer Finanzstandort. Fast 180 Banken sind hier registriert: Was bedeutet dieser Finanzstandort für das Land Luxemburg?

Jean-Claude Juncker: Luxemburg ist mehr als ein Finanzplatz. Manche glauben tatsächlich, Luxemburg wäre eine Stadt mit zwei Straßen und drei Bürgersteigen, voll möbliert mit Banken. Das ist jedoch nicht richtig: Luxemburg hat eine sehr wichtige Stahlindustrie, die das Landesgeschehen in vielerlei Hinsicht sehr beeinflusst und geprägt hat. Luxemburg ist Standort vieler internationaler Konzerne, Luxemburg hat einen sehr emsigen Mittelstand, der zum Beispiel mit dem Bayerns vergleichbar ist, wo der Mittelstand ja ebenfalls eine hervorgehobene Rolle spielt. Der Finanzplatz ist deshalb wichtig, weil er Luxemburg erlaubt hat, sich auf der Landkarte des weltweiten Finanzgeschehens einen eigenen Platz zu erobern, der in keinerlei Verhältnis zur Demografie und Geografie unseres Landes steht. Wir sind nämlich in der Tat einer der größten Finanzzentren der Welt. Luxemburg als Finanzstandort ist für unsere Bürger auch wichtig im Hinblick auf die Rezeption ihres eigenen Landes. Denn Luxemburg war über fast 100 Jahre ein Land, das sehr stark von der Stahlindustrie geprägt war. Jemand hat einmal gesagt, Luxemburg wäre so sehr ein Geschenk der Stahlindustrie wie Ägypten ein Geschenk des Nils. Als die Stahlindustrie nicht nur in Europa, sondern weltweit in Restrukturierungszwänge geriet, kam dem Finanzplatz als Arbeitgeber und als Steuereinnahmequelle erhöhte Bedeutung zu. Insofern sind die Luxemburger sehr am Erhalt dieses Finanzplatzes interessiert – selbstverständlich zu international vertretbaren Normen. Der Finanzplatz ist für Luxemburg heute das, was in früheren Jahrzehnten die Stahlindustrie gewesen ist.

Werner Reuß: Ich möchte jetzt gleich auf ein zumindest aus deutscher Sicht unangenehmes Thema zu sprechen kommen. Denn während der heißen Phase der globalen Wirtschafts- und Finanzkrise gab es auch in der EU die eine oder andere Unnettigkeit, um das einmal so zu formulieren. Das Bankgeheimnis in Luxemburg wurde attackiert von deutschen Politikern. Der damalige deutsche Finanzminister Peer Steinbrück hat Luxemburg mit Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, verglichen. Und der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering meinte sogar, solche Probleme hätte man früher mit Soldaten erledigt und solche Fiskalparadiese gehörten platt gemacht. Sie haben damals gesagt: "Man sollte anderen Ländern gegenüber respektvoll bleiben. Je größer das eigene Land ist, desto vorsichtiger sollte man formulieren." Hat Sie diese harsche Kritik auch persönlich verletzt?

Jean-Claude Juncker: Persönlich nicht unbedingt, weil ich mit den von Ihnen Genannten eigentlich sehr gute persönliche Beziehungen habe, also sowohl mit Müntefering wie vor allem mit Steinbrück, dem ich nur den Vorwurf mache, dass er sich in weltweiter Geografie ungenügend auskennt, weil er sonst nämlich nicht Ouagadougou mit Luxemburg verglichen hätte. Diese Aussage ist übrigens von den Herrschenden in Ouagadougou als Kompliment aufgefasst worden – obwohl das so von Peer Steinbrück gar nicht gemeint gewesen sein dürfte. Ich habe mich mit ihm sehr intensiv unterhalten und werde ihn demnächst auch hier in Luxemburg zu einem Abschiedsbesuch als Bundesfinanzminister empfangen dürfen. Ich stehe also mit ihm eigentlich in sehr guten persönlichen Verhältnissen, aber genossen habe ich diese Aussage von ihm selbstverständlich nicht, weil diese Attacke von Müntefering und Steinbrück mitten in unserem Wahlkampf stattfand: Wir hatten im Juni 2009 Wahlen in Luxemburg. Die Luxemburger waren darüber schon sehr verärgert, zu Recht, wie ich finde. Ich hätte ohne Mühe mein ohnehin schon sehr gutes Wahlergebnis noch weiter verbessern können, wenn ich gegen Frankreich und vor allem gegen Deutschland Wahlkampf gemacht hätte. Was mir eher aufgestoßen ist als die Reduzierung Luxemburgs auf ein exotisches Steuerparadies durch Steinbrück – was so nicht stimmt und wovon er sagte, dass er das auch gar nicht so gemeint hätte –, ist diese Aussage von Müntefering, dass man das früher militärisch gelöst hätte. Wir waren im 20. Jahrhundert zwei Mal von Deutschland besetzt. Deutsche dürfen daher nicht so reden!

Werner Reuß: Ist dabei ein Schaden entstanden, der über den Tag hinausgeht? Sie haben damals gesagt: "Wir dachten, die Deutschen seien die besten Nachbarn, die wir je hatten. Dieses Bild ist über Nacht zusammengebrochen." Haben also diese unbedachten Äußerungen in Luxemburg das Bild Deutschlands nur zeitweilig getrübt oder ist da mehr zurückgeblieben? Ihr Außenminister hat ja darauf hingewiesen, dass Luxemburg im Zweiten Weltkrieg relativ gesehen einen gleich hohen Blutzoll wie zum Beispiel die Sowjetunion bezahlt hat.

Jean-Claude Juncker: Wenn er das so gesagt hätte, dann hätte er das falsch gesagt. Ich denke, er hat den Blutzoll Luxemburgs zu dem von Polen in Relation gesetzt. Und genau so ist das auch. Nur weiß das in Deutschland niemand. Es weiß in Deutschland so gut wie niemand, dass Luxemburg unter der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg in vielerlei Hinsicht gelitten hat. Das größte Leiden war wohl, dass die Generation der zwischen 1920 und 1927 geborenen jungen luxemburgischen Männer in die Wehrmacht zwangsverpflichtet wurde: Sie wurden zwangsrekrutiert.

