"Neue Herausforderungen, neue Strategie", Jean Asselborn au sujet du nouveau concept statégique de l'OTAN

Tageblatt: Herr Minister, warum ist eine neue Strategie für die NATO überhaupt erforderlich?

Jean Asselborn: Es ist eigentlich das erste Mal, dass die NATO ihren Vertrag verändern will. Das strategische Konzept hingegen wurde bereits angepasst. Zuletzt 1999. In der Zwischenzeit hat sich jedoch wieder einiges verändert. Die Attentate vom 9.11.2001, die anschließende zunehmende Bedrohung durch internationalen Terrorismus z.B. stellen uns vor neue Herausforderungen. Um diesen gerecht zu werden, hat eine Expertengruppe unter der früheren US-Verteidigungsministerin Madeleine Albright neue Konzepte erarbeitet.

Tageblatt: Die weit über das bisherige Verteidigungsbündnis hinausgehen.

Jean Asselborn: Wir stehen in der Tat vor der Frage, ob wir weiterhin ein reines Beistandsbündnis für den Fall eines Angriffes auf einen der Mitgliederstaaten bleiben, so wie es der berühmte Artikel 5 vorsieht, oder aber ob wir uns neu aufstellen, um auch anderen Herausforderungen gerecht zu werden. So wie wir das ja bereits tun, in Afghanistan oder im Kosovo z.B. Kann die NATO nicht auch bei der Terrorismusbekämpfung aktiv werden, bei der sogenannten Cyber-Kriminalität oder bei der Sicherung von Energietransporten? Die NATO war bei den Nahost-Gesprächen in Anapolis z.B. auch im Gespräch als Sicherheitsgarant im Gazastreifen oder im Westjordanland. Sind das Aufgaben für die NATO? Im Augenblick gibt es zu diesem Punkt zwei grundsätzliche Positionen bei den Mitgliedern. Die einen, eher die westlichen Länder, sehen in den gemachten Vorschlägen durchaus Potenzial und wollen den Weg gehen. Die anderen, zumeist östlichen Länder, tendieren eher dazu, bei Artikel 5 als Hauptgrundlage für das Bündnis zu bleiben. Das muss man geschichtlich verstehen und akzeptieren. Daher rührt auch die dritte Überlegung, die"comprehensive approach", die beides verbindet: Einerseits bleibt die NATO Garant der Sicherheit, andererseits wird sie bei Einsätzen zugleich bei dem Wiederaufbau und der Entwicklung eines Landes aktiv. So wie in Afghanistan.
Auch hier wiederum gibt es zwei Gruppen. Die einen, hauptsächlich die USA und Großbritannien plädieren für ein solches Konzept.
Die anderen, darunter die Beneluxländer, Frankreich, Deutschland oder Norwegen, wollen die NATO ebenfalls weiterhin als Garant für die Sicherheit. Sie meinen jedoch, die anderen Bereiche sollte man unter der Oberhand der Vereinten Nationen und der Nichtregierungsorganisationen belassen.

Tageblatt: In Lissabon soll auch über die Zukunft der nuklearen Abschreckung diskutiert werden. Gibt es überhaupt eine Chance auf eine Annäherung in dieser Frage?

Jean Asselborn: Die Problematik der nuklearen Abschreckung ist an die Frage nach der Suche von Wegen, die Sicherheit auf einem möglichst niedrigen Niveau zu garantieren, gekoppelt. Die Gegensätze in diesem Bereich kann man nicht leugnen. So beharren etwa die USA, Großbritannien und Frankreich auf der nuklearen Abschreckung. Andere Länder, wie Deutschland und die Beneluxstaaten, plädieren in einem gemeinsamen Schreiben dafür, die taktischen, nuklearen Waffen in Europa abzubauen. Einen solchen Abbau fordern sie ebenfalls bei konventionellen Waffen. NATO-Generalsekretär Rasmussen hat in seinem Gipfeldokument festgehalten, dass die NATO eine nukleare Ausrichtung behalten solle. Jedenfalls so lange, wie es Atomwaffen in der Welt gibt.

Tageblatt: Die Abrüstungsfrage wird von den von Ihnen zuletzt genannten Staaten auch an den Raketen-Schutzschild gekoppelt.

Jean Asselborn: Wir müssen entscheiden, ob wir einen Raketenschutzschild wollen oder nicht. Persönlich war ich einer der ersten, die sich gegen das erste Modell eines solchen Schutzschirmes als bilaterale Abkommen zwischen den USA und Polen sowie der Tschechei ausgesprochen haben. Inzwischen reden wir von einem NATO-Raketenschutzschild, was zu begrüßen ist. Als Luxemburger Außenminister kann ich Ihnen nicht sagen, ob wir wirklich eine solche Raketenabwehr gegen mögliche Angriffe aus dem Iran oder aus Nordkorea brauchen. Aber eines glaube ich ganz sicher: Wenn wir einen solchen Raketen-Schutzschild wollen, dann geht das nur gemeinsam mit Russland. Dabei reicht es nicht, Russland vor die Wahl zustellen, den Vorschlag entweder anzunehmen oder abzulehnen. Vielmehr muss Russland dann auch konzeptuell stark eingebunden werden.
Das haben wir auf der Ebene der NATO-Außenminister sehr ausgiebig diskutiert. Auch mit dem russischen Außenminister Lawrow. Aus diesem Grunde wird der russische Präsident Medwedew auch am NATO-Russland-Gipfel morgen teilnehmen.

Tageblatt: Die Idee, Russland konzeptuell von Anfang an bei einem Raketenschutzschirm einzubinden, stößt nicht nur auf Begeisterung. Woran liegt das?

