Jean-Claude Juncker au sujet des dangers qui pèsent sur l'avenir du continent européen et du "Rheinischer Merkur"

Rheinischer Merkur: Europa und der Euro scheinen in diesen Tagen in besorgniserregendem Zustand. Ist Europa wirklich in Gefahr?

Jean-Claude Juncker: Nein, ich sehe das nicht so. Ich habe auch keine Angst, weder um den Fortbestand des Euro noch um den Fortbestand der Europäischen Union. Ich mache mir vielmehr Sorgen um die europäische Weiterentwicklung. Diese Sorge wird noch nicht von vielen geteilt, in zehn oder 15 Jahren wird das aber anders sein. Meine Sorge ist, dass die Gemeinschaftsmethode, also das gemeinsame Entscheiden aller EU-Mitglieder, immer mehr in Verruf gerät, dass man sich stattdessen in eine intergouvernementale Logik begibt, die Großen der EU unter sich ausmachen, was für die ganze Gemeinschaft gut ist. Das nutzt dann vorrangig den Interessen dieser größeren Mitgliedstaaten. Dass in Deutschland Bund und Kommunen das europäische Gemeinwohl langsam aus den Augen verlieren, das macht mir schon Sorge, weil die, die sich auf diesen Weg begeben, dafür oft gute Effizienzgründe nennen. Sie sagen dann: Es ist doch besser, wir entscheiden das zügig im Rahmen des Europäischen Rates, als dass wir uns in diese kleinteilige Entscheidungsprozedur der Europäischen Union weiterhin einbinden. Das wird dann eines Tages zur Konsequenz haben, dass sich nicht mehr alle Mitgliedstaaten und ergo auch nicht mehr die Mehrzahl der Bürger in dieser Europäischen Union aufgehoben fühlen, weil die für sie dann zu einem abstrakten europäischen Konstrukt werden wird.

Rheinischer Merkur: Was hat zuletzt Anlass gegeben für Ihre Sorge, die Mittelmächte könnten vergessen werden?

Jean-Claude Juncker: Beispielsweise bemächtigt sich der Europäische Rat, dem ich ja angehöre und den ich nicht dauernd kritisieren möchte, einiger Themen, von denen es besser wäre, er würde sich fernab dieser Themen halten. Beispielsweise kümmern wir uns sehr intensiv jetzt als Europäischer Rat um den europäischen Haushalt, um den EU-Haushalt. Dies sollte man dem Parlament, der Kommission und den dafür zuständigen Ministern überlassen und nicht, weil es sich für einige innenpolitisch lohnt, auf die Ebene des Europäischen Rates hieven. Es wäre besser, man bliebe bei der bisherigen Arbeitseinteilung zwischen den sogenannten Chefs und ihren Ministern und den anderen Institutionen. Denn, bei aller Hochachtung, die ich für meine Kollegen hege, nicht jeder am Tisch des Europäischen Rates ist ein Spezialist in europäischen Haushaltsfragen. Ich glaube sogar, dass die wenigsten das sind. Aber der Europäische Rat wird langsam zur ersten und letzten Instanz. Und das ist nicht gut. Und wenn wir die Zuständigkeiten anderer dadurch aushöhlen, dass wir uns im Europäischen Rat fast aller Fragen bemächtigen, dann halte ich das für eine Fehlentwicklung, die es zu stoppen gilt. Ich glaube aber nicht, dass sie noch zu stoppen ist.

Rheinischer Merkur: Wie also reparieren wir das?

Jean-Claude Juncker: Es muss Schluss sein mit dem Drang vieler Regierungschefs, dauernd der nationalen Öffentlichkeit mitzuteilen, dass sie sich in Europa pausenlos gegen andere durchsetzen. Dieses Eindruckschinden vor nationaler Kulisse wirkt auf mich sehr störend, und es schadet der europäischen Idee. Es muss doch unser aller Anliegen sein, deutlich zu machen, dass wir uns in den europäischen Gremien gemeinsam um die richtigen Antworten für die Europäer von heute und von morgen bemühen. In Wirklichkeit gibt es die Gegensätze in den Positionen oft gar nicht, die da behauptet werden. Beispielsweise musste Berlin nicht gegen andere einen permanenten Krisenmechanismus zur Lösung von Euro-Finanzkrisen durchsetzen. Alle wollten das. Wieso man dann so tut, dass nur einer das möchte, das ist mir schleierhaft.

