Interview avec le Premier ministre Jean-Claude Juncker au sujet du Grand-Duché de Luxembourg et au sujet du processus européen

Ruth Jakoby: Helden sind heutzutage eher Mangelware. Wir haben in der kommenden Sendung Gelegenheit mit einem der seltenen Vertreter dieser Spezies zu sprechen, mit dem dienstältesten Premierminister der Europäischen Union, das ist der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker. Herzlich willkommen zu unserer Sendung, Monsieur le Premier ministre, bienvenu à notre émission et merci, vielen Dank auch, dass wir Deutsch mit Ihnen sprechen dürfen, denn das ist ja nur eine der 3 offiziellen Landessprachen des Großherzogtums Luxemburg. Herr Premierminister, die Sache mit dem Heldentum klären wir später; zunächst die Frage: warum hat Luxemburg 3 Landessprachen? Das ist eine Menge für ein kleines Land.

Jean-Claude Juncker: Das ist auf den Faktor zurückzuführen, dass Luxemburg ein kleines Land ist. Wir sprechen, wenn wir als Luxemburger untereinander und hoffentlich auch miteinander reden, Luxemburgisch, Lëtzebuergesch. Weil aber der Rest der Welt sich strikt weigert unsere Sprache zu sprechen, haben wir uns in die Notwendigkeit ergeben die Sprache der Anderen mindestens so gut wie die Anderen selbst zu sprechen. Wenn die Deutschen Luxemburgisch sprechen würden, bräuchten wir nicht Deutsch zu lernen, aber Gott sei Dank sprechen sie nicht Luxemburgisch, ergo sind wir der deutschen Sprache auch mächtig.

Ruth Jakoby: Und die Gesetze werden auf Französisch publiziert?

Jean-Claude Juncker: Die Gesetze werden auf Französisch publiziert. Das war nicht immer so. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Gesetzgebung in zwei Sprachen erlassen, in deutscher Sprache und in französischer Sprache. Nach der deutschen Besatzungszeit, 1940 bis 1945, hat man so viele Verletzungen festgestellt, herbeigeführt durch alles was Deutsch war, dass man seitdem darauf verzichtet, die Gesetze auch in deutscher Sprache zu erlassen. Die werden nur noch in französischer Sprache erlassen.

Ruth Jakoby: Luxemburg lebt als Zwerg, wenn Sie die Metapher gestatten, zwischen Riesen, zwischen Deutschland und Frankreich.

Jean-Claude Juncker: Das ist keine Metapher, das ist eine korrekte Beschreibung.

Ruth Jakoby: Grade mit den deutschen Nachbarn hat Luxemburg nicht nur gute Erfahrungen gemacht: im Ersten Weltkrieg besetzt, im Zweiten Weltkrieg besetzt. Besonders schmerzhaft war der Zweite Weltkrieg: Luxemburg wurde unterdrückt, die Menschen wurden vertrieben, enteignet, sie mussten in der Wehrmacht Dienst leisten, Militärdienst an der Ostfront, Ihr Vater war auch dabei. Hat er über diese Epoche gesprochen?

Jean-Claude Juncker: Das ist ein schlimmes Kapitel luxemburgischer Geschichte im 20. Jahrhundert, weil die jungen Luxemburger Männer der Jahrgänge 1920 bis 1927 von Hitler und seinen Gesellen in die Wehrmacht zwangsrekrutiert wurden. Wir nennen diese Generation auch „die geopferte Generation der Zwangsrekrutierten“.

Die mussten also eine fremde Uniform anziehen und gegen diejenigen kämpfen die damit beschäftigt waren, auch Luxemburg wieder von der deutschen Besatzung zu befreien. Diese Generation hat gelitten, nicht nur die Zwangsrekrutierten, sondern auch die Luxemburger die sich im aktiven Widerstand in Luxemburg selbst befanden. Diese Männer und Frauen – weil Frauen waren im Widerstand auch sehr breit vertreten – haben über die Zeit eigentlich nie viel geredet.

Ich habe als kleiner Bub, wenn ich meinem Vater beim Arbeiten zusah, festgestellt, dass er eine Verletzung an der Hand hatte, am Knie, im Nacken Schusswunden und er hat mir das eigentlich so lange ich sehr klein war nie erklären wollen. Als ich dann etwas älter wurde, so mit 15, 16 hat er dann seine Geschichten, aber noch nicht ganz, erzählt, weil Väter es nicht mögen wenn ihre Kinder um etwas weinen was in der Vergangenheit der Väter tief begraben liegt.

Ruth Jakoby: Gab es weitere Opfer in Ihrer Familie?

Jean-Claude Juncker: Was heißt hier Opfer? Man hat der Generation meiner Eltern die Jugend geraubt. Die hatten einfach keine Jugend, so wie wir sie nach dem Krieg hatten. Mein Vater wurde gemeinsam mit 4 Brüdern – die waren 12 zu Hause gewesen – in die Wehrmacht eingezogen. Das heißt, man muss sich meine Großmutter und meinen Großvater vorstellen, die 4 Söhne in das Kriegsgeschehen entsandten und die hatten mit diesem Krieg nichts am Hut, wie viele Deutsche im Übrigen auch.

Ich habe mir einen geläuterten Blick auf die deutsche Vergangenheit nicht zugelegt sondern erarbeitet, aber dass Eltern 4 Kinder an die Front schicken müssen, in einen Krieg der mit Luxemburg nun wirklich nichts zu tun hatte, das war schon ein Ereignis das tiefe Spuren und tiefe Verletzungen hinterlassen hat.

Ruth Jakoby: Luxemburg hat es geschafft einen Generalstreik gegen das nationalsozialistische Deutschland auf die Beine zu stellen, 1942. Das ist eher die Ausnahme gewesen, woher hat Luxemburg die Kraft gehabt? Wie konnte das gelingen?

Jean-Claude Juncker: Weil man sich massiv an der luxemburgischen Jugend vergangen hatte.

Dieser Generalstreik, der einzige der in einem besetzten Land während des Zweiten Weltkrieges stattfand, kam zustande weil Hitler und der Gauleiter beschlossen hatten, dass die Luxemburger, die jungen Luxemburger in die Wehrmacht zwangsrekrutiert würden. Dies hat man als ein Verbrechen an der luxemburgischen Jugend empfunden und dies hat so sehr in das tägliche Leben jeder luxemburgischen Familie eingegriffen, dass dieser Generalstreik quasi spontan entstand. Es gab keinen breiten Aufruf zu diesem Generalstreik, aber aus der Vielzahl lokaler Streikbewegungen hat sich dann eine nationale Bewegung ergeben, die dann auch brutalst von den deutschen Besatzern niedergetrampelt wurde.

