"Je ne suis pas le dernier pro-européen". Jean-Claude Juncker au sujet du Conseil européen et de la nécessité de coordonner davantage les politiques économiques dans la zone euro

Handelsblatt:Herr Premierminister, Helmut Schmidt hat Sie als einen der letzten verbliebenen Europäer bezeichnet. Was unterscheidet einen europäischen von einem nationalstaatlichen Politiker?

Jean-Claude Juncker: Ich freue mich über das Lob von Helmut Schmidt, denn schließlich ist er nicht irgendwer. Ich sehe mich aber nicht als einen der letzten Europäer. Es gibt viele, die mit Europa immer noch Glaube und Hoffnung verbinden. Das tue ich auch.

Handelsblatt: Gibt das Management der Euro-Krise denn Anlass zur Hoffnung?

Jean-Claude Juncker: Diese Krise zeigt jedenfalls überdeutlich, dass die europäischen Nationalstaaten, so groß sie auch sein mögen, allein nicht mehr zurechtkommen. Dafür gibt es einen ziemlich einfachen Grund: Wir Europäer werden immer weniger. Anfang des 20. Jahrhunderts stellten wir noch 20 Prozent der Erdbevölkerung. Anfang dieses Jahrhunderts waren es noch elf Prozent, und Ende dieses Jahrhunderts werden es nur noch vier Prozent sein. Wenn wir in der Welt noch Gewicht haben wollen, müssen wir stärker zusammenarbeiten. Wir können und dürfen uns nicht zur Kleinstaaterei zurückentwickeln.

Handelsblatt: Luxemburg zeigt doch, dass aus Kleinstaaten große Ideen kommen können.

Jean-Claude Juncker: Unser Kleinstaat ist ja auch ein Großherzogtum.

Handelsblatt: Das in Europa allerdings nicht mehr groß mitreden darf. Wieso legen Deutschland und Frankreich auf Ihren Rat heute weniger Wert als früher?

Jean-Claude Juncker: Der deutsche Kanzler und der französische Präsident haben mir auch früher nicht andauernd die Tür eingerannt. Manchmal haben Sie meine Vermittlung allerdings gebraucht.

Handelsblatt: Zum Beispiel bei den Verhandlungen über den Europäischen Stabilitätspakt.

Jean-Claude Juncker: Ja, Kanzler Kohl und Präsident Chirac haben damals beide erklärt, dass ich erfolgreich zwischen ihnen vermittelt hätte, und das konnte ich ja schlecht dementieren.

Handelsblatt: Heute halten es Merkel und Sarkozy noch nicht mal für nötig, sie vorab über ihre gemeinsamen Initiativen zu informieren. Die deutsch-französische Erklärung von Deauville zur Währungsunion hat Sie kalt erwischt.

Jean- Claude Juncker: Das ist nicht zu bestreiten, da ich es selber öffentlich erklärt habe.

Handelsblatt: Von Ihrer Kritik an der deutschen Europapolitik dürfte Frau Merkel nicht begeistert sein. Wie oft sprechen Sie mit der deutschen Regierungschefin?

Jean-Claude Juncker: Ich habe ein langes Telefongespräch am Wochenende mit ihr geführt, wie ich das öfter tue. Dabei hatte ich nicht den Eindruck, dass sie mir auf Distanz die Augen auskratzen will. Ich habe übrigens zu keinem Zeitpunkt erklärt, Frau Merkel ließe es an europäischem Engagement fehlen. Das Gegenteil ist wahr.

Handelsblatt: Die von Ihnen geforderten Euro-Bonds lehnte sie allerdings brüsk ab. Spielt das Thema beim EU-Gipfel heute und morgen überhaupt noch eine Rolle?

Jean-Claude Juncker: Wir werden das Thema nicht intensiv erörtern und keine Beschlüsse darüber fassen.

Handelsblatt: Erklären Sie uns Ihren Vorschlag noch einmal?

Jean-Claude Juncker: Eine neue europäische Schuldenagentur gibt Euro-Anleihen aus, um einen Teil der europäischen Staatsschuld zu refinanzieren. Der größte Teil der Schulden wird aber weiterhin mit nationalen Anleihen bedient. Es käme also nicht, wie viele in Deutschland denken, zu einem einheitlichen Zinssatz. Die hochverschuldeten Euro-Staaten müssten für ihre nationalen Staatsanleihen sehr viel höhere Zinsen zahlen als für die Euro-Bonds.

Handelsblatt: Die Euro-Anleihen sollen Staatsschulden bis zu 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts abdecken. Wieso ausgerechnet dieser Prozentsatz?

