"Keine Basta Polititîk", Interview de fin d'année du Premier ministre Jean-Claude Juncker.

Luxemburger Wort: Der 7. Juni mit den Landeswahlen und der 19. November mit der EU-Präsidentenkür bleiben zwei wichtige Daten im politischen Jahr des Premierministers. Wie sehen Sie beide Ereignisse im Rückspiegel?

Jean-Claude Juncker: Über den Wahlausgang bin ich froh und zufrieden. Die CSV wurde in allen Bezirken, Alterskategorien und Berufsgruppen gut gewählt. Dies unterstreicht, dass sich die CSV als Volkspartei behaupten konnte. Der Wunsch, die CSV aus der Regierungsverantwortung zu wählen, ist nicht in Erfüllung gegangen. Das habe ich gut gefunden. Mit diesem Wählerauftrag steht die CSV nun in der Pflicht, sich mit Entschlossenheit den Herausforderungen zu stellen. Das Wahlergebnis ist eine Einladung zum Handeln und keine Entschuldigung für Nichtstun.

Luxemburger Wort: Und der 19. November ... ...

Jean-Claude Juncker: bedeutet für mich persönlich eine momentane Enttäuschung, ohne jedoch Spuren hinterlassen zu haben. Europa ist wichtiger als handelnde Personen. Im Übrigen ist das Amt des luxemburgischen Premierministers nicht Nichts und, in Kombination mit dem Amt des Eurogruppen-Chefs, trage ich auf dem europäischen Fußballfeld ein Trikot, das leicht erkennbar ist.

Luxemburger Wort: Als eine Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise wird im Frühjahr 2010 eine Tripartite einberufen. Die Meinungen der Sozialpartner liegen sehr weit auseinander. Wie erklären Sie sich diese sehr heftig geführten verbalen Auseinandersetzungen?

Jean-Claude Juncker: Das Gesprächsklima zwischen den Sozialpartnern ist wirklich nicht gut. In einer Zeit, in der es darum gehen sollte, möglichst eng als nationale Gemeinschaft zusammen zustehen, ist die aktuelle Polarisierung ein schlechtes Startzeichen für die Verhandlungsrunden, die 2010 anstehen. Weil die Fronten derartig verhärtet sind, werde ich die Sozialpartner im Januar zu Einzelgesprächen einbestellen. Die eigentliche Tripartite beginnt dann Ende Februar, Anfang März.

Luxemburger Wort: Welche Themen werden diese Tripartite bestimmen?

Jean-Claude Juncker: Nun, zuerst einmal muss Einvernehmen über die Bestandsaufnahme herrschen. Wir haben in diesem Jahr 3,9 Prozent an Wirtschaftskraft verloren und können für 2010 mit einem moderaten Wachstum rechnen - ohne jedoch an die Vier-Prozent-Marke heranzureichen, die wir für die Funktionsfähigkeit unserer Sozialsysteme benötigen. Als Konsequenz aus dieser Entwicklung hat die Regierung eine aktive Konjunkturpolitik praktiziert, die Luxemburg für 2009 und 2010 ein Haushaltsdefizit beschert. Demnach müssen wir die Staatsfinanzen in Ordnung bringen, um kommende Generationen nicht mit einem Defizit zu belasten und wir müssen uns um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes kümmern. Global und Branche für Branche.

Luxemburger Wort: Hat es nicht gerade ein kleines Land wie Luxemburg schwerer, sich im internationalen Wettbewerb zu behaupten und eben konkurrenzfähig zu bleiben?

Jean-Claude Juncker: Auch ein kleines Land hat seine Chancen. Es muss nur gelingen, die sich bietenden Möglichkeiten zielsicher auszumachen, ohne allzu große Risiken einzugehen. Konkret denke ich an den Bereich der Zukunftstechnologien und der angewandten Forschung. Wir sind nicht chancenlos.

Luxemburger Wort: Bei der letzten Tripartite dominierte die Beschäftigungspolitik, die u. a. zu Einheitsstatut und 5611 führte. Bei über 14 000 Stellensuchenden und Statec-Prognosen, denen zufolge die Erwerbslosigkeit über sieben Prozent ansteigen wird, dürfte die Arbeitsmarktpolitik auch 2010 eine zentrale Rolle spielen.

Jean-Claude Juncker: Die Arbeitslosigkeit wird 2010 weiter ansteigen, weil der Arbeitsmarkt immer mit etwas Verzögerung auf die wirtschaftliche Gesamtsituation reagiert. Der Beschäftigungspolitik wird also bei der Tripartite eine prioritäre Bedeutung zukommen. Wir müssen verhindern, dass es zur Massenarbeitslosigkeit kommt.