Ruth Jakoby: Dennoch waren nach 1945 die Luxemburger relativ schnell bereit auf die deutschen Nachbarn zuzugehen und sich anzunähern, die Aussöhnung auf den Weg zu bringen. Nie wieder Krieg, war die Losung dieser Generation.

Jean-Claude Juncker: Wir hatten die Erfahrung gemacht, als Volk und als Nation, dass es kein gangbarer Weg war, sich hinter Neutralitätsklauseln zurückziehen zu wollen.

Luxemburg wurde zweimal besetzt, Sie haben das erwähnt, im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, trotz einer verfassungsmäßig festgelegten Neutralität, die auch von den Nachbarländern, inklusive Deutschland, stets anerkannt wurde, aber zwei Mal von Deutschland verletzt wurde. Insofern war es uns nach dem Zweiten Weltkrieg klar, dass wir uns sehr dezidiert in Richtung europäische Einigung in Bewegung setzen müssten und es war uns auch immer klar, das heißt meinen weisen Vorgängern, dass man dies nicht ohne Deutschland würde bewerkstelligen können. Insofern war es normal, weil es staatspolitisch geboten und dem Lebensgefühl der Menschen diesseits und jenseits der Mosel angemessen war, dass man sich auf Deutschland zubewegte.

Die Deutschen sind auch nach dem Zweiten Weltkrieg – wie soll ich das sagen, ohne verletzend zu wirken – andere Deutsche geworden. Die Deutschen sind uns die besten deutschen Nachbarn nach Kriegsende geworden, die wir je hatten.

Beispielsweise muss erwähnt werden in diesem Zusammenhang, dass der erste deutsche Soldatenfriedhof, den es nach dem Zweiten Weltkrieg außerhalb Deutschlands gab, sich in Luxemburg befindet. Wir waren die ersten, wir Luxemburger, die mit der Deutschen Kriegsgräberfürsorge diesen deutschen Soldatenfriedhof, ich sage nicht gerne „eingerichtet haben“, weil das so despektierlich klingt, aber die das gemacht haben. Dies ist ein Zeichen dafür, dass wir versöhnungsbereit waren und die Deutschen waren es, aus leidvoller Geschichte klug geworden, auch.

Ruth Jakoby: Nie wieder Krieg als Motivation für den europäischen Einigungsprozess. Was machen wir eigentlich wenn die Generation von Zeitzeugen die den Krieg erlebt hat, die uns warnen und mahnen können nicht mehr existieren? Hat die EU dann möglicherweise ein Motivationsproblem?

Jean-Claude Juncker: Das ist meine größte Sorge wenn ich an Europa denke, dass diejenigen die selbst noch im Krieg waren nicht mehr da sein werden, und wenn auch die, denen man vom Krieg erzählt hat nicht mehr leben werden, das ist eigentlich meine Generation. Unsere Kinder und Kindeskinder werden keine Zeitzeugen mehr in ihrem Leben befragen können und sich von denen berichten lassen können, und dann entschwindet so etwas wie die noble Geschäftsgrundlage der Europäischen Union.

Für die Generation meiner Eltern, für meine Generation ist Europa, obwohl es jetzt eine Selbstverständlichkeit geworden ist, doch eine Selbstverständlichkeit um die man jeden Tag aus guten Gründen, nämlich Krieg oder Frieden, ringen muss. Dieses Motiv, in Europa näher zusammen zu rücken wird entfallen. In 10, 20 Jahren wird dies der Fall sein. Man merkt das schon heute, dass diejenigen die von sonst wo herkommen, und nicht zu dieser Nachkriegsgeneration der vom Krieg berichtet wurde gehören, die europäischen Dinge sehr pragmatisch, sehr gelassen, sehr cool sehen. Europa ist nie cool.

Ruth Jakoby: Luxemburg war als Kind für mich die erste Grenze. Wir fuhren aus Trier oft zum Flughafen, da standen auf deutscher Seite Beamte in Uniform die kontrollierten, die prüften, dann fuhr man ein paar Schritte weiter, dann kamen die luxemburgischen Grenzbeamten, die kontrollierten und prüften, die sprachen eine andere Sprache. Ich fand das sehr beängstigend als Kind. Wie war es für Sie damals über die deutsche Grenze zu kommen?

Jean-Claude Juncker: Meine ersten Auslandserfahrungen waren Reisen nach Trier. Heute sind das nicht mal Reisen, sondern kurze Aufenthalte die sich sehr schnell machen lassen. Ich habe diese Grenzerfahrungen auch gemacht und habe auch amüsiert oder ängstlich mir angeschaut wie mein Vater und meine Mutter dann kleine Waren über die Grenze schmuggelten und die Aufregung immer groß war, ob wir denn über den Weg über die Grenze unentdeckt schaffen würden.

Ruth Jakoby: Was haben Ihre Eltern geschmuggelt? Wir haben immer Tee geschmuggelt.

Jean-Claude Juncker: Meine Mutter BHs und die mussten mein Vater oder ich an adäquatem Ort versteckt über die Grenze bringen, aber auch Nylonstrümpfe und derartiges.

Für Kinder war das spannend, für Eltern war das halb kriminell und für das Zusammenrücken der Menschen aus dem Trierer Raum und aus Luxemburg – das sind Menschen desselben Schlages, das sind Menschen die sich eigentlich mögen und deren Wege durchkreuzt wurden von diesen Idioten die den Zweiten Weltkrieg losgetreten hatten – für das Zusammenleben in der Region Trier, Bitburg, auch Saarland, Luxemburg war es nicht dienlich, dass es diese Grenzen gab und es gibt sie ja Gott sei Dank nicht mehr. Aber ich habe auch die Staus noch in Erinnerung. Man brauchte Zeit um nach Trier zu fahren. Heute braucht man etwa zwei Drittel weniger Reisezeit als dies damals der Fall war.

