"Deutschland ist der Profiteur". Le Premier ministre, président de l'Eurogroupe, Jean-Claude Juncker, au sujet de la crise de la dette souveraine dans certains États membres de l'UE

SPIEGEL: Herr Premierminister, ist Angela Merkel eine gute Europäerin?

Jean-Claude Juncker: Unbedingt. Ich kann im Verhalten der Bundeskanzlerin nichts erkennen, was antieuropäisch wäre.

SPIEGEL: Dann fragen wir anders: Ist sie eine genauso gute Europäerin, wie es Helmut Kohl einst war?

Jean-Claude Juncker: Angela Merkel mag es gar nicht, in europäischen Angelegenheiten mit Helmut Kohl verglichen zu werden. Ich kann das gut verstehen, denn diesem Vergleich hält in Europa derzeit niemand stand. Auch ich nicht. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Helmut Kohl war gut, und Frau Merkel ist nicht schlecht - wobei "gut" und "nicht schlecht" in diesem Fall dasselbe bedeuten.

SPIEGEL: Dennoch haftet Merkel in der Euro-Krise das Image der Bremserin an. Als Kommissionspräsident Jose" Manuel Barroso jüngst vorschlug, den Euro-Rettungsschirm aufzustocken, hat ihn Angela Merkel umgehend zurückgepfiffen. Können Sie die Position der Kanzlerin verstehen?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe keinen endgültigen Dissens zwischen Merkel und Barroso. Ich habe eher den Eindruck, dass die beiden in dieser Frage ein wenig aneinander vorbeigeredet haben.

SPIEGEL: Das ist eine freundliche Untertreibung für einen öffentlich ausgetragenen Streit. Was meinen Sie mit "aneinander vorbeigeredet"?

Jean-Claude Juncker: Der Europäische Rat hat im vergangenen Mai beschlossen, dass der Rettungsschirm für hochverschuldete Euro-Staaten 440 Milliarden Euro umfassen soll. Derzeit steht diese Summe aber nicht vollständig zur Verfügung, weil ein Teil der Garantieländer nicht die höchste Bonitätsstufe genießt. Deshalb suchen wir nach Lösungen, wie wir das bereitgestellte Geld vollständig einsetzen können.

SPIEGEL: Genau so haben wir Barroso verstanden.

Jean-Claude Juncker: Wenn Barroso seine Äußerung so gemeint hat, liegt er richtig - und dann kann es eigentlich keinen Konflikt mit Merkel geben. Denn in dieser Frage besteht unter den europäischen Regierungschefs Konsens: Wir wollen den Schirm nicht ausweiten, wir wollen dafür sorgen, dass er die geplante Größe auch erreicht.

SPIEGEL: Um das zu bewerkstelligen, müsste Deutschland aber höhere Risiken schultern. Dazu sind viele in der Bundesregierung nicht bereit.

Jean-Claude Juncker: Das kann ich nur schwer nachvollziehen, denn diese Last hätte nicht nur Deutschland zu tragen. Entgegen dem Eindruck, den derzeit manche Boulevardzeitungen erwecken, ist die Bundesrepublik nicht das einzige Land mit hervorragender Bonität in Europa. Um den Schirm effizienter zu machen, müssen auch Länder wie die Niederlande, Österreich, Finnland oder Luxemburg ihren Beitrag leisten.

SPIEGEL: Mit allem Respekt, der Beitrag Luxemburgs wird die Euro-Zone nicht retten.

Jean-Claude Juncker: Dafür ist der Solidaritätsbeitrag meiner Landsleute aber besonders groß. Es wird in Deutschland nicht gern gehört, es ist aber eine Tatsache: Pro Kopf stellt Luxemburg mehr Geld für den Fonds bereit als Deutschland.

SPIEGEL: Das erklärt aber nicht, warum manche Länder jetzt noch mehr Geld für den Fonds bereitstellen sollen. Gerade haben Portugal, Spanien und Italien erfolgreich neue Anleihen am Finanzmarkt aufgenommen. Zeigt das nicht, dass der jetzige Rettungsschirm völlig ausreicht?