Werner Reuß: Wie zum Beispiel auch Ihr Vater.

Jean-Claude Juncker: Ja, auch mein Vater und vier seiner Brüder. Meine Großmutter hat damit leben müssen, dass Hitler fünf ihrer Söhne in den Krieg geschickt hat, in einen Krieg, der mit ihnen überhaupt nichts zu tun hatte. Sie mussten eine in Luxemburg verhasste Uniform anziehen, um gegen die zu kämpfen, die damit beschäftigt waren, Luxemburg von der deutschen Besatzung zu befreien. Das war ein individuelles und kollektives Drama damals. Mein Vater, der ein sehr anständiger Mensch ist – einfache Menschen sind sehr oft nobler als diejenigen, die ihre Noblesse durch Universitätstitel zum Ausdruck bringen wollen –hat in einem Dorf gelebt: Er war nie weiter weg gewesen von seinem Dorf als die fünf Kilometer in die nächste Stadt. Und "Stadt" heißt in Luxemburg, dass das eine Gemeinde mit 1000 Einwohnern gewesen ist. Und dann wurde er plötzlich über Nacht in einen Zug gesteckt und an die russische Front gebracht. Man muss sich einmal vorstellen, was das heißt, welcher Kulturschock das für ihn gewesen ist, welche Lebensunterbrechung das für ihn bedeutet hat. Das war eine regelrechte autobiografische "Pause". Zugefügt wurde ihm das durch die deutschen Besatzer, genauer gesagt durch die Nazis, denn ich setze Deutschland nie mit Nationalsozialismus gleich – auch nicht im Hinblick auf das Dritte Reich. Das war schon etwas, was dann die Familien in ihrem Gefühl weitergetragen haben: dass wir einmal so unwahrscheinlich schlecht, ungerecht und schlimm behandelt worden sind. Und wenn man dann sagt, solche Probleme hätte man früher mit Soldaten geregelt, dann empfindet man das in Luxemburg in der Tat als kollektive Beleidigung. Ich weiß von Müntefering selbst, denn ich habe mit ihm mehrfach darüber gesprochen, dass er das so nicht gemeint hat. Aber er hatte es so gesagt. Ich habe mich dann über Monate hinweg bemüht, dieses zeitweise zerrüttete deutschluxemburgische Verhältnis zu reparieren. Ich wurde dabei unterstützt von vielen deutschen Politikern, auch von der Bundeskanzlerin, auch vom Bundespräsidenten. Ich habe das nicht vergessen, sondern nur ad acta gelegt.

Werner Reuß: "Politik kann nie Kultur, Kultur wohl aber Politik bestimmen", so der erste bundesdeutsche Präsident Theodor Heuss. Sie selbst haben einmal gesagt: "Politik ist gestalten, nicht machen!" Was ist Politik für Jean-Claude Juncker?

Jean-Claude Juncker: Wie viel Sendezeit haben wir? Politik ist für mich zuerst einmal – auch wenn das sehr pathetisch klingt und pathetische Aussagen eigentlich nicht meine Sache sind – Dienst am Volk. Man vergisst das sehr oft, aber es muss klar sein, dass Politik kein Selbstzweck ist. Das, was man tut oder zu tun versucht, ist daher wichtiger, als man selbst. Man muss die eigene politische Gestaltungsarbeit, die selbstverständlich durch eigene Überzeugungen abgesichert sein muss – durch Überzeugungen über die Art und Weise, wie Menschen zusammenleben sollen, also über das eigene Menschenbild –, begreifen als ein Stückchen Geschichte in einer großen Geschichte, die einen selbst übersteigt. Jede Generation hat ihre Aufgabe. Die Kriegsgeneration, die Generation meiner Eltern hat, nachdem sie von der Front und aus den Konzentrationslagern in ihre zerstörten und zerbombten Städte zurückgekehrt war, es geschafft, Europa auf einen anderen Weg zu bringen. Diese Generation hat aus der ewigen Nachkriegssituation mit der Forderung "Nie wieder Krieg!" ein Programm gemacht, das bis heute wirkt. Das ist die große Lebensleistung der Vorgängergeneration von uns: dass sie, obwohl an Leib und Leben von diesen Kriegsereignissen betroffen, diese hinter sich gelassen hat und ihren Kindern eine europäische Welt hinterlassen wollte, in der Derartiges nicht mehr passieren könne. Das hat diese Generation geschafft und für sie war das unendlich schwieriger als für uns, die wir eigentlich nur die Erben dieser Grundeinstellung europäischen Dingen gegenüber sind, die sich unsere Vorgängergeneration zueigen gemacht hatte. Das muss man weiterführen und jede Generation hat ihre eigene Aufgabe. Wir nun müssen diesen Prozess vertiefen. Mein eigenes europapolitisches Engagement hat sehr wesentlich mit der Lebensgeschichte meines Vaters und seiner Brüder zu tun, weil ich einfach keine Lust mehr habe, dass Väter eines Tages ihre Kinder traurig machen, indem sie ihre eigenen Kriegserlebnisse erzählen müssen. Das hat mein Vater im Übrigen auch nie gemacht, denn er gehörte einer Generation an, die auch schweigen kann, wenn es um Essenzielles geht, das sie sehr bewegt und geprägt hat. Ich habe bis heute diesen Satz meines Vaters in Erinnerung, den er zu mir gesagt hat, als ich ihn auf dem Höhepunkt meiner pubertären Auflehnung bezichtigte, dass das alles ja nur ein bürgerliches Leben wäre und dass man Glück nicht mit Zufriedenheit verwechseln dürfe und so weiter, und so fort. Ich denke, Sie werden als Pubertierender genauso gewesen sein, ich wünsche Ihnen jedenfalls, dass sie genauso gewesen sind. Mein Vater meinte damals jedenfalls zu mir: "Als ich aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam" – er war als luxemburgischer Staatsbürger und deutscher Soldat in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen und dann von einem dortigen Lazarett aus in den Zug nach Luxemburg gesetzt und in die Freiheit geschickt worden – ", habe ich mir geschworen, dass ich mich nie mehr beklagen werde!" Und er hat sich auch nie mehr beklagt. Wir jedoch beklagen uns dauernd, weswegen wir nicht die richtigen Erben unserer Vorgängergeneration sind, und das, obwohl wir so einiges nicht mitbekommen haben von dem, was frühere Generationen im wahrsten Sinne des Wortes todunglücklich gemacht hat. Also versuche ich mit meinen bescheidenen Mitteln das weiterzutragen, was von früher kommt. Ich versuche das aber so zu profilieren und so zurechtzuschneidern, dass es in die Zeit von heute passt und die Welt von morgen nicht negativ beeinflusst. Ich habe jetzt tatsächlich noch Lust auf einen anderen pathetischen Satz: Ich bin eigentlich ein Wanderer zwischen den Generationen – weswegen ich eigentlich nicht so hundertprozentig in unsere Zeit passe. Aber unsere Zeit ist nichts, wenn man die Zeit vorher nicht kapiert hat!