Manchmal denke ich mir, wenn die Menschen sich über Europa beklagen, wenn die meckern und stöhnen und alles schlecht finden was in Europa geboten wird, und vieles zeichnet sich ja auch nicht durch besonders hohe Qualität aus, manchmal denke ich mir, man müsste einfach so, als Ernüchterungstest die Grenzen wieder für 6 Monate einführen. Einfach mal 6 Monate vollumfänglich Grenze spielen, damit die Menschen mal merken, wie das denn früher so war bevor es ein vollfunktionierendes Europa gab. Ich glaube, es würde den Zustimmungsgrad zur Europäischen Union massiv erhöhen, wenn wir überall in Europa wieder für 6 Monate Grenzspiele machen würden, Spiele mit Grenzen.

Ruth Jakoby: Sie sind katholisch. Waren Sie Messdiener?

Jean-Claude Juncker: Ja, das ist jeder junge Katholik in Luxemburg fast zwangsläufig zu meiner Kindszeit geworden, ja.

Ruth Jakoby: Sie stammen aus dem Süden von Luxemburg, sind 1954 in Redange-sur-Attert geboren, damals eine hochindustrialisierte Gegend, Stahlarbeit; ARBED war der größte Arbeitgeber, Ihr Vater hat dort auch gearbeitet. Es ist vielfach zu lesen, dass dieses Milieu Sie auch sehr geprägt habe, inwiefern?

Jean-Claude Juncker: Das ist so und das ist bis heute so geblieben. Das ist eine sonderbare Geschichte, die setzt sich aus dem Beobachten der beruflichen Tätigkeit meines Vaters und vielen anderen Dingen zusammen. Mein Vater war Stahlarbeiter, hat auf 3 Schichten gearbeitet und der ganze Lebensrhythmus meine Kindheit war eigentlich geprägt durch diese Schichtarbeit. Nicht nur des eigenen Vaters, sondern auch der vielen Nachbarn die auch alle Stahlarbeiter waren. Wenn der eine Frühschicht hatte, hatte der andere Nachtschicht und wenn der eine Nachtschicht hatte, hatte der andere Nachbar wieder Mittagsschicht, so dass wir als Kinder eigentlich nie laut spielen durften, weil in der Nachbarschaft immer jemand am Schlafen war, obwohl wir ja in vollem Saft unseren Kinderspielen nachgingen.

Das hat etwas mit Geräuschen zu tun. Ein Stahlwerk, Hochöfen produzieren Geräusche. Die Geräusche sind immer da. Ich wurde Fachmann der Geräusche des Stahlwerkes. Ich wusste sehr genau, wenn ich im Garten war oder irgendwo in einer Wiese mit Freunden herumtobte und es knallte im Stahlwerk, was passiert war. Dann fällt eine Reparatur an. Wenn man in einem Stahlrevier wohnt und lebt und atmet und riecht, dann weiß man sehr genau an welcher Stelle des Stahlwerkes oder des Hochofens irgendetwas passiert war was nicht hätte passieren dürfen.

Ich wohnte 600, 700 Meter von den Hochöfen entfernt, aus einer derartigen Ferne kann man die Ursache einer Panne schneller aufspüren. Die Arbeiter die nicht auf Schicht waren, sondern zu Hause ihren Garten bearbeiteten, die riefen im Werk an und erklärten den Kollegen im Werk genau was passiert war, weil von fern hört man besser als von nah.

Es gab dann auch diesen besonderen Geschmack der sich auf die Zunge legte durch den Rauch der Hochöfen bedingt, dieser besondere Geruch, dieses nie mehr vergessen können, dass wenn man die Wäsche aushängte, die Bettwäsche innerhalb von 10, 11 Minuten braun-rötlich-gelb war.

Ruth Jakoby: Sie hören SWR2-Zeitgenossen mit dem luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker. Herr Premierminister, Sie sind dann in die Christlich Soziale Volkspartei gegangen, eigentlich ja die falsche Parte für jemanden der wie Sie aus einem Arbeitermilieu kommt?

Jean-Claude Juncker: Nein, das ist eine etwas zu distante Beschreibung dessen was christlich-sozial ist.

Ich hatte ja zu Hause erlebt, dass mein Vater, der christlicher Gewerkschaftler war, seine Arbeitskollegen zu Hause in der Küche versammelte nach der Schicht und dann wurde über die Probleme im Werk, überhaupt über soziale Probleme geredet und mich hat sehr früh fasziniert, auch als junger Mensch schon, dass wenn man in der Partei hart zur Sache diskutierte, man eigentlich auf dem Debattentisch alle Standpunkte liegen hatte die es auch in der Bevölkerung gibt. Die Kompromisse die dort geboren wurden und werden sind eigentlich Lösungsansätze die dem Profil des Landes entsprechen.

Außerdem war das für einen damals 18, 19-jährigen hochspannend in einer Oppositionspartei zu wirken, weil dort darf man die Regierung attackieren, dass die Fetzen fliegen, das durften wir später, als wir wieder in der Regierung waren nicht, und man darf auch die Altvorderen in der eigenen Partei, die ja die Wahlen verloren hatten auch massiv angehen. Man hat doppelte Opposition gemacht, parteiintern und der Regierung gegenüber und das war eine herrliche Zeit, die ich mir aber trotzdem nicht zurückwünsche, weil ich lieber in der Regierung bin.

Ruth Jakoby: Sie sind früh in die Politik gegangen, Sie haben in Strassburg Jura studiert, haben eine Zulassung als Anwalt, aber, glaube ich, nie praktiziert. Warum sind Sie so früh in die Politik gegangen? Was hat Sie gereizt?

Jean-Claude Juncker: Das ist der Zufall des Lebens. Ich war ja politisch aktiv und auch in der Partei bekannt geworden als jemand, der in allen möglichen Debatten frech war und keine Rücksicht nahm auf die Standpunkte derer die schon länger da waren, und dann hat sich die Gelegenheit ergeben, als ich als Anwalt vereidigt wurde, dass ich kurz danach als parlamentarischer Geschäftsführer in die Christlich Soziale Fraktion eintreten durfte, nicht als Abgeordneter gewählt, sondern als beamtenmässig arbeitender parlamentarischer Geschäftsführer. Ich war Präsident der Jugendorganisation der Partei geworden. Das hat sich so ergeben. Ich war auf dem Sprung in eine Anwaltskanzlei, das habe ich dann auch gemacht und kurz danach wurde mir angeboten diesen Job des parlamentarischen Geschäftsführers zu übernehmen. Dann habe ich das gemacht.