Jean-Claude Juncker: Beginnen würden wir sicher nicht mit 40 Prozent, sondern weit darunter.

Handelsblatt: Zehn oder 20 Prozent?

Jean-Claude Juncker: Auf Zahlen lege ich mich jetzt nicht fest.

Handelsblatt: Worin bestünde der Vorteil für Deutschland?

Jean-Claude Juncker: Ein homogener großer Euro-Anleihemarkt mit einer erhöhten Liquidität wäre für alle Euro-Staaten vorteilhaft. Er würde Kapital aus anderen Erdteilen nach Europa locken, und das bedeutet niedrigere Zinsen für alle, auch für Deutschland.

Handelsblatt: In Deutschland ist aber von Zins-Mehrkosten von 17 Milliarden Euro die Rede.

Jean-Claude Juncker: Das würde zutreffen, wenn alle Schulden auf Euro-Bonds umgestellt werden, was ich niemals gefordert habe. Nutzen und Kosten der Euro-Bonds kann ich im Übrigen gar nicht genau berechnen und würde der EU-Kommission deshalb gerne einen Prüfauftrag erteilen. Ich glaube allerdings nicht, dass es beim Gipfel jetzt dazu kommen wird.

Handelsblatt: Wollen Sie dafür kämpfen?

Jean-Claude Juncker: Ich werde die Euro-Bonds beim Gipfel auf jeden Fall erwähnen, denn der Euro würde damit sicherer und stabiler.

Handelsblatt: Nun sind ja beide großen Euro-Staaten strikt dagegen. Hat Ihr Plan überhaupt eine Chance, nächstes Jahr auf der Tagesordnung zu bleiben?

Jean-Claude Juncker: In Frankreich hat es durchaus schon Überlegungen zu Euro-Bonds gegeben. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eines Tages Euro-Anleihen haben werden. Aber ich kann nicht jetzt bei diesem Gipfel mit dem Kopf durch die Wand gehen.

Handelsblatt: Wieso sollen hochverschuldete Staaten überhaupt noch sparen, wenn sie sich günstig über Euro-Bonds refinanzieren können?

Jean-Claude Juncker: Euro-Bonds wirken durchaus erzieherisch: Wenn der Schuldenstand 80 Prozent der Wirtschaftsleistung beträgt und nur bis zu 40 Prozent durch Euro-Bonds abgedeckt werden, dann macht es Sinn, die überschüssigen, viel teureren Schulden loszuwerden. Insofern bewirken Euro-Bonds mehr als der Stabilitätspakt. Der wird sowieso nur noch von einem Land eingehalten, und mit dem Premierminister dieses Landes reden Sie gerade. Es gibt niemanden, bei dem ich Nachhilfeunterricht in Sachen Stabilität nehmen muss.

Handelsblatt: Deutschland und Frankreich müssten gleichwohl einen Teil ihres Bonitätsvorteils abgeben. Was bekämen sie dafür?

Jean-Claude Juncker: Euro-Bonds wären natürlich nicht ohne strikte Auflagen zu haben. Das ist kein Instrument für Leichtsinnige.

Handelsblatt: Für Bundesfinanzminister Schäuble kann es keine gemeinsamen Staatsanleihen ohne vergemeinschaftete Fiskalpolitik geben. Sehen Sie das auch so?

Jean-Claude Juncker: Intellektuell kann ich dem durchaus etwas abgewinnen. Auch ich halte es für dringend nötig, dass wir mit der wirtschaftspolitischen Integration in der Euro-Zone voran kommen.

Handelsblatt: Theoretisch wollen das alle. Sogar Frau Merkel fordert mittlerweile eine Wirtschaftsregierung.

Jean-Claude Juncker: Damit meint sie aber etwas anderes als ich. Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy sprechen von einer Wirtschaftsregierung der 27 EU Staaten. Ich bin der Meinung dass die 17 Euro-Staaten ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik enger abstimmen müssen. Das bedeutet nicht, dass Renten, Löhne und Steuern überall gleich hoch sein sollen. Aber die nationale Wirtschaftspolitik darf nicht mehr widersprüchlich sein, sie muss in eine einheitliche Richtung gehen. Die engere wirtschaftspolitische Abstimmung der Euro-Zone muss natürlich immer auch das Gesamtinteresse der 27 Mitgliedstaaten im Blick haben.

Handelsblatt: Sollte es künftig weitere Euro-Gipfel geben?

Jean-Claude Juncker: Die Euro-Regierungschefs haben sich bereits mehrmals getroffen und dabei greifbare Ergebnisse erzielt. Euro-Gipfel können auch in Zukunft Sinn machen.