Werner Reuß: Sie sind hier in Luxemburg am 9. Dezember 1954 geboren. Einiges von dem, was Sie geprägt hat, haben Sie mit der Geschichte Ihres Vaters bereits erzählt. Dennoch möchte ich Sie gerne fragen, wie Sie aufgewachsen sind, wie ihre Jugendzeit war. Was waren die wichtigsten Stationen gerade in Ihrer Pubertät, als Sie sich gegen die Erwachsenenwelt aufgelehnt haben?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich nach den Beweggründen gefragt werde, warum ich eigentlich Politik mache, denn ich hätte ja auch anderes machen können in meinem Leben und ich werde eines Tages auch anderes machen, dann sage ich immer: Das ist ein Seil mit 1000 Fäden. Das heißt, man sieht das Seil, aber man sieht die Fäden nicht mehr, denn diese sind ja im fertigen Seil verwoben. Mein Leben besteht also aus einem dicken Seil mit Hunderten von Fäden. Einer dieser Fäden besteht in der Tatsache, dass mein Vater Stahlarbeiter gewesen ist. Erst später ist er Angestellter in einem Luxemburger Stahlwerk geworden. Als ich Kind war, wohnten wir in einer Stahlarbeitersiedlung. Ich muss sagen, ich würde heute noch gerne dort wohnen. Als Bub habe ich es dort erlebt, dass mein Vater abends seine Gewerkschaftsfreunde bei uns in der Küche versammelt hat. Dabei wurde über die Probleme im Werk gesprochen, über Kaffeepausen, über Brotpausen, über die Schichtwechsel und darüber, wie man sie anders organisieren könnte und so weiter. Dabei hatte ich als Heranwachsender das Gefühl, dass da nicht viel passiert. Wir wohnten ja auch nur 300, 400 Meter entfernt von den ersten Hochöfen. Aber diese Ansicht damals von mir war nicht gerecht: Man denkt ja immer, diese kleinen Dinge wären nicht wichtig, aber in Wirklichkeit ist es so, dass sie für die Menschen, die unter ihnen leiden oder sich an ihnen erfreuen, lebensbestimmend sind. Ich bin also schon sehr früh – eigentlich sollte ich das Folgende gar nicht sagen, weil meine politischen Nicht-Freunde das sicherlich schamlos ausnutzen werden – mit der kleinen lokalen Ungerechtigkeit, die es gibt, konfrontiert worden. Wenn ich heute über die Dinge des Landes und des Kontinents und der Welt nachdenke, dann habe ich das Gefühl, dass wir immer noch mit der Summe von kleinen Ungerechtigkeiten konfrontiert sind, die die großen Ungerechtigkeiten eigentlich erst möglich machen – und sie auch erklären. Dass ich damals zuhören durfte, als mein Vater mit seinen Gewerkschaftsbrüdern über die Schichtarbeit und vor allem über die Nachtarbeit gesprochen und gestritten hat, hat mich geprägt. Damals gab es in Luxemburg noch etwas, das man "die lange Schicht" genannt hat: Da mussten die Stahlarbeiter 16 Stunden ohne Unterbrechung arbeiten. Heute kann sich das niemand mehr vorstellen! Dass ich das alles mitbekommen habe, hat mich tatsächlich sehr geprägt. Ich war im Übrigen bereits Mitglied der Christlichen Gewerkschaft Luxemburgs, bevor ich Parteimitglied geworden bin, weil es mich zwar nicht fasziniert, aber doch positiv gestimmt hat, dass es viele gibt, die daran arbeiten, dass die Dinge besser werden. Ich halte also Politik – und damit wäre ich nun bei meinem dritten pathetischen Satz in unserem Gespräch – gegen die kleinen Leute für ein Unding. Man kann nicht gegen die kleinen Leute regieren: Man muss den kleinen Leuten manchmal sehr viel zumuten, das stimmt, aber sie sind nicht blöder als die anderen.

Werner Reuß: Aber ist die Politik heute nicht doch sehr, sehr komplex geworden? Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich immer gefragt haben, ob Sie Ihr Vater verstehen würde. Dies hat natürlich sehr viel mit der Frage nach Politikvermittlung zu tun, also mit der Frage, ob man Politik in einer immer komplexer werdenden Welt noch verständlich machen kann. Die Politik macht sich aber auch oft selbst sehr kompliziert, wenn man an die Europapolitik denkt, wenn man an die nationale Politik denkt. Es gibt diesen schönen Satz von Joseph Joubert, der einmal gesagt hat: "Politik ist die Kunst, die Menge zu leiten: nicht wohin sie gehen will, sondern wohin sie gehen soll." Das ist selbstverständlich auch ein gefährlich klingender Satz. Wie sehen Sie das?