Mir wäre es eigentlich lieber gewesen, aber so klug redet man ja immer nur wenn das Leben fast vorbei ist, in einem bürgerlichen Beruf mir meine Sporen zu verdienen. Das werde ich auch noch einmal tun müssen und werde das auch tun wollen, aber der Anfang des Lebens [wird unterbrochen]

Ruth Jakoby: Ist das jetzt eine Rücktrittsansage?

Jean-Claude Juncker: Nein, aber ich mach mir ja keine Illusionen über endlose Beständigkeit und weiß also, dass mit der Politik eines Tages Schluss sein wird und Schluss sein muss. All zu lange darf man das nicht machen, ich mache das schon irrsinnig lange und dann muss man sich in einem bürgerlichen Beruf zurechtfinden. Ich hätte das nur lieber am Anfang gehabt und würde mich jetzt auslaufen lassen. Aber ich werde noch einmal zu Hochform auflaufen müssen wenn der politische Teil des Lebens abgeschlossen sein wird.

Ruth Jakoby: Wann wird das sein?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich Ihnen das jetzt sagen würde, hätten Sie eine Schlagzeile. Obwohl ich Sie sehr mag, werden Sie diese Schlagzeile nicht zustande bringen.

Ruth Jakoby: Sie sind gut befreundet mit Helmut Kohl, der vor einigen Tagen seinen 80. Geburtstag feierte. Wie haben Sie Helmut Kohl kennengelernt?

Jean-Claude Juncker: Ich weiß noch relativ genau, dass ich ihm im Mai 1979 zum ersten Mal begegnet bin, als er in Luxemburg eine Rede im Vorfeld der ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament hielt. Ich war damals Kandidat, nicht um Europaparlamentarier zu werden, sondern ich war als Student Kandidat um Mitglied der Abgeordnetenkammer des Parlamentes zu werden, ohne jede Chance gewählt zu werden und ich wurde Helmut Kohl einfach vorgestellt als der jüngste Kandidat der für die Parlamentswahlen antreten würde und das hat ihn irgendwie begeistert. Er hat mich gefragt, ob ich denn volljährig wäre und ob ich schon lange von der Mutterbrust entfernt worden wäre, und so weiter und so fort. Dann bin ich ihm immer wieder begegnet als junger Minister, als Parteivorsitzender, als Finanzminister, vor allem dann als Premierminister und es hat sich aus diesen vielen Begegnungen eine Freundschaft entwickelt die weit über das Politische hinausgeht.

In politischen Dingen hatten wir sehr oft unterschiedliche Auffassungen, das haben wir auch mannhaft und wehrhaft miteinander ausgetragen, aber dies ist keine politische Freundschaft im gängigen Sinne des Wortes.

Ruth Jakoby: Sie sind bekannt für Ihre Rhetorik, Sie sind beliebt wegen Ihrer Rhetorik, ihren guten Sprüchen. Über Helmut Kohl sagten Sie: „Helmut Kohl hat sich nie für Helmut Kohl gehalten.“ Was meinten Sie denn damit?

Jean-Claude Juncker: Er hat sich selbst nie überhöht. Manchmal erzählt er, auch wenn in Zeitungen, in Büchern steht, dass er jetzt endgültig in der Geschichte gelandet wäre, was er ja auch ist, dass ein von ihm hochverehrter Papst, Johannes XXIII, jeden Abend gebetet hat, Herr, hilf mir mich nicht so wichtig zu nehmen. Kohl hat sich immer ernst genommen, er hat sich aber nicht wichtig genommen und deshalb hat er sich nicht für Helmut Kohl gehalten, er hat sich nie mit sich selbst verwechselt.

Ruth Jakoby: Sie haben einmal gesagt, dass Sie mitunter den Eindruck haben, Sie seine der einzige deutschsprachige Politiker der sich über die Wiedervereinigung freut. Haben Sie diesen Eindruck immer noch?

Jean-Claude Juncker: Manchmal schon, weil ich finde, dass deutsche Politiker sich in öffentlicher Rede sehr schwer tun sich zur deutschen Einheit zu bekennen. Das war zu Zeiten der Wiedervereinigung nicht so. Als dann aber die Wiedervereinigung trotzdem einen Preis hatte, obwohl man, ungerechtfertigterweise, den Deutschen erklärt hatte, das ließe sich alles mit links aus der Hosentasche finanzieren, ist die Begeisterung in Deutschland ja etwas abgeflaut. Viele Politiker tun sich auch schwer damit, sich total zur deutschen Einheit zu bekennen.

Ich bin aber der Meinung, dass die deutsche Einheit ein Glücksfall europäischer Geschichte ist.

Diese deutsche Teilung war ein Scherenschnitt durch das Leben der Deutschen, das konnte so nicht bleiben. Dass sich die Geschichte so entwickelt hat, dass die deutsche Wiedervereinigung möglich war, ist darauf zurückzuführen, dass sich die Deutschen im Nachkriegseuropa als zuverlässige Partner und Nachbarn zu erkennen gegeben hatten. Helmut Kohl hat die deutsche Einheit in Europa durchsetzen können, weil er ein sehr feinmaschiges Netz persönlicher Beziehungen und politischer Brückenschläge während seiner ganzen Kanzlerschaft zustande gebracht hatte.

Die deutsche Einheit und die europäische Einheit sind, um es mit Adenauer zu sagen, zwei Seiten einer Medaille. Ohne deutsche Einheit hätte es das europäische Zusammenrücken, die Versöhnung zwischen europäischer Geschichte und europäischer Geographie nicht geben können, so wie es die deutsche Wiedervereinigung auch nicht hätte geben können, wenn es nicht diese auf Dauer belastbaren Integrationsfortschritte im westlichen Teil Europas gegeben hätte.

Ruth Jakoby: Zwischen Helmut Kohl und Ihnen herrschte mitunter ein flapsiger Ton. Kohl hat Ihnen – Sie haben das in Stuttgart erzählt, anlässlich einer Laudatio auf Helmut Kohl – gelegentlich hinterher telefoniert. Wenn er Sie nicht erreichte war er ungehalten und Sie sagten dann, Sie müssten ja auch noch das ganze deutsche Steuergeld zählen, was hier nach Luxemburg kommt und deshalb könnten Sie nicht immer am Telefon sein, das war flapsig. Würden Sie solch einen Witz heute noch mal machen, nach Ihrer Auseinandersetzung mit dem ehemaligen deutschen Finanzminister Peer Steinbrück?