Handelsblatt: Wie bedeutend ist Ihre Rolle als Vorsitzender der Gruppe der Euro-Finanzminister beim Krisenmanagement?

Jean-Claude Juncker: Wer den undankbaren Job des Eurogruppenvorsitzenden ausübt, muss eigentlich ein diskreter Mensch hinter den Kulissen sein, was mir extrem schwerfällt. Er muss aufpassen, dass Dissonanzen nicht so aufbrechen, dass sie störend wirken. Er muss in mühseliger Kleinarbeit jeden Tag die Positionen der 17 Mitgliedstaaten abklären. Der Standpunkt der slowenischen Regierung ist da genauso wichtig wie deutsche, französische oder italienische Vorstellungen. Der Eurogruppenvorsitzende muss sich in die innenpolitischen Befindlichkeiten der Mitgliedstaaten hineinfinden, und er kann nicht die Primadonna der Eurogruppe sein. Finanzminister mögen keine Primadonnen.

Handelsblatt: Wieso hat es die Eurogruppe nicht geschafft, dass alle Euro-Staaten in der Krise an einem Strang ziehen?

Jean-Claude Juncker: Leider gibt es Dissonanzen in der Öffentlichkeit, doch das hat die Eurogruppe nicht zu verantworten. Die Finanzminister halten sich an die in der Eurogruppe verabredete Linie. Doch das gilt nicht unbedingt für ihre Kabinettskollegen. Auch die Regierungschefs haben mit ihren Gipfelbeschlüssen Anlass zu Marktturbulenzen gegeben. Und einige Regierungschefs mögen es nicht, wenn die Finanzminister in ihrem Namen in der Eurogruppe Entscheidungen treffen.

Handelsblatt: Das wäre es doch wirklich einfacher, wenn sich die Euro-Regierungschefs gleich selber treffen und entscheiden - oder?

Jean-Claude Juncker: Ich bin ja gar nicht dagegen. Die Beschlüsse müssten dann allerdings auch belastbar sein. Das ist bei EU-Gipfeln leider nicht immer der Fall. Der letzte Gipfel hat mit seiner Ankündigung, private Gläubiger an den Kosten von Staatsinsolvenzen zu beteiligen, die Zinsen der hochverschuldeten Länder weiter hochgetrieben. Das wäre im Desaster geendet, wenn die Eurogruppe nicht eingegriffen und Ende November den permanenten Krisenbewältigungsmechanismus für die Euro-Zone beschlossen hätte.

Handelsblatt: Dabei sind fast alle Fragen offengeblieben: Wie hoch ist das Volumen des künftigen Rettungsschirms? Über welche Instrumente verfügt er?

Jean-Claude Juncker: Natürlich ist der Krisenmechanismus damit nicht komplett. Es gibt noch viele Details zu klären. Die Regierungschefs werden das aber nicht selber tun, sondern die Finanzminister damit beauftragen.

Handelsblatt: Läuft das europäische Krisenmanagement denn insgesamt gut? Oder schaut jeder Politiker bloß auf seinen eigenen innenpolitischen Vorteil?

Jean-Claude Juncker: Ich beklage schon die ganze Zeit und im Moment noch mehr als sonst, dass bei europäischen Entscheidungen allzu sehr Rücksicht auf die innenpolitische Agenda genommen wird. Wer nur das innenpolitische Logbuch sieht, der kann Europa auf dem Adas nicht mehr finden. Die Regierungen müssen den Reflex unterdrücken, bei jeder anstehenden europäischen Einigung vorher zu fragen, wie das denn zu Hause ankommt.

Handelsblatt: Hat die Bundeskanzlerin zu sehr auf das innenpolitische Logbuch geschaut während der Krise?

Jean-Claude Juncker: Es gibt eine nachvollziehbare neue deutsche Zögerlichkeit, wenn es um europäische Problemlösungen geht, von denen man denkt, man könne sie in kurzer Zeit den Bürgern nicht erklären. Das ist aber nicht nur ein deutsches Problem. Das gibt es in allen EU-Staaten.

Handelsblatt: Aber woher kommt das?

Jean-Claude Juncker: Früher hat man es der Politik zugetraut, unpopuläre, aber richtige europäische Entscheidungen zu treffen. Heute tendiert man eher dazu, Politiker zu beschimpfen, weil sie nicht auf Volkes Stimme hören. Dafür sind die Politiker leider sehr empfänglich geworden. Volkes Stimme muss nicht immer die endgültig richtige sein. Außerdem denkt das Volk in jedem EU-Staat anders.

Handelsblatt: Herr Juncker, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Dernière mise à jour