Jean Asselborn: Natürlich gibt es Länder, die hier ihre Bedenken haben. So sagen z.B. Großbritannien und Frankreich, beides atomare Mächte, dass sie zwar nicht grundsätzlich gegen eine Einbindung Russlands an einen Raketenschutzschirm für Europa sind. Allerdings dürfe ihre nukleare Autonomie und Entscheidungsgewalt hiervon nicht betroffen werden.
Um auf Ihre vorherige Frage zurückzukommen. Ein solcher Raketenschild bietet auch Abrüstungspotenzial. Einige Länder, darunter Luxemburg, fordern parallel zum Raketenschutzschild einen Rüstungsabbau. Nicht zuletzt, weil hier Gelder freigesetzt werden könnten, die man sehr gut für die Umsetzung der Millenniumsziele einsetzen könnte. Mit 20 Prozent Einsparungen im Rüstungsbereich könnte man bei der Umsetzung der Millenniumsziele große Fortschritte machen.

Tageblatt: Wie weit sollen die Beziehungen zu Russland denn gehen? Hier scheint man noch weit von einem Konsens entfernt.

Jean Asselborn: Die baltischen Länder, Polen, die Tschechei oder Rumänien z.B. hegen große Bedenken gegenüber Russland: Das ist kein Geheimnis. Ich sagte es schon. Das muss man von der geschichtlichen Entwicklung her verstehen. Andere Länder jedoch wie Deutschland, auch Frankreich, Belgien Luxemburg und die Niederlande sehen in Russland einen strategischen Partner, fast schon einen Verbündeten. Wissen Sie, die Geographie offenbart, dass wir den europäischen Kontinent mit Russland teilen. Und wir befinden uns nicht mehr in der gleichen Logik wie vor dem Mauerfall. Dennoch, die gegensätzlichen Standpunkte liegen noch weit auseinander. Ein neues Verhältnis zu Russland werden wir ganz sicher nicht im Rahmen einer Sitzung z.B., erreichen können.

Tageblatt: Was auch mit dem Erweiterungskonzept der NATO zu tun haben dürfte? Stichwort Georgien und Ukraine. Beides Vorgänge, die Russland seinerseits mit Argwohn betrachtet.

Jean Asselborn: Ich glaube, die Aufregung hat sich inzwischen etwas gelegt. Nach dem Konflikt in Georgien laufen die Verhandlungen zwischen Georgien und der NATO über einen Beitritt weiter. Die Ukraine ist neuerdings nicht mehr direkter Kandidat. Und der dritte Problemfall, die frühere jugoslawische Republik Mazedonien kann erst gelöst werden, wenn der Streit um die Namensgebung beigelegt ist.
Da sind wir eigentlich bereits mitten bei einem anderen wichtigen Punkt. Generell bedarf es einer besseren Absprache der NATO-Missionen, besonders mit Blick auf die Europäische Union. Die Zusammenarbeit NATO-EU funktioniert nicht auf einer zufriedenstellenden Ebene. Das hat auch mit dem ungelösten Zypernkonflikt und z.B. der unklaren EU-Linie gegenüber der Türkei, einem NATO-Mitglied zu tun. Hieran müssen wir weiter arbeiten.

Tageblatt: Frankreich und Großbritannien haben eine militärische Zusammenarbeit vereinbart. Wie ist es denn um eine eigene europäische Verteidigungspolitik bestellt und wie sollte sich eine solche gegenüber der Nato positionieren?

Jean Asselborn: Die Europäische Union sollte sich auf "softpower", auf sanfte Macht konzentrieren. Im Rahmen einer besseren Zusammenarbeit mit der NATO kann sie im Aufbaubereich, die NATO im Sicherheitsbereich aktiv werden. Das zeigt das Kosovo, aber auch der Fall Georgien z.8., wo die NATO nicht hin kann, die EU aber sehr wohl. Dass die EU eine eigene Verteidigungspolitik au-ßerhalb der NATO aufbauen sollte, kann ich mir nicht vorstellen.

Tageblatt: Über Afghanistan haben wir bereits mehrmals gesprochen. Wie stehen Sie zu den Rückzugsplänen für das Jahr 2014. Afghanische Menschenrechtsorganisationen warnen vor einem übereilten Abzug. Sie befürchten eine Rückkehr der Taliban.

Jean Asselborn: Das Jahr 2014 gilt als ein Ziel. Das wurde auf der letzten Londoner Konferenz so festgehalten. Damals hat auch der afghanische Präsident Karsai, der in Lissabon übrigens dabei sein wird, so gesehen. Bis 2014 sollen alle Ausbildungsprogramme stehen und die afghanischen Sicherheitskräfte demnach für die eigene Sicherheit sorgen können. Ob alles wirklich so ablaufen wird, ist ungewiss. Aber man muss sich Ziele setzen. Bis 2014 sind es noch vier Jahre, d.h. Dass die NATO-Kräfte dann bereits im 13. Jahr in Afghanistan präsent gewesen sein werden.

Tageblatt: Bedarf es überhaupt noch der NATO?

Jean Asselborn: Eigentlich bin ich froh, dass es die NATO gibt. Was wäre die Alternative? Ohne NATO würde jedes Land seine eigene Verteidigungsstrategie aufbauen. Zwischen den Großmächten wäre eine integrierte Verteidigungspolitik wohl kaum möglich, anders als bei Verbündeten innerhalb der NATO. Sicher sind wir noch nicht so weit, wie wir sein könnten. Dennoch, die NATO als Organisation hat ihre Daseinsberechtigung.

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