Jean-Claude Juncker: Unter Freunden müssen flapsige Sprüche erlaubt sein, sonst findet Freundschaft ja nicht statt. Ich kann ja nicht wie ein Leitartikler mit Kollegen im Ausland reden, außerdem war es damals schon falsch, dass ich soviel Zeit damit verbracht hätte deutsches Fluchtgeld, wie das damals hieß, in Luxemburg zu zählen. Heute gibt es nicht mal Restbestände davon.

Ich mache öfters darauf aufmerksam, dass man sich im Umgang mit kleineren Nachbarn einer Sprache bedienen sollte die der unterschiedlichen Größe beider Staaten angemessen sind. Kleine Länder mögen es überhaupt nicht, Zurechtweisungen aus größeren Nachbarstaaten zu erhalten. Das sind alles Vorgänge die sich auf deutscher Seite sehr oft innenpolitisch motivieren lassen. Um das mal salopp zu sagen, das kratzt mich auch nicht besonders, ich reagiere nur.

Ruth Jakoby: Sie haben für Ihre Verhältnisse sehr heftig reagiert, Sie sind ja normalerweise charmant und elegant und eloquent, aber da haben sie doch kurz darauf hingewiesen, dass Luxemburg schon mal von deutschen Truppen besetzt war.

Jean-Claude Juncker: Der Satz ist mir schwer gefallen und passt auch überhaupt nicht zu meiner Rhetorik und derartige Zungenzwischenschläge verbiete ich mir ja auch. Aber in dem Masse wo Herr Müntefering, das war nicht Herr Steinbrück, erklärt hatte, früher hätte man Steuer- und Bankenprobleme durch das Entsenden von Soldaten gelöst und das ginge heute leider nicht mehr – Zitat Münterfering – habe ich doch darauf aufmerksam gemacht, dass derartige sprachliche Verirrungen doch tunlichst zu unterlassen wären. Herr Müntfering sieht das inzwischen auch so.

Ruth Jakoby: Herr Premierminister, wir sollten jetzt dringend Ihren Heldentitel erläutern. Jean-Claude Juncker, Held von Dublin, eine vermutlich neblige und schwierige Dezembernacht 1996; einen Nacht wie sie die Europäische Union kennt: widerstrebende Interessen, schwer unter einen Hut zu bringen – worum ging es da eigentlich?

Jean-Claude Juncker: Es ging in Dublin, im Dezember 1996, um die Formulierung des Europäischen Stabilitätspaktes. Dies war ein deutsches Ansinnen, das von Theo Waigel, dem damaligen Finanzminister, und Helmut Kohl sehr offensiv vorgetragen wurde, aber die Franzosen waren nicht bereit sich auf Disziplininstrumente im Rahmen der Europäischen Währungsunion festzulegen die nicht im Maastrichter Vertrag enthalten gewesen wären. Es ging darum deutlich zu machen, dass Stabilität auf Dauer gewährleistet werden muss und nicht nur beim Eintritt eines Landes in die Europäische Währungszone.

Dann musste ich zwischen Deutschland und Frankreich vermitteln, auf Wunsch von Kohl und Chirac, die sich an dem Gespräch nicht beteiligten. Ich habe Kompromissvorschläge vorgelegt, die dann auch von beiden und dann in der Folge von allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union akzeptiert wurden. Und das ist etwas, dieses Vermitteln zwischen auseinanderdriftenden deutschen und französischen Interessen, das uns nicht wesensfremd ist, weil wir als kleines Land zwischen diesen beiden großen Nachbarn leben müssen und auch unbehelligt leben können, das ist ja das Schöne an Europa.

Wir wissen über die Franzosen unendlich mehr als die Deutschen je über die Franzosen in Erfahrung bringen werden. Und wir wissen über die Deutschen Dinge, die die Franzosen nicht mal erahnen können. Und wenn man mehr Wissen hat und mehr Einfühlungsvermögen in die Befindlichkeiten der beiden großen Nachbarn hat, dann kann man auch Brücken dort bauen wo die beiden denken, dass kein Weg sie mehr zusammenbringen kann.

Ruth Jakoby: Sie dolmetschen gelegentlich für die Deutschen aus dem Französischen, für die Franzosen aus dem Deutschen. Böse Zungen sagen, dass Sie den Deutschen dass erzählen was sie hören wollen und den Franzosen auch und so würde Europa wunderbar funktionieren.

Jean-Claude Juncker: Das stimmt so nicht, weil ich mache das nur sehr selten.

Ruth Jakoby: Wenn wir uns die aktuelle Situation ankucken, der Euro, es gab diesen Stabilitätspakt – was sagt der Held von Dublin, was sagt Jean-Claude Juncker wenn er die aktuelle Lage bewertet?

Jean-Claude Juncker: Ich bemühe mich als Präsident der Eurogruppe um gangbare Lösungen und versuche trotzdem, die Dinge aus gesicherter Distanz zu betrachten.

Was sich fundamental geändert hat, seit Gründung der Europäischen Währungsunion, ist, dass die Dinge die über die Eurozone hinausgehen, wirtschaftliche und finanzielle Fäden die zu einem Seil zusammenwachsen, das man fest in den Händen halten muss, die haben sich unwahrscheinlich verkompliziert. Wir sind in der Eurozone auf Gedeih und Verderb in einem Verbund zusammengeschlossen und wir wissen alle, wenn wir ehrlich sind, dass wir es alleine, aus nationaler Kraft nicht schaffen würden uns mit Amerikanern, mit Chinesen, mit Japanern im Gespräch artikulierbar zu machen und auch unsere Interessen durch zu setzen.

Daraus ergibt sich die Anforderung, der Zwang, dass wir unsere Dinge selbst regeln, dass wir uns nicht an internationale Finanzinstitutionen wenden um Hilfestellung zu erheischen, sondern dass wir selbst unsere Probleme in den Griff bekommen müssen.

Ruth Jakoby: Kriegen wir das? Schaffen wir das?

Jean-Claude Juncker: Das kriegen wir hin wenn wir fähig sind – das ist allerdings die psychologische Vorraussetzung – uns an den Dingen zu erfreuen die funktionieren. Wir sind als Europäer verdrießliche Zeitgenossen geworden die sich an ihren eigenen Erfolgen nicht erfreuen können.