Jean-Claude Juncker: Es ist wahr, dass ich im Europäischen Rat im Kreise der Regierungschefs schon manches Mal gesagt habe: "Erkläre mir das bitte noch einmal, denn mein Vater versteht das so nicht." Damit stelle ich nicht die intellektuelle Auffassungsgabe meines Vaters infrage, sondern ich meine die Art und Weise, wie wir Politik machen, wie wir sie beschreiben, wie wir Entwürfe in Sprache kleiden. Da sollte man nämlich schon darauf achten, dass man sich klar ausdrückt. Ich bin nicht dagegen, dass man kompliziert denkt. Ich bin dafür, dass man kompliziert denkt, aber einfach redet. Ich bin dagegen, dass man kompliziert redet und einfach denkt. Politik muss also vermittelbar und verständlich sein und bleiben. Das Zitat von Joubert gefällt mir und gefällt mir nicht, weil es uns, wie Sie selbst andeuteten, auch auf gefährliche Bahnen lenken kann. Man muss in der Politik führen, aber man darf nicht führungslos führen: Man muss zielorientiert führen und auch sagen, wohin man die Menschen bewegen möchte. Ich selbst bin zum Beispiel allergisch gegen Demoskopie, denn ich halte sehr wenig davon: nicht nur von politischen Meinungsumfragen, sondern auch von der Tatsache, dass in vielen Bereichen die Politik heute das Ergebnis von demoskopischen Umfragen geworden ist. Nein, ich halte so etwas nicht für Politik, Politik besteht nicht darin, dass man dem Volk nachrennt. Ich sage immer: Wenn man den Menschen immer nur hinterher rennt, dann sieht man ihnen nie ins Gesicht. Das heißt, man muss sich den Menschen auch manchmal in den Weg stellen und von Angesicht zu Angesicht, also face to face argumentieren. Es gibt einen schönen kleinen Aufsatz von Max Frisch, der sich "Das Bedürfnis nach Führung" nennt. Dort beschreibt er, dass es auch bei den Menschen dieses fast schon natürliche Verlangen nach Hinweisschildern gibt. Er drückt das nicht in diesen Worten aus, ich paraphrasiere ihn hier ein wenig. Mir kommt es also sehr darauf an – obwohl ich das auch nicht immer zu Hundert Prozent einhalten kann – zu sagen, was ist und wohin es geht. Und wenn ich meine Meinung ändere – das kommt vor und das muss ja auch vorkommen dürfen –, dann sage ich auch, dass ich meine Meinung aus folgenden Gründen geändert habe. Man darf in der Politik seine Meinung nicht permanent ändern, das wäre das Gegenteil von Führung. Aber zur Führung gehört auch "Kurvenbeschreibung".

Werner Reuß: Sie haben nach dem Abitur Jura studiert – lustlos, wie ich irgendwo gelesen habe.

Jean-Claude Juncker: Ja, das war so.

Werner Reuß: Sie wurden dann Fraktionssekretär der Christlich-Sozialen Volkspartei. Drei Jahre später, also 1982, wurden Sie mit 28 Jahren bereits zum Staatssekretär für Arbeit und soziale Sicherheit berufen. Die Politik klingt oft sehr abgehoben, aber letztlich hat die Politik doch auch immer sehr viel mit Menschen zu tun, mit den Menschen, für die man arbeitet. Ich habe eine Geschichte gelesen, von der ich nicht weiß, ob sie stimmt. Eine Ihrer ersten Amtshandlungen als Minister soll darin bestanden haben, ein Dekret zur Frühverrentung von 100 Stahlkochern unterschrieben zu haben; auf dieser Liste soll auch der Name Ihres Vaters gestanden haben. War das ein bewegender Moment für Sie?

Jean-Claude Juncker: Ja, schon, als ich das entdeckte. Denn wenn man als so junger Mensch erst kurz im Ministeramt ist, dann liest man wirklich, was auf dem eigenen Schreibtisch landet. Später macht man das nicht mehr so, was dann aber dazu führen kann, dass man für Dinge zur Verantwortung gezogen wird, die man einfach nicht gelesen hat. Ich habe mir also diese Namen durchgelesen und finde dabei den Namen meines Vaters. Ja, das hat mich dann schon sehr bewegt, weil so etwas doch selten vorkommt: dass man den eigenen Vater frühverrentet. Die Stahlkocher damals haben das auch gar nicht gemocht, dass sie in den Vorruhestand geschickt wurden. Heute hingegen schlagen sich die Leute ja sogar die Köpfe ein, um möglichst schnell und früh in Vorruhestand gehen zu können. Damals haben es die Menschen jedoch als Beleidigung ihres Lebenswerkes empfunden, dass sie frühverrentet werden. Manchmal kombiniert sich eben Politik tatsächlich mit Familiengeschichte. Aber wahr ist, dass ich lustlos Jura studiert habe, was ich doch noch besonders unterstreichen möchte. Denn eigentlich hatte ich ja Germanistik studieren wollen. Deswegen habe ich mich auch in der Straßburger Rechtsfakultät eingeschrieben: Ich dachte mir, das ist so eine Grenzstadt zwischen Frankreich und Deutschland und dort würde mir sozusagen noch so ein bisschen deutscher Wind um die Ohren wehen. Ich habe die Kurse in Jura so besucht, dass es besser ist, wenn ich das hier nicht beschreibe, denn das wäre wirklich kein gutes Beispiel für jüngere Menschen. Ich habe viel bei anderen abgeschrieben, die tatsächlich in die Vorlesungen gingen, während ich dort nur sehr selten anzutreffen war. Denn in dieser Zeit war ich sonst wo beschäftigt: Ich machte zum Beispiel bereits ein bisschen Politik. Als freier Zuhörer habe ich hingegen die Kurse in der literarischen Fakultät der Universität Straßburg belegt, vornehmlich zur deutschen Romantik und deren Folgen. Deswegen halte ich diese Jahre auch nicht für verlorene Jahre: Nein, ich habe mehr mitbekommen als alle anderen, weil ich mich eben nicht nur auf Jura konzentriert habe. Ich bin sozusagen erst Jurist geworden, nachdem ich es schon war.

