"Il s'agit du peuple et non du régime", Jean Asselborn au sujet de la crise politique en Égypte

SPIEGEL Online: In Tunesien, in Ägypten und vielen anderen Ländern demonstrieren in diesen Tagen Menschen unter Lebensgefahr auf den Straßen. Sie wollen endlich ihre Despoten los werden. Und Europa schaut betreten zur Seite. Ist das "hohe Politik" oder nur einfach feige?

Jean Asselborn: Der Eindruck ist falsch. Wir schauen nicht weg. Wir begrüßen das, was sich dort entwickelt. Es ist unheimlich wichtig. Es ist eine große Chance für die Menschen in diesen Ländern und weit darüber hinaus.

SPIEGEL Online: Die Freude darüber spielt sich aber eher im Stillen ab.

Jean Asselborn: Mag sein, dass wir zu leise auftreten. Aber wem wäre geholfen, wenn wir uns laut einmischten und riefen: "Der muss weg! Oder jener muss weg!" Die Europäer müssen einen schwierigen Spagat hinkriegen:

Wir müssen den Aufschrei der Menschen hören und aufnehmen und gleichzeitig die autonome Selbstbestimmung in diesen Ländern achten. Das kann manchmal feige aussehen, das gebe ich zu. Aber ernsthafte Politik ist doch keine Show zur momentanen Bedürfnisbefriedigung zu Hause. Wir müssen die Türen offen halten, wenn wir zum Beispiel in Ägypten den Prozess begleiten wollen, der zu freien Wahlen, mit aktivem und passivem Wahlrecht für jeden Mann, jede Frau führt.

SPIEGEL Online: Wollen Sie die Türen zu Mubarak offen halten und ihn auf dem Weg zu freien, fairen Wahlen begleiten?

Jean Asselborn: Es geht doch nicht mehr um Mubarak. Kein europäischer Regierungschef - außer Italiens Ministerpräsident Silvio Berlusconi - hat sich hinter Mubarak gestellt. Es geht um das, was danach kommt. Wie können wir helfen, dass die junge, labile Zivilgesellschaft in Ägypten nicht unter die Räder kommt. Wenn das ganze Regime über Nacht zusammenfällt, könnte eine sehr brisante Lage entstehen - mit unabsehbaren Folgen für das ägyptische Volk wie für uns. Deshalb müssen wir den demokratischen Prozess begleiten, ich denke, auch mit logistischer und wirtschaftlicher Hilfe, wenn nötig. Es geht um das Volk, nicht um das Regime.

SPIEGEL Online: Kommt der europäische Blick auf die ägyptische Gesellschaft ebenso wie auf die tunesische und viele andere - nicht etwas spät, zumal die Europäische Union sich doch selbst immer als "Wertegemeinschaft" feiert?

Jean Asselborn: Leider sind Demokratien unter den 193 Ländern in der Uno in der Minderheit. Das soll keine Entschuldigung, sondern eine Erklärung sein, warum auch wir Europäer ständig mit Staaten zusammenarbeiten, die nicht unbedingt unseren Werten entsprechen. Wir brauchten die Kooperation mit den sogenannten "moderaten" arabischen Staaten zum Beispiel, um im Israel-Palästina-Konflikt wenigstens das Schlimmste, nämlich einen neuen Krieg, zu verhindern. Ohne Ägypten, ohne Mubarak wäre schon der Versuch einer Problemlösung nicht denkbar gewesen.

SPIEGEL Online: Herr Asselborn, Sie sind Außenminister, Sozialdemokrat, was ist Ihre Lehre aus den aktuellen Vorgängen: Was sollten, könnten Europas Regierungen künftig anders machen?

Jean Asselborn: Wir haben uns auf solche strategischen Kooperationen wie mit Ägypten zu sehr konzentriert und vernachlässigt, was in diesen Ländern vorgeht. Das müssen wir uns wohl vorwerfen. Wir haben Stabilität gewollt - und das ist ja durchaus etwas, nämlich: kein Krieg, kein Bürgerkrieg - aber daraus ist Immobilität geworden, mit jahrzehntelangen undemokratischen Herrschaftsverhältnissen ohne jeden Respekt vor den elementaren Menschenrechten. Das haben wir nicht gesehen ...

SPIEGEL Online: ... oder nicht sehen wollen?

Jean Asselborn: ... oder nicht so genau sehen wollen. Mag sein. Wir haben zu sehr auf die Regenten gesehen und nicht auf die Menschen, die unter ihnen leben und eben oft genug leiden. Das müssen wir künftig besser machen. Aber das ist nicht so einfach getan, wie man es fordert. Wie kann man in autoritären Staaten die Zivilgesellschaft stärken, Reformbewegungen unterstützen, wenn das herrschende Regime das nicht zulässt? Wir versuchen das ja schon in einigen Ländern, in Weißrussland zum Beispiel.

Und, auch keine kleine Frage am Rande, wie viel ökonomische Nachteile sind die Menschen in den EU-Ländern bereit dafür zu tragen, dass wir mit Tyrannen weniger oder keine Geschäfte machen? Denn China, Indien, Brasilien, Russland und andere Weltmarktkonkurrenten legen herzlich wenig Wert auf den demokratischen Zustand ihrer Handelspartner. Und in manchen neuen ökonomischen Supermächten sieht es in Sachen Menschenrechten auch nicht gut aus, sollen wir da auch die Türen zuschlagen und sagen "mit euch reden wir nicht, handeln wir nicht!?

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