Wir haben es geschafft in Europa auf Dauer das Thema Krieg und Frieden mit der richtigen Antwort zu versehen. Wir haben den größten Binnenmarkt der Welt zustande gebracht. Wir haben gegen jedes Erwarten und auch gegen die Unkenrufe der deutschen Professorenschaft den Euro zu einem Erfolg zu führen. Wir wissen heute, dass wenn es den Euro nicht gäbe, es trotzdem aber die Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hätte, die zu verheerenden Folgen geführt hätte.

Ein Beispiel: Griechenland befindet sich jetzt in einer eigentlich schlimmen, katastrofalen Finanzlage. Wenn Griechenland nicht Mitglied des Euro wäre müsste Griechenland, hätte es noch die Drachme, drastisch abwerten, was wiederum zur Folge hätte, dass andere südeuropäische Staaten auch drastisch abwerten würden und im Gegenzug dazu müssten die Deutsche Mark, der Niederländische Gulden, drastisch aufwerten. Das deutsche Exportgeschäft nach Südeuropa hätte unter einem derartigen Vorgang der zwangsläufig gewesen wäre massiv gelitten. Insofern ist der Euro trotz aller Bedenken, die ihn auch umgeben, ein ökonomischer Glücksfall der uns hilft aus dieser Krise unlädierter herauszukommen als wir aus einer derartigen Krise herausgekommen wären, wenn es die Währungsunion nicht gegeben hätte.

Ruth Jakoby: Es gibt jetzt Menschen, es gibt Politiker die sagen, Griechenland hätte nie in die EU aufgenommen werden dürfen, Griechenland hätte nicht in die Eurozone aufgenommen werden dürfen. Wer gehört eigentlich zur Europäischen Union und wer nicht?

Jean-Claude Juncker: Das sind zwei verschiedene Dinge, Währungsunion und Europäische Union. Ich bleibe jetzt mal bei dem Thema Europäische Union, was ja die Frage nach der Grenze der Europäischen Union aufwirft. Und da muss ich eingestehen, dass ich die Frage so nicht beantworten kann, nicht weil sie sich so nicht stellt, sondern weil ich die Antwort nicht weiß.

Ruth Jakoby: Sie stellt sich so permanent.

Jean-Claude Juncker: Ob sie sich permanent stellt oder nur in nächtlichen Horrorvorstellungen die Einige unruhig schlafen lässt, das lasse ich mal dahingestellt.

Die Staaten die am 1. Mai 2004 zur Europäischen Union gestoßen sind, und dann später auch noch Rumänien und Bulgarien, haben die diesbezüglichen Kriterien erfüllt. Nicht immer in dem Umfang wie ich das eigentlich gerne gesehen hätte, aber man muss Folgendes bedenken: 1989 ist die Mauer gefallen. Wir hatten den Menschen in Ost- und Mitteleuropa immer erklärt, dass es reicht die Kommunisten zu vertreiben um einen direkten Zugang zur ewigen Glückseligkeit zu erhalten. Dann wollten die Menschen in Ost- und Mitteleuropa Mitglied der Europäischen Union werden. Wir haben die ja nicht gezwungen, die wollten in diese europäische Friedens- und Solidaritätssphäre Einzug halten, um auch ihre eigenen Probleme besser in den Griff zu kriegen.

Insofern, wenn ich mir das so überlege, fernab von jeder Selbstgerechtigkeit, stelle ich fest, dass in essentiellen Fragen die Europäer zwei richtige Antworten auf zwei wichtige Fragen gegeben haben. Wir haben den Euro hingekriegt und haben uns deshalb aus diesem kranken Konkurrenzdenken zwischen Mitgliedern einer und derselben Europäischen Union hinausbewegt, weil wir nicht mehr auf Kosten der Nachbarn leben, sondern gemeinsam den Währungsraum gestalten, das war eine richtige Antwort. Und die zweite richtige Antwort war, dass wir den europäischen Kontinent in Frieden vereint haben.

Ruth Jakoby: Sie haben es angesprochen, die osteuropäischen Staaten drängten in die EU und merkwürdigerweise ist doch der Enthusiasmus für den Einigungsprozess, für Europa sehr schnell zurückgegangen. Merkwürdigerweise auch haben diese Staaten eigentlich keinen charismatischen europäischen oder Europapolitiker hervorgebracht. Es gibt keinen Jean-Claude Juncker des Ostens. Warum?

Jean-Claude Juncker: Mich wundert nicht, dass die Zustimmung zur Mitgliedschaft in der Europäischen Union in einigen, nicht allen, Ländern Mittel- und Osteuropas abgenommen hat. Sie müssen ja sehen was durch den Beitritt in die Europäische Union und durch den Beitritt in die Eurozone, siehe Slowenien, siehe Slowakei, den Menschen in diesen Ländern zugemutet wurde.

Die haben nach dem Zweiten Weltkrieg, um es freundlich auszudrücken, im Schatten der Sowjetunion gelebt. Es war aber eigentlich eine Quasi-Besatzung, die die Sowjetunion in den von ihr so benannten Satellitenstaaten zur Anwendung hat kommen lassen, es waren keine freien Länder. Die konnten nicht frei atmen, das Denken wurde verboten, falls es bestimmte Grenzen überschritt. Dann wurden diese Länder souverän, autonom, weil der sowjetische Zugriff sich am Anfang lockerte und dann völlig verschwand. Dann gab es das frühere Jugoslawien das sich in Teile zerlegte, Slowenien, Kroatien, Serbien, Mazedonien, Montenegro. Dann wurden eigene Währungen in diesen Ländern eingeführt, es fanden schmerzliche Anpassungsprozesse an die Regelwerke der Marktwirtschaft statt und das soziale Kollektiv war sehr oft abhanden bei diesen Anpassungsprozessen.

Dann wurden die meisten dieser Länder Mitglied der Europäischen Union, mussten sich an Binnenmarktregeln halten, mussten das so genannte kommunautäre Acquis, also alle Regeln die wir bis dahin untereinander festgelegt hatten, über Nacht [wird unterbrochen]

Ruth Jakoby: Das sind 80.000 Seiten, glaube ich.

Jean-Claude Juncker: Das sind 80.000 Seiten, es ist aber nicht die Seitenzahl die es ausmacht, sondern der objektive Zwang der sich aus dem notwendigen Respekt dieser Regeln für diese neuen Volkswirtschaften ergab.