Jean-Claude Juncker: Es zeigt, dass die europäische Politik die Lage an den Finanzmärkten sichtbar beruhigt hat. Allerdings sollten wir dies nicht als Einladung missverstehen, uns entspannt zurückzulehnen. Im Gegenteil: Es ist unabdingbar, dass wir die 440 Milliarden Euro, die wir im vergangenen Mai in Aussicht gestellt haben, nun auch effektiv bereitstellen. Ich bin zuversichtlich, dass sich die Bundesregierung diesem gemeinsamen europäischen Ziel nicht verschließen wird.

SPIEGEL: Barroso hat auch vorgeschlagen, dass der Rettungsschirm künftig die Schulden notleidender Staaten ankaufen soll. Sind Sie einverstanden?

Jean-Claude Juncker: Darüber rede ich im Kreis der Euro-Staaten, aber nicht im SPIEGEL. Nur so viel: Es wäre falsch, Tabuzonen zu errichten, aber wir dürfen die Starken auch nicht überfordern. Ohne Solidität gibt es keine Solidarität, und ohne Solidarität kommen wir in Sachen Solidität nicht weiter.

SPIEGEL: Derzeit kauft vor allem die Europäische Zentralbank, die EZB, Staatsschulden auf, zum Unwillen ihres Präsidenten Jean-Claude Trichet, der um die Unabhängigkeit der Behörde fürchtet. Wie lange kann das noch so weitergehen?

Jean-Claude Juncker: Ich begrüße, dass die Zentralbank in dieser besonderen Notlage zu unkonventionellen Maßnahmen bereit war. Klar ist aber auch, dass wir diese Maßnahmen nicht unbegrenzt fortsetzen können, ohne die Handlungsfähigkeit der EZB zu gefährden.

SPIEGEL: Die Schuldenkrise der Euro-Zone ist ungelöst, aber die EU-Staaten streiten und streiten. Warum können sich die Europäer auf keine gemeinsame Strategie einigen?

Jean-Claude Juncker: Es gibt eine gemeinsame Strategie. Wir tun uns nur schwer damit, sie überzeugend zu vermitteln. Am Tisch der Euro-Gruppe sitzen 17 Regierungen, in denen zusammen mehr als 40 politische Parteien vertreten sind. Da ist es kein Wunder, dass es hin und wieder mal zu Abstimmungsschwierigkeiten kommt.

SPIEGEL: Es gibt nicht nur Abstimmungsschwierigkeiten, es fehlt der Grundkonsens, zum Beispiel über die gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik. Alle fordern sie, aber jeder scheint darunter etwas anderes zu verstehen.

Jean-Claude Juncker: Es ist unstrittig, dass wir uns in der Euro-Gruppe wirtschaftspolitisch enger abstimmen müssen. Wir haben uns zum Beispiel zu wenig um die Wettbewerbsfähigkeit von Staaten wie Griechenland gekümmert, dies hat die dortigen Haushaltsprobleme verschärft. Auch über Arbeitsmarktfragen müssen wir mehr reden, die wiederum zentral für die Wettbewerbsfähigkeit sind. Und wir kommen nicht umhin, die Lohnpolitik stärker zu koordinieren.

SPIEGEL: Die Bundesbürger fürchten, dass sie zum Zahlmeister ganz Europas werden sollen. Sie wollen nicht geradestehen für Fehler, die Politiker in Athen oder Dublin zu verantworten haben.

Jean-Claude Juncker: Wir könnten Griechen, Portugiesen und anderen glaubhafter entgegentreten, wenn nicht Deutschland und Frankreich den Stabilitätspakt im Jahr 2003 vorsätzlich gebrochen hätten. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die deutsche Exportwirtschaft von der starken Nachfrage aus Südeuropa jahrelang profitiert hat. Wir benötigen eine stärkere wirtschaftspolitische Balance in Europa.

SPIEGEL: Sie haben vorgeschlagen, dass die Staaten der Europäischen Union künftig gemeinsame Anleihen (Euro-Bonds) ausgeben sollten, um die Schuldenkrise zu bekämpfen. Kanzlerin Merkel dagegen sah das als Versuch, eine europäische Transferunion durch die Hintertür einzuführen. Haben Sie Ihre Idee inzwischen zu den Akten gelegt?