Luxemburger Wort: Vergleicht man diese Krise mit der Stahlkrise, vermisst man das Zusammengehörigkeitsgefühl von damals. Auch die Gutachten zum Staatshaushalt lassen ein sehr auf Eigeninteressen bezogenes Denken erkennen. Ist die Krise, sind die Ausmaße der Krise und die Tatsache, dass die Krise nur durch einen gemeinsamen Kraftakt zu meistern ist, noch nicht im Bewusstsein der Bürger angekommen?

Jean-Claude Juncker: Als ich im Zuge der Rettung der zwei luxemburgischen Traditionsbanken von einer schlimmeren Krise als der Stahlkrise sprach, wurde ich für meine Diagnose belächelt. Dem ist aber so. Die globale Krise ist in Luxemburg angekommen und eine Reorientierung drängt sich auf. Wir schaffen diesen Weg in eine andere Gestaltung unserer Zukunft aber nur, wenn wir Abstand nehmen von Gruppen-Egoismen, wie man sie in den Haushaltsgutachten wiederfindet. Es ist definitiv nicht der Moment für Basta-Politik, die in Sozialkonflikte mündet. Die Sozialpartner sind schlecht beraten, wenn sie sich in eine Auseinandersetzungskultur verlaufen.

Luxemburger Wort: Von der Krise betroffen war 2009 auch die Landwirtschaft. Die Landwirte mussten Einkommensverluste von bis zu 25 Prozent wegstecken, so dass die von Regierungsseite zugesagten 2,5 Millionen Euro wohl nicht ausreichen. Wie wird es für die Bauern weitergehen?

Jean-Claude Juncker: Die Kurzarbeiter und die Bauern sind sonder Zweifel die Personen, die zurzeit am meisten unter der Krise zu leiden haben. Was die Einkommensverluste der Bauern anbelangt, wird Landwirtschaftsminister Schneider zuerst Bilanz ziehen und dann werden wir 2010 genau überprüfen, welche zusätzliche Begleitmaßnahmen erforderlich sind und welche finanziellen Mittel wir für diese Maßnahmen brauchen werden. Ich halte die Situation in der Landwirtschaft nämlich in der Tat für sehr besorgniserregend.

Luxemburger Wort: Als Garant für den sozialen Frieden gilt die soziale Kohäsion. Einer Asti-Umfrage zufolge fühlen sich die ausländischen Mitbürger wohl in Luxemburg, daneben stößt der Doppelpass auf große Resonanz. Dennoch tun sich die Luxemburger schwer mit der Aussicht, das Wahlrecht für Ausländer zu erweitern. Ein soziales wie politisches Ungleichgewicht scheint vorprogrammiert.

Jean-Claude Juncker: Einer der Gründe, die doppelte Staatsbürgerschaft - ein im Kern nicht unumstrittenes Gesetz - einzuführen, bestand eben darin, Nicht-Luxemburgern die politische Beteiligung hierzulande zu ermöglichen. Ich gehöre nicht zu denjenigen, die das Wahlrecht für nicht-luxemburgische Staatsangehörige Hals über Kopf einführen wollen. Wir wollen aber prüfen, inwieweit eine Lockerung der Bestimmungen bei Europa und Gemeinderatswahlen durchführbar ist. Nimmt man dann noch das Wahlrecht für die Berufskammern, die Teil des legislativen Prozesses sind, hinzu, dann können ausländische Mitbürger ein direktes Ein- und Mitwirken in die politischen Prozesse in Anspruch nehmen. Es ist allerdings so, dass das Recht der Sozialwahlen in ungenügendem Maße genutzt wird. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass wir keine französische Debatte über unsere Identität importieren sollen.

Luxemburger Wort: In der Europäischen Union soll mit dem Vertrag von Lissabon, der seit dem 1. Dezember in Kraft ist, alles besser werden. Wann werden die Bürger in Europa etwas von dieser Verbesserung spüren?