Die kamen aus einer administrierten, volkswirtschaftlich zentral geführten wirtschaftspolitischen Sphäre hinein in eine marktwirtschaftlich inspirierte Grundordnung, die konträr zu der kommunistisch inspirierten gewesen ist. Das heißt, die Menschen haben unendlich viele Opfer bringen müssen und haben sich so oft wieder neu anpassen müssen, dass ich verstehe, dass daraus eine gewisse Müdigkeit entstehen kann, besonders weil dieser Anpassungsprozess noch nicht in allen Bereichen der Gesellschaft in diesen mittel- und osteuropäischen Staaten abgeschlossen ist.

Ruth Jakoby: Sie hören SWR2 Zeitgenossen mit dem luxemburgischen Premierminister Jean-Claude Juncker. Jean-Claude Juncker, wo sind denn die Grenzen Europas oder die Schmerzgrenzen Europas? Gehört die Türkei zu Europa?

Jean-Claude Juncker: In Sachen Türkei hätte ich es für einen Fehler gehalten, wenn wir keine Beitrittsverhandlungen aufgenommen hätten. Dies wurde eigentlich 1999, 2000 entschieden und dann im Dezember 2000 endgültig entschieden, dass wir mit der Türkei in Beitrittsverhandlungen eintreten sollten.

Hätten wir damals dem Wunsch der Türken, diese Beitrittsgespräche aufzunehmen, nicht entsprochen, hätte dies in der Türkei, bei allen türkischsprachigen Völkern in der Großregion Türkei und in allen islamischen Staaten zu einer Meinungsbildung beigetragen, die gefährlich hätte werden können, weil sich aus einem Zuklappen der europäischen Tür vor der Nase der Türkei das Gefühl ergeben hätte als wollten wir Europäer nichts mit dem islamisch geprägten Teil Eurasiens zu tun haben. Insofern schien es mir angemessen und angebracht diese Gespräche zu beginnen.

Wir hatten aber darauf Wert gelegt, einige von uns, das wurde dann auch der Gesamtbeschluss, deutlich zu machen, dass die ergebnisoffene Verhandlungen wären. Die werden lange Zeit in Anspruch nehmen, die werden holprig und schwierig sein und am Ende des Prozesses werden die Mitglieder der Europäischen Union und die Türken selbst entscheiden müssen, ob denn das zustande gekommene Verhandlungsergebnis so ist, dass der Türkeibeitritt möglich wird.

Meine Meinung ist, aber das ist eine vorläufige Meinung, dass wir große Widerstände in der Bevölkerung haben, die wird man überwinden können und auch überwinden müssen, aber dass wird nur gehen wenn die Gesamtlage so sein wird, dass sie jedem einleuchtend vor Augen geführt werden kann. Das heißt, der Türkeibeitritt muss auch von Nutzen für die Mitglieder der Europäischen Union sein.

Meine zweite Einschätzung ist die, dass, wenn die Verhandlungsergebnisse auf dem Tisch liegen die Türkei sehr schnell merken wird, dass der Schuh ihr doch vielleicht noch eine Nummer zu groß ist und es vorziehen wird einen Zwischenweg zwischen dem jetzigen Assoziierungsverhältnis und dem Vollmitgliedsschaftverhältnis zu gehen.

Die Frage endgültig zu beantworten vermag ich nicht. Die Türkei macht große Fortschritte im Bereich Menschenrechte, Wirtschaftspolitik, Entfernung des Militärs aus den Entscheidungsfindungsmechanismen, aber es ist noch ein weiter Weg. Die Beitrittsverhandlungen haben dazu geführt, dass das Leben der Menschen in der Türkei angenehmer wurde. Wenn die Menschen in der Türkei allerdings vor dem Eintritt in die Europäische Union feststellen werden, welche Zwänge sich aus einer derartigen Mitgliedschaft ergeben, werden die Türken sich die Frage mit Sicherheit noch einmal stellen.

Ruth Jakoby: Die Türkei ist ein islamisches Land, Sie haben es angesprochen. Ist die Europäische Union christlich? Welche Rolle spielt die Religion bei der kulturellen Identität Europas?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mir diese einengende Definition dessen was europäisch wäre nie zu Eigen gemacht. Ich bin nicht für ein Europakonzept das sich darin erschöpft, die historisch von christlich-jüdischem Denkend geprägten Länder in einer Europäischen Union oder einer Europäischen Gemeinschaft zusammen zu führen.

Ich bin der Meinung, dass zum europäischen Kontinent das christlich-jüdische, das humanistische Erbe gehört, aber zu dieser europäischen Erbmasse gehört auch die Aufklärung, gehört offene, breit ausholende Philosophie, gehört eine bestimmte Auffassung dessen was Menschenrechte, nicht nur als Minimum darstellen, sondern als Maximum darstellen können.

Für mich ist Europa kein Christenclub, das habe ich so nie gesehen. Im Übrigen muss man ja wissen, dass in der Europäischen Union der Islam heute schon die zweite am meisten verbreitete Religion ist und ich kann auch keinen Widerspruch zwischen einem Europa, das sich auf christlichem Nährboden entwickelt hat und islamisch geprägten Regionen erkennen, wenn es darum geht beide zusammen zu führen. Ich habe auch kein Islambild das so wäre als ob alle Moslems dieser Welt Gangster und Terroristen wären, das ist nicht so. Das ist dezidiert nicht so.

Ruth Jakoby: Europa hat jetzt eine Verfassung, der Lissabonvertrag. Können wir damit zufrieden sein?

Jean-Claude Juncker: Ich bin mit Verträgen nie zufrieden, weil sie nie so sind wie ich sie gerne gehabt hätte. Wenn ich nur mit mir hätte verhandeln können, wären diese Verträge eindeutig besser. Aber es reicht nicht, nur mit mir zu reden und dabei ist noch nicht mal sichergestellt ob ich mich nicht mit mir auch so in Meinungsverschiedenheiten verstrickt hätte, dass ich und ich keinen Text zustande gebracht hätten.

Nein, das ist ein Kompromiss, das ist ja schon etwas wenn 27 Staaten auf einem, sich durch massive Gegensätze zwischen Nationen auszeichnenden Kontinent so sehr aufeinander zubewegen, dass sie imstande sind einen gemeinsamen Vertrag zu verabschieden. Das war ja schwierig genug.

Die besten Verträge führen zu schlechten Ergebnissen wenn die Politiker nicht gut sind und die schlechtesten Verträge führen zu außergewöhnlichen Ergebnissen wenn die Politik in Form und in Schuss ist.