Rheinischer Merkur: Das Problem rührt doch aus dem Konstruktionsmerkmal, dass Europa ein Staatenbund ist und kein Bundesstaat. Der Staatenbund wird solche Gegensätze immer kennen in der Spannung zwischen Europa und dem Nationalstaat. Ist das zu überwinden?

Jean-Claude Juncker: Nein, ich glaube nicht. Zwar wandelt die Europäische Union ja ohnehin zwischen den Welten des Staatenbundes und des Bundesstaates. Aber einen europäischen Bundesstaat sollte es nicht geben. Das entspräche dem Bürgergefühl nicht, die Menschen möchten Saarländer und Bayern, Tiroler und Katalanen, Flamen und Wallonen bleiben und dennoch Belgier, Spanier und Deutsche und eben auch Europäer sein. Man darf den Menschen dieses Gefühl der direkten Nähe zu den Entscheidungsgremien nicht wegnehmen. Es geht um Subsidiarität: für alle Entscheidungen die sinnvoll unterste Verantwortungsstufe zu nutzen und nur die übergreifenden Fragen national oder europäisch entscheiden zu lassen. Dann kommt es manchmal zu Schnittmengen, die muss man als nationaler Politiker ertragen, wenn man sich das große Ganze des europäischen Integrationsversuches vor Augen hält.

Rheinischer Merkur: Wenn man zurückblickt, ist Europa eine riesige Erfolgsgeschichte, gerade an seinen Krisen ist Europa gewachsen. Kann das Friedensprojekt überhaupt scheitern, da die Friedensdividende für jeden sichtbar ist?

Jean-Claude Juncker: Weder Europa noch der Euro werden sich je wieder in ihre Bestandteile zerlegen. Ich glaube an die Kraft der richtigen Argumente. Man muss sie nur nutzen. Jede Politik ist das Ergebnis von Geschichte und Geografie, und sie schreibt erneut Geschichte. Wer einen Blick auf die Zukunft wirft, wird unschwer feststellen können, dass der europäische Kontinent intensiver zusammenfinden muss, wenn er Einfluss in der Welt behalten möchte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren 20 Prozent der Erdbewohner Europäer, am Anfang des 21. Jahrhunderts waren wir noch elf Prozent. Mitte dieses Jahrhunderts werden wir noch sieben Prozent sein und am 1. Januar 2100 dann noch vier Prozent. Gleichzeitig wächst das Gewicht der Chinesen, der Inder, der Brasilianer, der Afrikaner. Davor habe ich keine Angst. Aber es wird deutlich, dass jetzt nicht die Stunde des Sich-Zurückbesinnens auf die exklusiven eigenen nationalen Kräfte gekommen ist. Vielmehr muss man nationale Stärken europäisch bündeln, um Einfluss zu behalten. Es steht nirgendwo geschrieben, dass die Europäer die Herren der Welt wären, obwohl wir uns manchmal noch so aufführen. Aber es steht überall geschrieben, dass die neue Welt multipolar werden muss, dass niemand mehr den alleinigen Anspruch auf Führerschaft erheben kann. Wenn die Welt aber multipolar wird, dann müssen wir dafür sorgen, dass in diesem Konzept der Vervielfältigung der Kräfte die europäische Stimme Gewicht behält. Darauf werden sich die Europäer, weil sie Einfluss behalten wollen, besinnen.

Rheinischer Merkur: Das ruft aber nach anderen Regeln der Zusammenarbeit.

Jean-Claude Juncker: Nein, das ruft nach anderen Einstellungen. Alle Verträge, die wir in der Vergangenheit ausgehandelt haben - von Maastricht bis Lissabon -, können Politik und Inhalt nicht ersetzen. Es kommt in Europa, bei aller Notwendigkeit der Stärkung einzelner Institutionen und bei aller Notwendigkeit, die Entscheidungsprozeduren effizient und geschmeidiger zu machen, vor allem auf den Willen und auf die Überzeugungen der handelnden Personen, sprich der handelnden Regierungen und anderer Institutionen an. Der beste Vertrag führt zu mickrigen Ergebnissen, wenn der Wille der Regierungen fehlt, den Vertrag auch umzusetzen. Umgekehrt kann ein mickriger Vertrag herrliche Ergebnisse produzieren, wenn der Wille derer, die an seiner Ausgestaltung, an seiner Weiterführung beteiligt sind, maximal ist.

Rheinischer Merkur: Fehlt es daran?