Jean-Claude Juncker: Es ist eine naive Vorstellung, dass ein Vertrag, wenige Tage nachdem er in Kraft getreten ist, bereits seine volle Wirkung entfalten kann. Neben den Spitzenmandaten, die zu bekleiden waren, betrifft die wichtigste Änderung die Entscheidungsfindung in der EU. Vor allem das Mitspracherecht des Europaparlaments wird deutlich erweitert. Wir müssen nun erst einmal abwarten, welche Gesetzesinitiativen die EU-Kommission beschließt und wie der Ministerrat und das Parlament zu diesen Vorschlägen stehen. Die Welt wird sich nicht ändern, weil ein Vertrag in Kraft tritt. Die Welt wird sich erst dann verändern und Europa wird erst dann handlungsfähiger werden, wenn alle Akteure den politischen Willen aufbringen und alle Möglichkeiten des Vertrags voll ausschöpfen. Ohne den nötigen politischen Willen bleibt das Vertragswerk eine leere Worthülse. Bis das Werk orchestriert ist und alle Instrumente richtig gestimmt sind, wird es noch eine Weile dauern.

Luxemburger Wort: Um einen neuen Vertrag ging es auch beim letzten wichtigen Termin dieses Jahres in Kopenhagen. Muss man in Anbetracht des mageren Resultates nicht zur Schlussfolgerung gelangen, dass eine konstruktive multilaterale Politik in der Praxis zum Scheitern verurteilt ist?

Jean-Claude Juncker: Es stellt gewiss ein schwieriges Unterfangen dar, Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung zu organisieren. Es geht aber nicht anders. Die Antwort kann nicht darin bestehen, dass die wirtschaftlich starken Länder und die demografisch großen Staaten für den Rest der Welt entscheiden. Wobei es derartige Versuche beim Klimagipfel in Kopenhagen zur Genüge gab, was zu Frust und Enttäuschung bei vielen Teilnehmern führte. Wir kommen indes nicht umhin, angesichts eines deutlich sub-optimalen Konferenzresultates die Methode und die Choreografie zu hinterfragen. Und dann denke ich, sollte die Europäische Union, die bis dato in der Klimafrage die Führungsrolle beansprucht hat, eine neue Initiative hin zu einem für alle annehmbaren Ergebnis ergreifen.

Luxemburger Wort: Vor dem Klimagipfel hatte die EU die Initiative ergriffen und den Entwicklungsländern 7,2 Milliarden Euro Anschubhilfe bis 2012 in Aussicht gestellt. Die Frage, wo dieses Geld herkommen soll, blieb indes unbeantwortet, so dass u. a. Nichtregierungsorganisationen die Befürchtung haben, ein Teil dieses Geldes könnte von der klassischen Kooperationshilfe abgezweigt werden.

Jean-Claude Juncker: Ich muss eingestehen, dass ich nicht überblicke, welcher Anteil der 7,2 Milliarden Euro, die die EU-Staaten bis 2012 bereitstellen wollen, "alte" Gelder bzw. "neue" Gelder sind. Ich kann allerdings für Luxemburg behaupten, dass es nicht in Frage kommen wird, Klimapolitik auf Kosten der Kooperationspolitik zu betreiben und zu finanzieren. Es handelt sich hier um zwei globale Probleme, Unterentwicklung einerseits, Klimaentwicklung andererseits, wo es zu keiner Vermengung der Finanzmittel kommen darf.

Luxemburger Wort: Gegenüber RTL haben Sie unlängst gesagt, Sie würden sich zusehends über Dinge aufregen, die nicht so sind, wie sie sein sollten. Welche Dinge regen den luxemburgischen Premierminister denn auf?

Jean-Claude Juncker: Auf nationalem Plan regen mich beispielsweise Dinge auf, die zu einer Situationsungerechtigkeit führen. Probleme etwa, mit denen Jugendliche, besonders aber benachteiligte Jugendliche zu kämpfen haben, und für die wir keine wirklichen Lösungen parat haben. Auf internationaler Ebene macht mich die Beharrlichkeit zornig, mit der über absolute Notwendigkeiten hinweggesehen wird. Weltweit leidet eine Milliarde Menschen Hunger, alle sechs Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen von Unterernährung. Auf der anderen Seite wird manchmal ein Riesenaufwand um Einzelschicksale oder um einzelne Todesfälle veranstaltet. Zornig macht mich auch, dass in den Chefetagen einiger Banken wieder schamlos Boni verteilt werden, genauso, als wäre nichts passiert, als hätte es keine Finanzkrise gegeben. Die Gier und die Arroganz des Geldes regen mich furchtbar auf. Diese doppelte Geschwindigkeit - die einen gehen zum Arbeitsamt und die anderen greifen in die Kasse verträgt auf Dauer keine Gesellschaft. Wenn ich all dies beobachte und feststellen muss, dass nichts passiert, werde ich wütend. Ich werde aber auch wütend über mich selbst, weil ich glaube, dass ich mehr tun könnte.

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