"Im Dienst der Menschen", Interview de fin d'année du Premier ministre Jean-Claude Juncker.

REVUE: Herr Staatsminister, diese Frage ist beim Interview zum Jahresende zu einem Ritual geworden. Was erwartet unser Land im nächsten Jahr?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: 2010 wird ein Übergangsjahr, bei dem sich die Weichenstellung auf den ersten Blick ziemlich schwierig gestaltet, je nachdem wie sich die Lage entwickelt. Wir hatten 2009 einen Wachstumsrückgang, bei dem im Vergleich zum Vorjahr 3,9 Prozent der wirtschaftlichen Kraft verloren ging. Das war hierzulande bis dahin eher ungewöhnlich. Es wird auch bis zum Jahr 2011 dauern, um wieder auf den Stand von 2007 zu gelangen. Deshalb wird 2010 ein Jahr intensiver Verhandlungen und multiformer Gespräche, wobei schwierige Entscheidungen gefällt werden müssen.

REVUE: Ist die Tripartite in ihrer typisch luxemburgischen Eigenart das richtige Instrument, um gegen die Auswirkungen einer weltweiten Krise anzugehen?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Das Modell hat allen Unkenrufen zum Trotz weder seinen Atem verloren noch seine Handlungsfähigkeit eingebüßt. Wir haben im schwierigen Jahr 2006 in diesem Gremium wichtige Entscheidungen ausgehandelt und durchgesetzt. In einer Krisensituation wie der gegenwärtigen muss die Tripartite wieder ihre ursprünglichen Aufgaben übernehmen.

REVUE:Und das wären?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Tripartitc wurde in den 70er Jahren für das Krisenmanagement erfunden und hat sich da auch bewährt. Bei späteren Tagungen wurde ihr das zum Vorwurf gemacht. Jetzt kann sie sich bewähren. Und das wird sie auch tun.

REVUE: Wir sind in der weltweiten Krise nur ein winziges Boot auf einer stürmischen See. Dabei ist unser nationales Krisenmanagement nur bedingt handlungsfähig.

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die gegenwärtige Krise wurde nicht von Luxemburg verursacht und ist auch nicht von hier ausgegangen. Sie ist jedoch hier angekommen und wir müssen wohl oder übel gegensteuern. Dies umso energischer, als eine internationale Finanzkrise wie die gegenwärtige viel schwieriger und langwieriger zu bekämpfen ist, als wirtschaftliche Probleme. Dennoch hat die Vergangenheit gezeigt, dass wir uns allein helfen können.

REVUE: Luxemburg ist eine Insel! Nach wie vor?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Wir müssen die internationale Lage im Blick behalten und mit unseren nationalen Möglichkeiten darauf reagieren. Wir haben die Krise nicht ausgelöst und können sie auch nicht lösen. Aber wir müssen das bestmögliche Kriseninstrumentarium haben, um gegenzusteuern. Wir müssen uns international über die Gründe einig werden, die zu dieser Krise geführt haben. National müssen wir abwägen, welche strukturellen Effekte die Krise hat und auch in Zukunft haben wird. Zusammen mit den Sozialpartnern werden wir die Lage analysieren. Und dann werden wir im Konsens die geeigneten Gegenmaßnahmen ergreifen.

REVUE: Wie muss man sich das konkret vorstellen?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Ich will den Gesprächen mit den Sozialpartnern nicht vorgreifen. Ich kann und will ihre Entscheidungen nicht durch übereilte und einseitige Stellungnahmen beeinflussen. Das wäre eine grobe Missachtung des Luxemburger Modells. Die Regierung ist nicht alleiniger Pilot auf dieser Linie und muss sich mit den Kopiloten absprechen, bevor sie startet.

REVUE: Der Pilot gibt zumindest die Richtung vor, in die er gehen will?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Regierung wird zum gegebenen Zeitpunkt Vorschläge auf den Tisch legen. Sie weiß, wo sie hin will.