Werner Reuß: Mit Blick auf die Uhr gehe ich jetzt ein wenig im Zeitraffer voran. 1984 wurden Sie in die Abgeordnetenkammer gewählt, 1985 wurden Sie Arbeitsminister, 1989 in Personalunion auch noch Finanzminister. Sie waren dann auch fünf Jahre lang Präsident Ihrer Partei, der Christlich- Sozialen Volkspartei. 1995 wurden Sie Premierminister in Luxemburg. Sie behielten dabei zunächst ihre bisherigen Ämter bei, das heißt, Sie waren zu Beginn in Personalunion Premierminister, Arbeitsminister und Finanzminister. Wie schafft man das in Personalunion? Kommt man da nicht auch gelegentlich in Interessenkonflikte, weil zum Beispiel der Finanzminister etwas anderes möchte als der Premierminister?

Jean-Claude Juncker: Sie überspringen die Zeit jetzt aber sehr schnell. Ich kann Ihnen nämlich sagen, dass mir nichts lieber war, als diese 17 Jahre, in denen ich Arbeitsminister gewesen bin. Denn was man da tut, hat mit den sehr konkreten Lebensbedingungen der Menschen zu tun. Man hat jeden Tag, jede Stunde, ja fast jede Minute das Gefühl: "Ich mache jetzt etwas, das den Menschen dient. Oder ich muss den Menschen erklären, dass es nicht so geht, wie sie das gerne hätten." Ich habe dieses Ministeramt jedenfalls mit Leidenschaft betrieben und bin es deswegen auch geblieben, als ich Premierminister wurde. Ich habe das alles so umorganisiert, dass das alles vom Tagesablauf her auch wirklich zu gestalten war. Im Amt des Premierministers habe ich zum Beispiel viele Zuständigkeiten ausgesondert: Ich habe auch einen Haushaltsminister hinzugenommen, um als Finanzminister nicht überbelastet zu sein. Ich war 20 Jahre Finanzminister und davon 15 Jahre Finanzminister und Premierminister. Diese Zeit habe ich sehr genossen, weil das in der Summe eigentlich das Ergebnis meiner mir natürlich anhaftenden Faulheit war. Premierminister in Europa verlieren unwahrscheinlich viel Zeit – das gilt übrigens auch für Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen –, sich mit ihrem Finanzminister über die einzuschlagenden Wege zu verständigen. Ich weiß einfach, dass sich eine Menge Finanzminister sehr über die viele Zeit ärgern, die sie mit den "Chefgesprächen" vertrödeln. Da ich das aufgrund der Schilderungen anderer gewusst habe, habe ich mir damals gedacht: Ich mache lieber beides, dann rede ich mit mir selbst und wir setzen uns dann so oder so immer durch.

Werner Reuß: Sie selbst haben es immer abgelehnt, als Konservativer bezeichnet zu werden, wenn ich das richtig gelesen habe.

Jean-Claude Juncker: Ja, das stimmt.

Werner Reuß: Sie haben einmal, was mich sehr amüsiert, gesagt, Sie seien politisch gesehen eine fast ökumenische Gestalt. Dennoch: Wo würden Sie sich denn im politischen Spektrum selbst einordnen? Die Medien neigen ja immer dazu, die Politiker auch diesbezüglich mit einem Etikett zu versehen.

Jean-Claude Juncker: Ich bin ja kein Journalist und befrage die Menschen, also neige ich nicht zu beleidigenden Vereinfachungen. Ich halte sehr wenig von dieser Kategorisierung in Links, Mitte und Rechts. Ich kenne viele, die links sind, und dennoch empfinde ich mich als jemanden, der andauernd links auf der Überholspur unterwegs ist. Ich kann mich zum Beispiel daran erinnern, als ich Tony Blair zum ersten Mal getroffen habe: Das war eine Woche nach seiner Ernennung zum britischen Premierminister. Er sagte zu mir: "Sie haben ja sicherlich Vorstellungen über das soziale Europa." Also habe ich ihm daraufhin meine Vorstellungen eines sozialen Europa geschildert. Daraufhin meinte er zu mir: "Das klingt aber sehr alt-Labour-mäßig!" Ich stand und stehe also links von Tony Blair, um das trotz meiner Abneigung solchen Kategorien gegenüber einmal etwas vereinfachend darzustellen. Das Wort "konservativ" ist ja in Deutschland auch kein Schimpfwort: Die CDU, also meine Freunde im deutschen Parteienspektrum, beschreiben sich als liberal, sozial und konservativ. Aber ich mag das Wort "konservativ" trotzdem nicht, denn ich bin einfach kein Konservierer. Ich bin jemand, der sehr wohl das, was sich bewährt hat, auch fortführen möchte – aber nur dann, wenn ich das auch überprüft habe. Ich bin auch sehr für innovatives Denken, für das Bereichern des eigenen Denkens durch neue Einsichten, die man sich im Gespräch mit Andersdenkenden zu eigen machen kann. Wenn man mich also einfach als Konservativen abstempelt, dann mag ich das nicht so sehr, denn ich kenne dafür die Sozialisten zu gut.

Werner Reuß: Sie gelten als Brückenbauer in Europa: Erwähnt sei hier als Beispiel der Stabilitätspakt, den Sie in einer schwierigen Situation dann doch durchsetzen konnten, als sich die Verhandlungen zwischen den Deutschen und Franzosen ein bisschen verhakt hatten. Die Presse nannte Sie dann hinterher den "Helden von Dublin". Aber Sie gelten auch als jemand, der sich nicht hinter diplomatischen Floskeln versteckt und eine deutliche Sprache spricht. Bei einem Luxemburger Gipfel im Jahr 1997 haben Sie z.B. etwas ausgesprochen, das viele dachten, aber nur wenige sagten: Sie haben über den Wunsch der Türkei, der EU beizutreten, gesagt, der Türkei fehle die demokratische Reife. Und Sie haben auch gesagt: "Es kann nicht sein, dass am Tisch der Europäischen Union Vertreter eines Landes sitzen, in dem noch gefoltert wird." Es gab daraufhin heftige Reaktionen, natürlichm auch aus der Türkei: Man hat der Europäischen Union vorgeworfen, sie sei ein "Christenklub". Ich will da mal ein wenig provozierend nachfragen: Ist es nicht doch auch ein bisschen richtig, dass die Traditionen und Werte, die wir hier vertreten, auf dem Christentum basieren?