Jean-Claude Juncker: Ich musste akzeptieren, dass es derzeit keine Mehrheit für meinen Vorschlag gibt. Aber ich bin zuversichtlich, dass sich dies eines Tages ändert. Euro-Bonds haben in Deutschland ein völlig falsches Image: Richtig ausgestaltet sind sie ein Instrument, unsolide Staaten zu mehr Haushaltsdisziplin anzuhalten.

SPIEGEL: Das glauben Sie selbst nicht. Wenn sich Regierungen wie die griechische in großem Umfang auf Kosten der Gemeinschaft verschulden können, haben sie überhaupt keinen Anreiz mehr zum Sparen.

Jean-Claude Juncker: Das Gegenteil ist richtig. Nur wer sich zu strikter Finanzdisziplin verpflichtet, hat nach unserem Vorschlag Zugang zu Euro-Bonds.

SPIEGEL: Das Problem in Europa bestand bislang weniger darin, Verpflichtungen abzugeben. Das Problem war, sie einzuhalten.

Jean-Claude Juncker: Wer vom Konsolidierungspfad abweicht, würde ebenfalls vom Euro-Bond-Markt ausgeschlossen. Das würde einen viel wirksameren Anreiz zu tugendhaftem Verhalten setzen als jeder Stabilitätspakt.

SPIEGEL: Dafür würde sich die Zinslast in Deutschland beträchtlich erhöhen.

Jean-Claude Juncker: Keineswegs. Euro-Bonds würden einen großen, einheitlichen Markt für europäische Staatsanleihen schaffen. Europa könnte erstmals auf Augenhöhe mit dem amerikanischen Bondmarkt konkurrieren. Dadurch könnten die deutschen Zinsen sogar sinken.

SPIEGEL: Wenn Länder mit bester Bonität und Pleitekandidaten zusammengefasst werden, kann unter dem Strich keine Bestnote mehr stehen. Wollen Sie das im Ernst bestreiten?

Jean-Claude Juncker: Allerdings. Schauen Sie sich die Zinsentwicklung bei jenen EU-Anleihen an, die es heute schon gibt. Wenn die EU entsprechende Bonds an den internationalen Finanzmärkten begibt, liegen die Zinssätze oft niedriger als in den Einzelstaaten.

SPIEGEL: Die Entwicklung der deutschen Zinsen zeigt das Gegenteil. Seit vergangenem August sind sie um mehr als einen Prozentpunkt gestiegen. Und was ist der Grund dafür?

Jean-Claude Juncker: Jetzt bin ich aber gespannt.

SPIEGEL: Die Anleger sind besorgt, dass Deutschland als Hauptfinanzier für die verschiedenen europäischen Sicherungsschirme überfordert sein könnte.

Jean-Claude Juncker: Das sehe ich anders. Unabhängig von der Frage der Euro-Bonds sollten wir uns mal in Erinnerung rufen, dass bislang nicht mal zehn Prozent der europäischen Fondsgelder ausgeschöpft sind. Spiegel: Aber das Risiko, dass die Steuerzahler am Ende zur Kasse gebeten werden, wächst von Monat zu Monat. Als der Euro eingeführt wurde, haben die Politiker den Bundesbürgern erklärt: Es ist ausgeschlossen, dass Deutschland jemals für die Schulden anderer Staaten haften muss. Jetzt erleben wir, wie die Garantiesummen immer größer werden. Juncker: Sie reden über die Deutschen, als ob sie besondere Wesen wären. Der Rettungsschirm ist eine europäische Einrichtung, und die Bundesrepublik ist längst nicht das einzige Zahlerland.

SPIEGEL: Aber Deutschland ist das einzige Land, in dem es um eine Verfassungsfrage geht. Schon in ihrem Urteil zum Maastricht-Vertrag haben die Karlsruher Richter festgestellt, dass deutsche Steuergelder nicht so ohne weiteres zum Schutz der Euro-Zone eingesetzt werden dürfen.

Jean-Claude Juncker: Es gibt ähnliche Verfassungsdiskussionen auch in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Auch hier ist Deutschland kein Sonderfall. Und ich stelle ausdrücklich fest: Ich bin ein großer Bewunderer der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.