Ruth Jakoby: Der frühere amerikanische Außenminister Kissinger hat einmal gespottet, er wisse ja nie wen er anrufen solle wenn mal in der Welt irgendwo die Hütte brennt. Hat Europa jetzt eine solche Telefonnummer? Ist es die von Herman van Rompuy? Ist es die von Frau Ashton oder ist alles doch wieder ganz anders?

Jean-Claude Juncker: Nein, es ist so wie Sie sagen, van Rompuy ist Vorsitzender des Europäischen Rates, insofern der Spitzenmann der europäischen Regierungschefs, bietet sich also mit seinem Hörer an wenn Amerikaner mit Europäern reden möchten. Und Frau Ashton ist zuständig für europäische Außenpolitik und ihr amerikanischer Homolog wird ihre Telefonnummer auch zur Verfügung haben, wenn er oder sie, im aktuellen Fall Frau Clinton, sie braucht.

Kissinger hat das übrigens Anfang der 1970er Jahre gesagt. Wir sind jetzt im Jahre 2010, es hat sich vieles geändert und Amerikaner und andere finden immer diejenigen mit denen sie reden müssen. Wenn der amerikanische Finanzminister mir Europäern über Währungspolitik reden möchte, ruft er mich an. Das tut er regelmäßig. Ich rufe den Japaner und den Chinesen an und die rufen mich an. Es ist nicht so, dass wir da Telefonbücher mit uns herumschleppen würden, mit tausenden von Telefonnummern. Das ist ein falscher Eindruck den man haben könnte.

Ruth Jakoby: Viele dachten ja, dass Sie, Jean-Claude Juncker, einen dieser Posten übernehmen würden und in der großen französischen Tageszeitung Le Monde las es sich ja auch kurz vor der Entscheidung so, also ob Sie Interesse hätten?

Jean-Claude Juncker: Ich hatte auch Interesse, weil viele, wenn nicht alle mich darauf angesprochen hatten, ob ich diesen Job als Präsident des Europäischen Rates nicht zu übernehmen gedenken würde. Ich habe das dann auch eine Zeitlang gedacht, ich habe allerdings immer deutlich gemacht, dass ich nicht Grüssaugust werden wollte und auch nicht jemand der sich auf das Worterteilen beschränken würde, dass ich mich nicht im Widerspruch zum Kommissionspräsidenten bewegen möchte. All dies waren Debattenbeiträge von mir, die nicht in jedermanns Ohr so klangen, dass die Lust an meinem Ratsvorsitz sprunghaft angestiegen wäre. Und so sind dann auch einige nicht damit einverstanden gewesen. Das ist nicht mein Problem, das kann aber ihres werden.

Ruth Jakoby: Sind Sie zu stark für die großen nationalen Regierungen, für Deutschland, für Frankreich? Frau Merkel hat sich ja mit Herrn Sarkozy geeinigt in dem Verfahren.

Jean-Claude Juncker: Ich bin nie der Auffassung gewesen, dass ein luxemburgischer Premierminister seinen Sinn für Geographie und Demographie abgeben sollte an der Garderobe des Europäischen Rates oder des Europäischen Ministerrates.

Wir wissen, dass wir ein kleines Land sind. Ich bin auch der Meinung, dass größere Länder größere Verantwortung in der Europäischen Union tragen, obwohl sie keine größeren Rechte haben als die Rechte der kleineren Länder. Aber ich glaube nicht, dass große Flächenstaaten es mögen wenn jemand mit etwas kleinstaatlicherer Provenienz ihnen ans Zeug flickt, das mögen sie nicht.

Ruth Jakoby: Ist nicht, Jean-Claude Juncker, jemand wie Sie der aus einem kleinen EU-Land kommt geradezu prädestiniert für eine große Rolle in Europa? Denn Leute aus kleinen Ländern sind eher Brückenbauer, weil sie weniger Misstrauen erwecken als ein Land das 60 oder 80 Millionen Bürger im Kreuz hat.

Jean-Claude Juncker: Ich werde nicht von dem Wunsch angetrieben eine große Rolle in Europa zu spielen. Ich tue das was meines Handwerkes ist und das wozu mich meine Überzeugungen tragen und interpellieren. Das tue ich gemeinsam mit Anderen. Ich bin Vorsitzender der Eurogruppe, das zeigt eigentlich, dass an dem was Sie sagen einiges dran ist, dass man manchmal jemanden braucht der eher vermittelnd antreiben kann als jemand der den Andern die Lust an Europa vertreibt, davon haben wir genug.

Ruth Jakoby: Sie sind seit 2004 Chef der Eurogruppe. Eigentlich war das ein Job auf 2 Jahre, jetzt haben wir das Jahr 2010, Sie sind für 2 Jahre wiedergewählt. Sie neigen zur Beharrlichkeit im Amt. Sie sind ja auch schon seit 15 Jahren Premierminister.

Jean-Claude Juncker: Das bin ich weil ich mit meiner Partei regelmäßig Wahlen gewinne. Ich bin ja nicht per Putsch an die Regierungsmacht gekommen. Der Vorsitzende der Eurogruppe wird ja von den Andern gewünscht; das Mandat wurde 3 mal verlängert, obwohl es nicht hätte werden dürfen. Ich nehme das zustimmend zur Kenntnis.

Ruth Jakoby: Wie schafft man es, sich so lange an der Macht zu halten?

Jean-Claude Juncker: Herr, hilf mir mich selbst nicht so wichtig zu nehmen.

Ruth Jakoby: Letzte Frage, ein Zitat von Jean-Claude Juncker, noch mal einer dieser schönen kernigen Sätze: „Es ist alles gesagt, aber noch nicht von jedem,“ resignierter Spruch nach einer dieser vielen Verhandlungsnächte. Wie effektiv ist Europa?

Jean-Claude Juncker: Der Spruch ist nicht von mir sondern von Karl Valentin, aber ich bin ihnen dankbar für diese mich ehrende Verwechslung. Ich gebrauche ihn allerdings sehr oft.

Was man Menschen gut erklären muss und was man sich selbst auch immer aufsagen muss, ist, dass man sich um die europäischen Dinge jeden Tag neu bemühen muss. Wer denkt, die europäischen Fragen wären endgültig beantwortet, nur weil wir einen Vertrag abgeschlossen haben, der irrt sich fundamental. Um das europäische Wasser muss man sich jeden Tag kümmern, sonst tritt es über die Ufer.

Dernière mise à jour