Le Premier ministre Jean-Claude Juncker au sujet du projet d'Union europénne et du G20 à Toronto

AWV-Informationen: Herr Premierminister, Europa hat in den letzten Monaten "in einen Abgrund geschaut" den vor Jahren niemand so für möglich gehalten hätte. Sieht der dienstälteste Regierungschef der EU und Vorsitzende der "Eurogruppe" die Gefahr, dass Europa auseinanderdriftet? Wie bewerten Sie die ökonomischen und politischen Gegenläufigkeiten innerhalb der Eurozone, in Nord und Süd und innerhalb der EU bei den "Nichteurostaaten" Südosteuropas mit ihren spezifischen Problemen?

Jean-Claude Juncker: Die Gefahr des Auseinanderdriftens, des Divergierens, die gibt es seit es die Europäische Union und ihre Vorgängerorganisation, die EWG, gibt. Man ist sich nicht völlig darüber im Klaren, dass Europa nicht nur der komplizierteste Kontinent ist, sondern dass er auch auf eine höchst komplizierte Art und Weise regiert wird. Wenn ich mir beispielsweise die 16 Staaten ansehe, die jetzt Mitglieder der Eurozone sind, dann hat man es nicht nur mit 16 Regierungen zu tun, sondern auch mit 16 Parlamenten, insgesamt mit über 60 Parteien in diesen 16 Regierungen.

Koordinieren ist also ein schwieriges Geschäft. Ich sehe die Gefahr des Auseinanderdriftens dauernd. Ich sehe sie jetzt nicht besonders ausgeprägt in dem Moment, wo wir die Gesamt-Europroblematik haben. Es kommt viel mehr darauf an, zu zeigen, dass dieser Euroraum ein inhaltlich geschlossener Raum ist. Er ist es - nicht vollständig. Es wird Aufgabe der politischen Führung sein, diesen Zustand der Geschlossenheit herzustellen. Ich bin eigentlich dagegen, dass man Europa in Unterregionen einteilt, Nordeuropa, Osteuropa, Westeuropa, Mitteleuropa, das macht wenig Sinn. Wir haben 27 Mitglieder der Europäischen Union, 16 Mitglieder die um den Euro zusammengeschlossen sind, bald 17 Mitglieder. Man darf da nicht in Blockdenken verfallen. Wir brauchen eine intimere Koordinierung auf der Ebene der Eurozone, aber nicht einen mentalen oder politisch gefassten Ausschi uss derer, die nicht in der Eurozone sind.

AWV-Informationen: Da möchte ich noch mal nachhaken: Die EU steht nicht vor der Alternative Staatenbund oder Bundesstaat - trotzdem - gerade angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise, bzw. deren Entwicklung in den letzten Wochen - reicht das bisherige Instrumentarium der EU aus, um wirksam auf derartige gravierende Entwicklungen vorbereitet zu sein, bzw. reagieren zu können? Fachleute registrieren einen zunehmenden "Bedarf an Koordination ".

Jean-Claude Juncker: Ich bin nie der Meinung gewesen, dass das Instrumentarium ausreicht. Ich bin aber auch nicht der Meinung, dass, wenn wir das gesamte Instrumentarium, was wir brauchten, hätten, dass es dann auch ausreichend nützt. Es kommt weniger auf Verträge, juristische Festlegungen an. Es kommt aber sehr wohl darauf an, dass der politische Wille derer, die die Verträge und die Regeln umsetzen, ein Integral ist. Wir haben verbindlich abgemacht, dass Schuldendefizitgrenzen zu respektieren sind. Sie werden es nicht. Aus vielerlei Gründen. Es kommt jetzt darauf an, dass diejenigen, die diese Regeln aufgestellt haben, diese Regeln auch anwenden wollen. Ich bin niemand, der blindes Vertrauen in Verträge hätte, es kommt auf den politischen Willen an.

AWV-Informationen: Welche Zukunft hat der Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt angesichts der enormen staatlichen Schulden, die derzeit vorhanden sind? Reicht der Stabilitätspakt zur möglichen Rettung eines Eurolandes nach den Erfahrungen der letzten Monate aus? Ist die Schaffung eines Europäischen Währungsfonds eine zusätzliche Alternative?