Jean-Claude Juncker: Ich bin niemand, der dem energisch widersprechen würde. Ich bin schon der Meinung, dass das Europa, das wir kennen – in seinen Denkstrukturen, in seinen Benimmformen und so weiter – sehr wesentlich mit jüdisch-christlicher und abendländischer Prägung zu tun hat. Dazu gehört aber eben auch die Offenheit des Geistes, denn das ist auch eine christliche Tugend. Die christliche Gemeinschaft versammelt ja nicht nur Menschen, die nach innen schauen und frömmelnd in die Zukunft schreiten, sondern zum Christentum gehört auch die Liebe anderen gegenüber, die man weniger gut kennt, die einem manchmal sogar Angst machen, die Furcht einflößend sind. Zum Brücken Bauen gehört es auch, Schnittmengen mit anderen Kulturen herzustellen, ohne dabei die eigene Identität aufgeben zu müssen. Ich habe mich, da Sie das erwähnt haben, 1997 sehr gegen den damals von der Türkei aktiv betriebenen Wunsch nach Mitgliedschaft in der EU ausgesprochen, weil in der Türkei damals noch gefoltert wurde, weil es in der Türkei keine Rechte für kulturelle Minderheiten gab. Das hat sich in der Zwischenzeit aber alles zum Besseren gewendet, sodass ich heute der Meinung bin, wir sollten nun mit den Türken offen reden. Aber das hat mir damals in der Tat viel Ärger eingebracht: Ich habe deswegen noch eine relativ lebendige Erinnerung daran, weil ich daraufhin auch mehrere Morddrohungen von in Deutschland lebenden Türken bekommen habe. Aber im Regelfall gehört zu meinem Politikverständnis auch die klare Sprache: Man muss sagen, warum man für etwas oder warum man gegen etwas ist. Ich war damals gegen einen schnellen Beitritt der Türkei – gegen den bin ich im Übrigen immer noch bin, aber aus anderen, eher wirtschaftlich gepolten Gründen –, weil die Türkei einfach nicht die Minimalreife in Sachen Demokratie hatte. Und wenn ich das so sehe, dann muss ich das auch so sagen dürfen. Ich finde sogar, man muss das dann auch sagen. Ich würde das heute über die Türkei so nicht mehr formulieren, aber auf die damalige Türkei hat es gepasst.

Werner Reuß: Sie haben in Europa viele Höhen und Tiefen erlebt, Sie sind inzwischen sogar dienstältester Regierungschef in Europa. Im Jahr 2005 hatten Sie zum zweiten Mal den EU-Ratsvorsitz inne. Das war auch ein ganz schwieriger Vorsitz. Denn in zwei Ländern, in den Niederlanden und auch in Frankreich, wurde in Referenden der damalige Entwurf der EU-Verfassung abgelehnt. Auch ein Krisengipfel, so wurde es damals zumindest in der Presse dargestellt, scheiterte, als es um die langfristige Finanzplanung ging. Sie haben daraufhin von einer sehr tiefen Krise der EU gesprochen. Gibt es denn, wenn man diesbezüglich so viele Höhen und Tiefen erlebt hat, auch mal Momente, in denen man Lust hat, das Ganze hinzuwerfen?

Jean-Claude Juncker: Ja und nein. Ja, weil man eben auch Momente bitterer Enttäuschung erlebt, weil andere nicht fähig sind, sich in die richtige Richtung zu bewegen. Ich habe im Juni 2005 einen Gipfel über europäische Finanzperspektiven geleitet, bei dem die Briten und einige wenige andere sich gegen meinen Kompromissvorschlag aussprachen, während sich gerade alle neuen Länder der Europäischen Union sehr energisch dafür aussprachen. Das waren und sind ja immer noch ärmere Länder als die Länder in unserem Teil des europäischen Kontinents. Sie wären mit weniger Geld zufrieden gewesen als mit dem Geldvolumen, das man ihnen zunächst angeboten hatte. Deswegen habe ich dann den Briten, Italienern und Niederländern gesagt: "Also bitte, wenn ihr so arm seid, dann geben wir euch dieses Geld und geben es nicht den neuen Beitrittsländern." Trotzdem haben die Engländer, Italiener und Niederländer Nein zu meinem Kompromissvorschlag gesagt. Da denkt man sich dann schon: Hier geht es nicht mehr um die Sache, hier geht es nur noch um die eigene Positionierung, um den eigenen Glanz, um die gute Figur, die man auf dem nationalen Laufsteg machen kann, wenn man aus Brüssel zurückkommt und sagen kann: "Ich habe verhindert, dass …" Das ist dieser europäische Kindergarten, den man ja auch in diesen Wochen wieder erlebt hat. Da möchte man dann schon hinschmeißen. Aber ich sage mir dann wie zum Beispiel jetzt bei der Benennung der europäischen Spitzenpositionen immer wieder, dass Europa halt doch wichtiger ist als die Personen. Man darf sich also nicht für das halten, wofür andere Leute einen halten.

Werner Reuß: 1982 wurden Sie als Staatssekretär berufen, Sie traten also mit 28 Jahren in die Regierung ein. Nun gehören Sie seit fast 30 Jahren der Regierung von Luxemburg in hohen und höchsten Ämtern an. Sie haben einmal gesagt: "Mit 28 Jahren bin ich in die Regierung gekommen. Seither habe ich weniger Freude an den Dingen des Lebens, an denen sich andere Menschen erfreuen." Oberflächlich betrachtet könnte man das als Ausdruck von Amtsmüdigkeit bezeichnen, wenn man genauer hinschaut, könnte man das auch als nachdenklich bezeichnen. Kommt einem das persönliche Glück ein wenig abhanden durch das politische Geschäft, das ja den ganzen Menschen und vor allem die ganze Zeit des Menschen absorbiert?