Juncker: Ein Beispiel: Den Euro haben wir mit elf Staaten gestartet. Ab 1. Januar werden wir 17 Staaten haben, andere wollen als Mitglieder folgen. Der Maastrichter Vertrag sieht vor, dass man Bedingungen erfüllen muss, es ist also kein alle a priori einschließender Vertrag, sondern ein Vertrag, der einen Weg ins Eurogebiet aufweist, der mit Kriterien, also mit Hürden gepflastert ist. Wenn also der Wille so groß ist, rasch in dieses Währungsgebiet aufgenommen zu werden, werden bei aller Anstrengung auch große Dinge möglich sein. Die Zusammenarbeit im Sehengenraum haben wir mit fünf Staaten begonnen, heute sind fast alle Mitglied in dieser europäischen Sicherheitszone und die, die es nicht sind, können nicht erwarten, es möglichst schnell zu werden. Insofern kommt es nicht nur auf Verträge an, sondern vor allem auf den Willen der Handelnden.

Rheinischer Merkur: Ist der vorhanden?

Jean-Claude Juncker: Ich bemerke, dass die, die im europäischen Allerheiligsten angekommen sind, jetzt versuchen, auch dort, wo mehr Europa notwendig wäre, mit weniger Europa vorliebzunehmen, weil sie eine öffentliche Meinung wahrnehmen, die glaubt, weitere Integrationsschritte gingen auf Kosten der nationalen Bedeutung und Befindlichkeit. Früher - und das ist noch nicht lange her - hat man die Bevölkerung systematisch und mit großer Überzeugungskraft auf den europäischen Weg mitgenommen, wenn der inhaltlich geboten war. Heute wird dem Nationalen zu oft Vorrang gegeben.

Rheinischer Merkur: Es fehlt doch offenkundig an Menschen, die die Bürger begeistern für die europäische Idee, von der wir in Wirklichkeit alle unsere politischen und ökonomischen Vorteile bezogen haben.

Jean-Claude Juncker: Ja, wer Europapolitik mit Blick auf die innenpolitische Debatte betreibt, der kann sich ja nicht begeisternd über Europa äußern, wenn zu Hause die - oft selbsterzeugte -Euro-Skepsis überwiegt.

Rheinischer Merkur: Aber das ist doch europapolitische Feigheit.

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, das ist bei denen, die ohne große Begeisterung von Europa reden, die Angst vor den Extremen, die sich an den Rändern der traditionellen und tradierten Parteienlandschaft breitmachen.

Rheinischer Merkur: Zum Erfolg des Euros: Wiederholt kommen - wie jetzt Irland - problembehaftete Länder zur Europäischen Union, und die Länder müssen sich helfen lassen. Geben Sie uns doch eine Prognose, wie das ausgehen wird.

Jean-Claude Juncker: Ich bleibe bei meiner insgesamt positiven Bilanz der Eurogeschichte. Seit Einführung des Euro am 1. Januar 1999 und bis zum Ausbruch der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit Generationengedenken haben wir im Eurogebiet eine eindrucksvolle Erfolgsgeschichte hingelegt. Wir konnten Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen. Der Euro ist auch stabil, seit seiner Einführung betrug die durchschnittliche Inflation im Eurogebiet nur 1,97 Prozent, also eine enorme Inflations- und Preisstabilitätsleistung. Und in der Finanz- und Wirtschaftskrise wäre Europa, hätte es noch 16 unterschiedliche nationale Geldpolitiken gegeben, in einem totalen währungspolitischen Chaos versunken. Das europäische Währungssystem, das die Geldpolitik in Europa national umrahmte, wäre regelrecht explodiert. Dies hätte zu verheerenden Folgen an den Arbeitsmärkten geführt, auch für die deutsche Exportwirtschaft. Eigentlich müsste man jeden Tag einen Aufsatz darüber veröffentlichen, was heute wäre, wenn es den Euro nicht gäbe, statt dass wir nur Aufsätze über die Schwierigkeiten schreiben, die es objektiverweise ja im Eurowährungsgebiet zu beobachten gibt. Mir scheint, wir schaffen es als Europäer nicht, auf Dauer stolz über das Erreichte zu sein.

Rheinischer Merkur: Sie gelten als einer der wesentlichen Architekten dessen, was wir erreicht haben, Sie haben sämtliche europäischen Preise erhalten, Sie sind "Mister Euro": Erfüllt Sie das mit Stolz?