Jean-Claude Juncker: Er reicht aus, wenn diejenigen, die ihn umsetzen müssen, sich strikt an die Auflagen halten. Sie halten sich nicht strikt daran. Insofern muss man die Auflagen, die Sanktionen, Strafmaßnahmen etwas stringenter fassen. Ich bin absolut der Auffassung, dass wir entlang der von Schäuble definierten Grundlinien einen Europäischen Währungsfonds schaffen, damit wir auf derartige Krisen wirklich instrumental besser vorbereitet sind.

AWV-Informationen: In einer Phase, da das Misstrauen auf den Märkten ganze Länder und Bankensysteme in die Enge treibt, hilft nur Offenheit, das ist eine Lehre aus den Ereignissen der letzten Monate. Was steht jetzt noch der Veröffentlichung der Bankenstresstests im Wege?

Jean-Claude Juncker: Ich bin für die Veröffentlichung der Resultate der Bankenstresstests. Die Bankenstresstests ergäben wenig Sinn, wenn wir die Ergebnisse nicht veröffentlichten. Würde man sich weigern, die Ergebnisse zu veröffentlichen, käme der Verdacht sofort auf, dass es etwas zu verstecken gäbe. Insofern bin ich der Meinung, dass wenn wir auf der Ebene der Eurozone die Bankenstresstests machen, dann müssen wir diese auch veröffentlichen.

AWV-Informationen: Wie ist Ihre Bewertung des G20 Gipfels in Toronto?

Jean-Claude Juncker: Ich halte die Tatsache, dass sich die 20 führenden Wirtschaftsnationen zu gemeinsamen Analysen, zu partiell gemeinsamen Handlungen, treffen, verabreden, für einen an sich begrüßenswerten Vorgang. Man darf allerdings die Entscheidungsqualität, zu der die G20 Gruppe fähig wäre, nicht mit Erwartungen überfrachten. Diese bleiben das gesamte Geschehen begleitende, unabhängig sich bewegende Staaten, mit der Ausnahme der Staaten der Europäischen Union, die gemeinsam ihre Vorstellungen vortragen. Die G20 wird sich nicht zu einer Art Weltwirtschaftsregierung entwickeln können, die per Mehrheit Amerikaner, Kanadier und andere in die Schranken weisen können. Die Teilnehmer haben seit einem Jahr den Eindruck erweckt, als ob sie das Heft des Handelns alleine in der Hand hätten. Das ist nicht so. Da gibt es einige am Tisch, denen das nationale Hemd näher ist als die G20 Gruppe.

AWV-Informationen: War dann der Versuch, eine globale Finanztransaktionssteuer auf dem G20 Treffen zu initiieren, zu weitgehend? Was heißt das für die EU? Wird in der EU die Bankenabgabe, mit der Kreditinstitute einen Anteil an der Beseitigung der Schuldenkrise leisten sollen, realisiert werden?

Jean-Claude Juncker: Ich halte eine globale Transaktionssteuer für a) machbar und b) wünschenswert, habe aber nie gedacht und geglaubt, nicht mal gehofft, dass die G20 Gruppe zu einer derartigen Entscheidungslage käme. Ich bin deshalb der Meinung, dass wir für die Transaktionssteuer eine europäische Lösung brauchen, von der ich mir wünsche, dass sie so viel Sprengkraft entwickeln wird, dass andere Länder nachziehen können.

AWV-Informationen: Sehen Sie die Tendenz, dass sich ein Teil der europäischen Arbeitnehmer vom europäischen Projekt abwendet, angesichts von etlichen unpopulären Einschnitten in den einzelnen Mitgliedsstaaten? In Griechenland, Frankreich und Spanien gibt es Proteste. Und es gibt ja schon Stimmen, in Deutschland auf alle Fälle, die sozialen Unfrieden befürchten. Braucht Europa da soziale Mindeststandards?