SPIEGEL: In Deutschland ist es vor allem die FDP, die sich gegen weitere Lasten für die Steuerzahler zur Wehr setzt.

Jean-Claude Juncker: Ich bin entsetzt, wie manche deutsche Liberale ihr europapolitisches Erbe aufs Spiel setzen. Neben Helmut Kohl hat niemand die Integration Europas so befördert wie der langjährige Außenminister Hans-Dietrich Genscher. Es schmerzt mich zutiefst, dass einige in der FDP nun mit einem europapopulistischen Kurs liebäugeln.

SPIEGEL: Kaum noch jemand glaubt, dass ein Land wie Griechenland seine Schulden vollständig bedienen kann. An den Märkten und in der europäischen Politik gibt es Überlegungen, wie man die Gläubiger davon überzeugen kann, freiwillig auf einen Teil ihrer Forderungen zu verzichten. Wie könnte eine solche Umstrukturierung aussehen?

Jean-Claude Juncker: Es macht keinen Sinn, diese Frage jetzt öffentlich zu erörtern.

SPIEGEL: In zwei Jahren werden Griechenlands Schulden auf 160 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestiegen sein, selbst wenn das Land noch so viel spart. Ist es nicht an der Zeit zuzugeben, dass an einer Umschuldung kein Weg vorbeiführt.

Jean-Claude Juncker: Ich rede dieses Problem nicht klein. Aber wir müssen berücksichtigen, dass Griechenland erhebliche Anstrengungen unternimmt, seine Verschuldung mittelfristig zurückzuführen. Und wir müssen auch im Blick haben, dass in anderen Weltregionen die Schuldenquoten noch viel schlechter sind als in der Euro-Zone. Denken Sie nur an die USA.

SPIEGEL: Früher waren Sie ein gefragter Vermittler, wenn es in der Europapolitik zwischen Berlin und Paris hakte. Schmerzt es Sie, dass Kanzlerin Merkel und Präsident Sarkozy ihre Streitfragen heute lieber unter vier Augen lösen?

Jean-Claude Juncker: Nein. Ich hatte in der Vergangenheit viel Mühe damit zu verhindern, dass sich deutsch-französische Reibereien zu europäischen Konflikten auswachsen. Der deutsch-französische Motor ist essentiell, wenn wir die EU vertiefen wollen. Er reicht aber allein nicht aus. Berlin und Paris müssen darauf achten, dass sie die anderen Mitgliedstaaten mitnehmen.

SPIEGEL: Sie meinen den berühmten Strandspaziergang vergangenen Oktober im französischen Deauville, mit dem sie ihre Linie zur Euro-Krise ganz Europa diktieren wollten.

Jean-Claude Juncker: Ich halte den Strandspaziergang von Deauville nicht unbedingt für ein Vorbild, wie man europäische Konflikte lösen sollte.

SPIEGEL: Wären Sie gern dabei gewesen?

Jean-Claude Juncker: Nein. Das Ergebnis war nicht so überzeugend, dass ich mich gern daran beteiligt hätte.

SPIEGEL: Sie wollten 2009 Präsident des Europäischen Rates werden. Merkel und Sarkozy haben das verhindert. Tragen Sie ihnen das nach?

Jean-Claude Juncker: Mir wurde nie erklärt, warum ich dieses Amt nicht antreten durfte, obwohl die meisten Regierungen in Europa dies wünschten. Ich hätte diese Aufgabe damals gern übernommen. Heute bin ich allerdings gar nicht mehr so traurig, dass es anders gekommen ist.

SPIEGEL: Warum?

Jean-Claude Juncker: Wäre ich Präsident des Europäischen Rates geworden, hätte das den Streit innerhalb der EU möglicherweise verschärft. Ich hätte mich nicht damit begnügt, die Meinungen der anderen Staatsund Regierungschefs zusammenzufassen. Obwohl ich aus einem kleinen Mitgliedsland komme, sage ich gern, was ich denke. Ich verstehe mich als Antreiber und nicht als Getriebener.

SPIEGEL: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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