Jean-Claude Juncker: Entgegen dem, was man so gemeinhin denkt, sucht man sich ja eigene Lebenswege nicht völlig losgelöst von den Einflüssen anderer Menschen aus. Ich bin mit 28 Jahren in die Regierung berufen worden, obwohl das gar nicht Bestandteil meines Lebensplans gewesen ist. Ich hatte mir nämlich immer gedacht – man denkt und ein anderer lenkt! –, ich müsste erst einmal einen schönen bürgerlichen Beruf bekleiden und dort etwas schaffen, was Bestand hat. Erst dann, wenn ich in diesem bürgerlichen Beruf wirklich gut gewesen bin, würde mich dann irgendwann der Ruf ereilen, in ein Kabinett einzutreten. Das war aber nicht so. Ich bin damals als junger, unerfahrener Mensch gefragt worden. Ich konnte natürlich Nein sagen oder Ja. Ich habe Ja gesagt, weil ich mir gedacht habe, dass ich dieses Amt höchstens 18 Monate oder zwei Jahre innehaben werde, weil dann Neuwahlen kommen. Ich bin aber immer wieder wiedergewählt worden. Das ist selbstverständlich gut und spricht eben auch für die Klugheit der Luxemburger. (lacht) Seit ich das bin, habe ich andere Glücksquellen als meine Bekannten, Freunde oder ehemaligen Schulkameraden. Ich muss versuchen, mich an dem zu erfreuen, was ich tue und was ich in einem 15-, 16-Stunden-Tag machen kann. Ich würde zum Beispiel gerne viel mehr lesen, obwohl ich ohnehin schon sehr viel lese. Ich würde gerne öfter ins Theater oder ins Kino gehen, ich hätte gerne mehr Zeit für Familie und Freunde. Aber ich habe diese Zeit nicht. Nun beklage ich mich aber nicht darüber, denn ich habe das ja selbst so gewollt, indem ich nicht Nein gesagt habe, als ich die Möglichkeit gehabt hätte, Nein zu sagen. Ich beklage mich also nicht darüber. Ich bin im Übrigen angesichts einer grassierenden Massenarbeitslosigkeit, die sogar noch steigen wird, der Meinung, dass diejenigen, die viel zu tun haben, sich nicht beklagen sollten. Ich glaube, ein Recht auf Klage haben nur diejenigen, die nichts zu tun haben.

Werner Reuß: Sie haben auch Grenzerfahrungen gemacht: 1989 hatten Sie einen sehr schweren Autounfall. Wenn ich es richtig nachgelesen habe, lagen Sie zwei Wochen lang im Koma.

Jean-Claude Juncker: Ich kann mich daran nicht erinnern!

Werner Reuß: Sie haben damals gesagt: "Ich habe hinter die Gardinen geschaut, ich habe den Abgrund gesehen und das ist ein tiefes Erlebnis." Wird man nach solch einem einschneidenden Erlebnis ein bisschen nachdenklicher, wenn man die Endlichkeit des eigenen Seins vor Augen geführt bekommen hat? Wird man gelassener? Ist einem dann manches nicht mehr ganz so wichtig?

Jean-Claude Juncker: Man weiß ja um die eigene Endlichkeit, aber man begegnet dieser Erfahrung nur selten. Ich habe das erlebt: Ich bin am 9. November 1989 aus dem Koma erwacht, also am Tag des Falls der Mauer. Ich bin allerdings nicht der einzige der deutschen Sprache mächtige Mensch, der die deutsche Einheit regelrecht verpennt hat, da gibt es noch viele andere. Ja, man wird anders, obwohl man im Detail gar nicht beschreiben kann, wo und wie man anders wird. Aber gelassener wird man auf jeden Fall, wenn man einmal in den Abgrund geblickt hat. Ja, danach hat man mehr Freude am Himmel.

Werner Reuß: Ich darf noch einmal zum Thema "Europa" kommen. Sie sind ein leidenschaftlicher Verfechter der europäischen Einigung. Der "Spiegel" nannte Sie einmal den "Vordenker und Antreiber Europas". Vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl stammt der Satz: "Das Gelingen des europäischen Einigungswerkes ist letztendlich eine Frage von Krieg und Frieden." Sie selbst haben einmal gesagt: "Wer zweifelt an Europa, wer an Europa verzweifelt, der sollte die Soldatenfriedhöfe besuchen." Das klingt aus heutiger Sicht für viele junge Menschen etwas pathetisch. Dennoch: Ist aus Ihrer Sicht die europäische Einigung nach wie vor eine Frage von Krieg und Frieden?