Jean-Claude Juncker: Diese Gefahr sehe ich. Ich sehe sie seit vielen Jahren. Seit dem "sich Heranpirschen" an die EU, an den einheitlichen gemeinsamen Binnenmarkt. Wir haben alles planiert, reguliert, harmonisiert, von der Mehrwertsteuer über die Konsumsteuer bis hin zu der Abschaffung der den Handel hemmenden Unterschiede zwischen den Staaten. Aber wir haben die soziale Frage völlig unterbeleuchtet. Ich bin absolut der Meinung, dass wir in Sachen Europa nicht weiterkommen, wenn wir weiterhin bewusst in Kauf nehmen, dass sich große Teile der Arbeitnehmerschaft vom europäischen Projekt verabschieden. Man wird Europa nicht gegen die Menschen machen können. Dies ist keine Arbeiterromantik, wenn ich das sage, es ist kein sozialer Schmusekurs, der mich das sagen lässt. Aber es geht darum, dass man ordnungspolitisch alle gesellschaftlichen Kräfte einbindet, vor allem die Arbeitnehmerschaft.

Deshalb bin ich sehr entschieden dafür, dass wir in der Europäischen Union soziale Mindeststandards brauchen, zum Beispiel im Bereich der Arbeitnehmerrechte, des Kündigungsschutzes oder sogar beim Mindestlohn, der natürlich nicht einheitlich sein kann, aber trotzdem auf X Prozent des Durchschnittseinkommens des jeweiligen Landes festgelegt werden könnte.

AWV-Informationen: Europa ist ein Projekt gegen Krieg und Zerstörung, gegen Totalitarismus, für Freiheit und Demokratie. Ist der Kontinent Immanuel Kants Traum vom "ewigen Frieden" deutlich nähergekommen oder besteht die Gefahr, dass auf die Wirtschafts- und Finanzkrise auch eine Krise der Demokratie folgt? Stichwort: Populismus, Rassismus und Nationalismus, so zum Ausdruck gekommen bei den jüngsten Wahlen in einigen Südost- oder auch westeuropäischen Mitgliedsstaaten.

Jean-Claude Juncker: Ich kann nicht ausschließen, dass, wenn wir Fehler an Fehler reihen, aus der Wirtschafts- und Finanzkrise auch noch eine soziale Krise erwächst, die Wirtschafts- und Finanzkrise sich in eine soziale Krise hinein manövriert. Die Menschen sind in ihrem Gerechtigkeitssinn zutiefst betroffen, weil das, was an Anstrengungen, die die Staaten für die Rettung der Banken unternommen haben, nicht immer auf Verständnis trifft. Das musste gemacht werden wegen der Schädigung der Realwirtschaft, die entstanden wäre, wenn wir die Banken nicht gerettet hätten. Es ist Tatsache, dass dies getan wurde und dass aber jetzt so getan wird, als sei nichts passiert, also nach der Krise ist vor der Krise, dass es jetzt wieder schick wäre, kurzfristig zu denken, eine Politik des billigen und schnellen Geldes als tugendhaft darzustellen, anstatt sich auf den Grundsatz zu verständigen, dass man nur dann zum Wohlstand kommt, wenn man auch arbeitet - echt was tut. Anstatt sich mit undurchsichtigen Finanzprodukten in einen neuen Reichtum hinmogeln zu wollen. Wenn dieses Grundmuster nicht total verändert wird, dann wird der Gerechtigkeitssinn der Menschen so sein, dass sie unser gesamtes soziales und wirtschaftliches System ablehnen. Insofern muss man wissen, dass wir hier zum gerechten Ausgleich, zur sozialen Gerechtigkeit und zum ordnungspolitischen Gleichgewicht stärker kommen müssen.

AWV-Informationen: Eine letzte Frage: Welches Ergebnis wünschen Sie sich am Ende Ihres derzeitigen europäischen Mandats?

Jean-Claude Juncker: Dass die Menschen nicht in Selbstzweifel versinken und sich mehr am Gegeneinander erfreuen, als am Miteinander. Dass wir die Dinge, die gegenwärtig nicht richtig laufen, richtiger machen und dadurch die Zustimmung zu Europa wieder größer wird.

AWV-Informationen: Herr Premierminister, ich bedanke mich ganz herzlich für das Interview.

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