REVUE: Ist es nicht aber doch Ihre - oder auch meine - Aufgabe, die Luxemburger auf das vorzubereiten, was sie erwartet. Zum Beispiel auf ein langsameres Wachstum und eine größere Arbeitslosigkeit?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Ich habe in der Vergangenheit immer wieder darauf hingewiesen, dass unser Land nicht mehr und nicht schneller wächst als alle anderen. Auch hier ging dieses Jahr alles langsamer. Wir hatten 2009 eine Rezession und werden diese erst 2011 überwinden. Deshalb müssen wir in den öffentlichen Finanzen eine Reihe Einsparungen vornehmen, denn wir können uns die derzeitigen Defizite auf Dauer nicht leisten. Wir dürfen in der gegenwärtigen Krise keine Schulden anhäufen, die noch die nachfolgenden Generationen belasten.

REVUE: Das ist eine deutlich andere Überlegung als in den Nachbarländern!

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Es ist jedoch das, was ich unter Generationenvertrag verstehe. Als meine Eltern seinerzeit ihr Haus kauften, haben sie zwar Geld geliehen, diese Schulden jedoch selbst wieder abbezahlt. Sie haben mich nicht damit belastet. Auch für den Staat gilt dieses Hausfrauenprinzip. Wir dürfen die künftigen Generationen nicht belasten. Die aktuelle Generation, die nun einmal in der Krise gelandet ist, muss auch deren Folgekosten tragen, um den kommenden Generationen die gleichen Chancen zu geben, die wir auch hatten.

REVUE: Auf die Gefahr hin, eine altmodische Politik zu betreiben. Viele moderne Familien verschulden sich über eine oder mehr Generationen!

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Das mag sein, aber das entspricht nicht meinem Verständnis. Noch sind die Schulden in Luxemburg nicht anormal hoch. Sie können jedoch sehr schnell ausarten. Das müssen wir verhindern, und dafür müssen wir uns einschränken, ohne jedoch am falschen Ende zu sparen.

REVUE: Wie ist das zu verstehen?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Staatsfinanzen haben sich im vergangenen Jahr ganz normal entwickelt, woraufhin sich das Budgetdefizit um vier Prozentpunkte verschlimmerte. Gleichzeitig lag das wirtschaftliche Wachstum in unserem Land nur bei knapp zwei Prozent. Das ist der Stoff, aus dem die Politik gemacht ist.

REVUE: Das verringerte Wachstum geht einher mit einer Arbeitslosigkeit, die wir zum größten Teil exportieren. Wir legen dar-über keine Rechenschaft ab!

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Arbeitslosigkeit wird in Luxemburg noch weiter ansteigen, selbst wenn sich die Wirtschaft erholt. Persönlich geht mir das Schicksal der Menschen, die hierzulande ihre Arbeit verlieren, nahe. Ich mache keinen Unterschied zwischen denen, die hier wohnen und denen, die aus dem Grenzgebiet kommen. Bei der Analyse des Arbeitsmarktes muss man alle Menschen berücksichtigen, auch Ausländer und Grenzgänger, sonst ergibt sich ein falsches Bild.

REVUE: Wobei man jedoch in Betracht ziehen muss, dass sich der Arbeitsmarkt hierzulande in den letzten zehn Jahren rasant entwickelt hat.

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Mehr als überall sonst in der Welt. 2010 wird jedoch eine negative Entwicklung erwartet. Außerdem wird es lange dauern, bis wir wieder das mehrjährige Wirtschaftswachstum von vier Prozent haben werden, das wir brauchen, um die Renten und Pensionen zu garantieren. Wenn wir zu lange unter dieser Wachstumsquote bleiben, dann sind diese infrage gestellt. Damit müssen wir uns wohl oder übel auch beschäftigen.

REVUE: Das tun wir jedoch nicht gerne.

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Das ist aber falsch. Gerade unsere Generation, die nie größere Schwierigkeiten gekannt hat, die weder unter Krieg noch unter exzessiver Arbeitslosigkeit zu leiden hatte, muss jetzt längerfristig denken lernen, statt immer alles nur kurzfristig zu sehen. Die Geschichte eines Landes schreibt man nicht in Zeitblöcken von fünf Jahren, von Wahl zu Wahl. Die Geschichte atmet langfristiger. Die Politik muss sich diesem Rhythmus fügen.

REVUE: Hat sie das verlernt?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Nicht die Politik, sondern vor allem die Gesellschaft ist kurzsichtig geworden. Die Politik hat jedoch das Glück, einen gewissen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen zu können.