Jean-Claude Juncker: Europa ist die große Liebesgeschichte meines Lebens. Ich habe die Chance, als Zwischengeneration die Brücke zu schlagen von den Erfindern des Integrationsgedankens zu denen, die in zehn, 20, 30 Jahren Bürger der Europäischen Union sein werden. Bei aller Fehlerhaftigkeit unseres gemeinsamen Tuns in den letzten 20 Jahren gibt es zwei Vorgänge, die von bleibender kontinentaler Bedeutung sind. Das ist die Einführung des Euro und das ist die Erweiterung der Europäischen Union nach Ost- und Mitteleuropa. Die Einführung des Euro, weil sie uns insgesamt als Wirtschaftsblock solider gegen Anfechtungen von außen gemacht hat. Die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa, weil es uns durch die Ausdehnung der europäischen Friedens- und Solidaritätssphäre gelungen ist, den Kontinent, wie ich denke, auf Dauer zu befrieden und den alten Dämonen, die noch in unseren Landschaften versteckt überlebt haben, die Möglichkeit wegzunehmen, wieder wach zu werden.

Man vergisst sehr oft, dass in Europa und an der Peripherie des Kontinentes seit dem Fall der Mauer über 25 neue Staaten entstanden sind. Staaten, die untereinander Grenzprobleme haben, ungelöste Minderheitsprobleme haben. Hätten wir die einen nicht als Mitglieder in die Solidaritätssphäre der Europäischen Union eingeführt und würden die anderen nicht von der Ausstrahlung dieser Friedens- und Solidaritätssphäre erreicht, dann hätten sie wahrscheinlich ihre Konflikte nicht mit den Methoden des politischen Dialogs, des geduldigen Zuhörens, des Aufeinanderzugehens zu lösen versucht, sondern hätten dies mit den klassischen Methoden der Politik gemacht. Man vergisst schnell, dass wir vor wenigen Jahren einen schrecklichen Krieg auf dem Balkan erlebten. Das war nicht auf einem fernen Kontinent, vielmehr wurde zwei Flugstunden von Berlin wieder gemordet, vergewaltigt, wurden Kinder umgebracht, Menschen ihrer Freiheit beraubt, Menschen vertrieben, mitten in Europa, mitten auf einem Kontinent, der keinen Widerspruch duldet, wenn er von sich behauptet, er hätte inzwischen die Spitze der Zivilisation erklommen. Was ich damit sagen möchte, ist, dass für mich, auch wenn viele sich fast genieren, dies noch in öffentlicher Rede zu erwähnen, die Europäische Union vor allem und vor allen anderen Dingen und für alle Zeiten eine Friedensunion bleibt. Wer dies aus den Augen verliert, kennt sich in der Geschichte und ihren Irrungen und Wirrungen ungenügend aus. Wir sind die einzigen Menschen, die auf einem Kontinent leben, von dem man zu Recht denkt, dass er endgültig gegen Krieg und Gewalt gefeit ist.

Rheinischer Merkur: Das ist ein hoffnungsvoller Gedanke.

Jean-Claude Juncker: Nein, ich beschreibe eine Tat, die, um ihre Kraft zu erhalten, der dauernden Pflege bedarf.

Rheinischer Merkur: Sie haben seit Ihrer Schulzeit den Rheinischen Merkur wahrgenommen, und wir haben für diesen europäischen Gedanken immer gefochten. Was hat der Rheinische Merkur für Sie bedeutet?

Jean-Claude Juncker: Sehr viel. Und nicht erst etwas, seit ich Mitherausgeber dieses Wochenblattes gewesen bin - was ich übrigens mit Begeisterung gemacht habe. Der Rheinische Merkur hatte zwei feste Grundlinien: Er hat das Europäische hochgehalten und er hat die Erkenntnis vermittelt, dass der einzelne Mensch nicht das Maß aller Dinge ist. Das hat mein politisches Denken und auch mein Benehmen im politischen Raum sehr wesentlich mitgeprägt. Es ist insofern nicht nur ein Skandal, sondern eine Schande, dass es den Rheinischen Merkur nicht mehr geben soll. Und man wird diesen Schritt eines Tages sehr bedauern. Nur, dass diejenigen, die ihn herbeigeführt haben, nicht mehr da sind, dieses Bedauern zu teilen.

Rheinischer Merkur: Es war uns eine große Ehre, dass Sie unser Herausgeber waren.

Jean-Claude Juncker: Mir auch.

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