Jean-Claude Juncker: Junge Menschen besuchen ja nur selten Soldatenfriedhöfe. Ich hingegen mache das manchmal, weil ich dabei gelegentlich Reden halten muss. Aber ich gehe auch so ab und zu mal auf Soldatenfriedhöfe. Man muss sich dabei die Inschriften auf den Gräbern und Gedenktafeln anschauen: Die Zahl der 17- bis 19-Jährigen ist erschreckend hoch! Und das waren ja keine Überzeugungstäter – noch nicht einmal Täter. Nein, diese jungen Männer, die dabei regelrecht verbrannt wurden, deren Träume und Hoffnungen zerstört und deren Zukunft ausgelöscht wurde, waren lediglich Werkzeuge in den Händen anderer. Das ist wirklich ein Thema, das mich bewegt. Denn man denkt ja, der Frieden in Europa sei eine selbstverständliche Angelegenheit. Dem ist aber nicht so. Erst vor knapp zehn Jahren noch hat man auf dem Balkan gemordet, hat man im Kosovo vergewaltigt und Kinder verschleppt, wurden schwangere Frauen nach Vergewaltigungen brutalst von den Babys in ihren Bäuchen getrennt. Wissen Sie, das war ja nicht an einem anderen Ende der Welt: Das war gerade einmal eineinhalb Flugstunden von hier entfernt. Das heißt, diese Frage, diese dramatische europäische Frage, ob wir unsere Konflikte mit militärischen und ergo ungerechten und ergo menschenverachtenden Mitteln lösen wollen oder ob wir das auf zivilisierte Art und Weise auf dem Wege des Gesprächs und der ständigen Suche nach Kompromissen zu lösen versuchen, ist ein Thema, das bestehen bleibt. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die diesbezüglich blauäugig in die Zukunft schauen, denn dafür erlebe ich zu oft die Fragilität Europas. Diese Fragilität tritt nämlich sofort zutage, wenn gegensätzliche nationale Ansichten aufeinanderprallen: Da wird Geschichte plötzlich wieder sehr wach. Da muss man sehr hellhörig sein und sehr genau zuhören, um zu erkennen: Da ist immer noch etwas, das eher in die Richtung des Trennenden zeigt als in die Richtung des Verbindenden. Deshalb ist das für mich ein Thema, das ein Thema bleiben wird. Es ist heute nicht vorstellbar, dass es zum Beispiel zwischen Frankreich und Deutschland noch einmal einen Krieg geben könnte, aber dass Staatenlenker zu einfachen, zu schnellen Lösungen neigen, zu diesem Grundreflex des politischen Wesens, ist nicht völlig entfernt worden aus unserer Art und Weise, Konflikte zu denken und zu lösen. Deshalb muss man wachsam sein. Ich sage daher mit Brecht: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch."

Werner Reuß: "Jean-Claude Juncker gehört zu der seltener werdenden Spezies der Europapolitiker, welche die Integration als politische Aufgabe definieren, die sich ökonomischer Mittel bedient", schrieb die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" über Sie. Nun haben wir ja einen tollen Binnenmarkt, eine gemeinsame Währung, wir können reisen. Das ist eine Annehmlichkeit, die sehr viele Menschen genießen. Allerdings ist Europa in den Köpfen der Menschen nach wie vor eine Wirtschaftsgemeinschaft und keine politische Gemeinschaft. Der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer meinte einmal: "Der Nationalstaat mit seinen kulturellen und demokratischen Traditionen ist für die Menschen in allen europäischen Ländern der primäre Träger von Identität." Ist das nach wie vor auch aus Ihrer Sicht so? Wie kann man das ändern? Gibt es ein demokratisches europäisches Bewusstsein?

Jean-Claude Juncker: Das ist so und ich weiß auch gar nicht, wieso man das unbedingt ändern müsste. Ich war nie der Auffassung und habe mir auch nicht die Wortwahl zu eigen gemacht, dass wir in Europa so etwas bräuchten wie die Vereinigten Staaten von Europa. Wir sind nicht wie die Amerikaner, wir haben eine völlig andere Geschichte, eine völlig andere Identitätsstiftung, und zwar in allen unseren europäischen Ländern. Ich bin weiß Gott ein überzeugter Europäer, aber ich bin auch Luxemburger: Ich habe das Recht auf unmittelbare Nähe zu Luxemburg, denn ich mag doch mein Land! Ich bin aber kein Nationalist, bin schon deswegen kein Nationalist, weil es mir wichtig ist, dass dem feindseligen Nationalismus gegenüber anderen Nationen die Spitze abgebrochen wird. Ich bin jedoch Patriot und ich sage daher, dass der Patriotismus des 21. Jahrhunderts zweipolig ist: Als Verlängerung der Tugenden des eigenen Landes gehört immer auch die europäische Dimension mit dazu! Aber wer denkt, dass wir aus Europa einen einzigartigen, gewaltigen, gigantischen Schmelztiegel machen könnten, in dem alles Regionale und Nationale aufgesogen und zum Absterben gebracht wird, der weiß von den Menschen in Europa sehr wenig. Ich wüsste gerne, wie viele Menschen diesen Sender hier noch einschalten würden, wenn dieses Programm nicht mehr BR-alpha, sondern Europa-alpha hieße. Sie hätten bestimmt keine Zuschauer mehr, weil die Menschen das brauchen, was ich als unmittelbare Nähe beschreibe. Diese Nähe ist Inspirationsquelle für das, was man selbst ist, und sie ist auch ein Förderinstrument für das, was man gemeinsam mit anderen sein möchte. Aber nur noch anders zu sein, als man selbst ist, würde ins europäische Chaos führen. Zu viel Europa tötet Europa, nicht genug Europa macht es unmöglich!

Werner Reuß: Ein wunderschönes Schlusswort. Ich darf mich bei Ihnen, Herr Premierminister, ganz herzlich für das Gespräch bedanken. Ich möchte gerne, wenn Sie erlauben, mit einem kleinen Zitat über Sie enden.

Jean-Claude Juncker: Wenn es freundlich ist, dürfen Sie das.

Werner Reuß: Es stammt vom ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl, der einmal meinte: "Dass es Jean-Claude Juncker gibt, ist ein Glück für Europa. Er ist mit seinem Denken und Handeln, mit seiner freundlichen Art ein fester Positivposten der europäischen Politik. Und er ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass es nicht darauf ankommt, wie groß ein Land ist, aus dem man kommt. Es kommt vielmehr auf die Statur an, auf die Persönlichkeit und die Kompetenz." Dem ist nichts hinzuzufügen.

Jean-Claude Juncker: Nun, ich muss dem ja nicht unbedingt widersprechen, aufbegehrend widersprechen. Dass Helmut Kohl bei mir eine permanente Freundlichkeit entdeckt hat, spricht für den positiven Blick, den er stets auf mich geworfen hat.

Werner Reuß: Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Premierminister. Verehrte Zuschauer, das war unser alpha-Forum, heute mit dem Premierminister des Großherzogtums Luxemburg. Herzlichen Dank für Ihr Interesse, fürs Zuschauen und Zuhören und auf Wiedersehen.

© Bayerischer Rundfunk/08.12.2009

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