REVUE: Bei den jüngsten Budgetdebatten wurden wiederholt die Fonds angesprochen, über die Infrastrukturarbeiten finanziert wurden. Allmählich leeren sie sich...

JEAN-CLAUDE JUNCKER: En attendant haben diese Rücklagen uns über die Runden geholfen. Wir meistern die Krise besser als unsere Nachbarn, weil wir diese Reserven haben - den berühmten "Apel fir den Duuscht". Inzwischen wird der Apfel kleiner und der Durst größer.

REVUE: Ein Teil der Gelder, mit denen wir uns über Wasser halten konnten, kommen aus den Erträgen des Finanzplatzes. Dieser wird in den nächsten Jahren nicht mehr so viel abwerfen!

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Wir wissen seit 2001, dass wir unser Wachstum nicht ausschließlich am Finanzplatz orientieren dürfen, weil wir sonst zu anfällig sind. Das hat die Krise deutlich gezeigt. Der Finanzplatz weiß, dass er nicht mehr alles auf das Bankgeheimnis setzen darf. Das wurde übrigens auch in den letzten Jahren schon nicht mehr gemacht. Die Akteure erweiterten und vervielfältigten ihr Angebot. Das ist auch die Richtung für die Zukunft. Wir müssen hochwertige Finanzprodukte und ein genauso hochwertiges Know-how anbieten.

REVUE: Welches sind Ihre persönlichen Projekte für das nächste Jahr? Können Sie sich für die luxemburgische Politik noch begeistern?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Über meine persönlichen Projekte möchte ich nicht reden. Politisch bin ich nach wie vor ein begeisterter und begeisterungsfähiger Premier. Das luxemburgische Wachsen und Werden geht untrennbar einher mit der europäischen Entwicklung. Das von Luxemburg aus zu gestalten - bleibt eine Herausforderung, die ich gerne annehme.

REVUE: Tun Sie das auch, oder vielleicht gerade wegen der gegenwärtig schwierigen Umstände?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Ich traue mir vieles zu, aber doch nicht alles. Außerdem kann nicht einer allein alles retten. Erfahrung hilft allerdings bei diesem Gestaltungsprozess. Nationale und internationale Erfahrungen schärfen den Blick für das Wesentliche und für das Machbare.

REVUE: Kann man sich mehr zutrauen?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Es fällt kein Meister vom Himmel. Politik hat mit einem bestimmten Menschenund Gesellschaftsbild zu tun. Sie lebt von den Inspirationen, die man vermittelt und bekommt, genau wie vom handwerklichen Können, sprich Kenntnis der Akten und Probleme.

REVUE: Können Sie sich noch für die europäische Politik begeistern?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Selbstverständlich. Wie gesagt, ich glaube, dass Europa- und Nationalpolitik parallel verlaufen. Europa macht zwar hierzulande nicht alles möglich, gleichzeitig ist aber auch vieles nicht möglich, wenn Europa nicht funktioniert. Also muss man seine Zeit und seine Ideen zwischen den nationalen und den europäischen Vorgaben aufteilen. Das versuche ich zu tun.

REVUE: Europa hat Sie enttäuscht, daraus haben Sie keinen Hehl gemacht. Und doch scheinen Sie nicht nachtragend zu sein?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Ich glaube seit vielen Jahren an die europäische Integration. Ich glaube jedoch auch, dass kein Land, auch kein großes, allein noch zukunftsgestalterisch tätig sein kann. Kein Land kann mehr die Geschichte beeinflussen. Das können wir nur zusammen. Und deshalb darf keiner aus diesem kollektiven Unterfangen kneifen. Schon gar nicht aus persönlicher Enttäuschung. Das Recht hat man als Staatsminister nicht. Man hat jedoch die Pflicht, sein Bestes zur Stärkung des europäischen Kontinents beizutragen. Indem man die Beziehungen zu den Nachbarländern pflegt. Als Staatsminister hat man Pflichten und darf nicht eigenen Rückschlägen nachtrauern. Das wäre jedoch menschlich? Ich bin auch ein Mensch, mit Haut und Haaren. Ich bin jedoch ein Engagement eingegangen und will das erfüllen. Europa ist wichtiger als der Einzelne. Europa ist wichtiger als das persönliche Schicksal eines Einzelnen.

Dernière mise à jour