"Wer Politik macht, muss Menschen mögen", Jean-Claude Juncker au sujet de la politique et de sa passion pour le projet d'unification européenne

OPUS: Was ist für Sie europäisch, was die "Europäische Idee"?

Jean-Claude Juncker: Das ist wie ein dickes Seil mit tausend Fäden: Europa ist für mich zuerst eine Friedensidee. Und der Gedanke lässt mich nicht los wegen der Lebensgeschichte der Vorgängergeneration, wegen der Generation meines Vaters und meiner Mutter, die wissen auch heute noch, was es heißt, wenn sich Europa in loser und unorganisierter Form verhält. Die Geschichte ist voll mit Beispielen, dass die Europäer aufeinander losgehen, weil es etwa keinen kanalisierten Wasserlauf gibt.

Europa ist für mich auch wirtschaftliche Effizienz. Kein Land der europäischen Union, auch das größte, Deutschland, nicht, wäre imstande, sich mit den Endkonsequenzen der globalisierten Wirtschaft gewinnbringend auseinanderzusetzen. Es braucht das Miteinander mit anderen Europäern, damit auch große Länder sich zurechtfinden in der Welt. Große Länder in Europa würden weltweit nicht als groß eingestuft werden, wenn sie nicht einer der Hauptprotagonisten der Europäischen Union wären.

Europa ist für mich natürlich auch Kultur, Sprachenvielfalt, Musik in allen Tönen, die vorstellbar sind. Es gibt nirgendwo auf einem derart kleinen Raum so intensive kulturelle Vielfalt.

Europa ist für mich das "Gezwungenwerden", immer wieder über den Zaun zu blicken. Europa ist für mich das Gegenteil der Nabelschau. Europa ist Interesse an anderen, ist im noblen Sinn des Wortes "Kuriosität", also Neugierde für die Lebensbedingungen und Lebensbefindlichkeiten Anderer. Europa ist für mich Toleranz. Toleranz ist der Verdacht, dass der Andere vielleicht doch Recht haben könnte-so hat jemand einmal sehr präzise formuliert.

OPUS: Gibt es für Sie Schlüsselsituationen, die Sie mit dem Thema Europa in Verbindung gebracht haben?

Jean-Claude Juncker: Ich erinnere mich an einen Vorgang, da war ich noch Kind, vier, fünf, da hab ich meinen Vater gefragt, was er denn für Verletzungen an der Hand, am Knie und am Hals habe, und da hat er einfach nur gesagt, das sei im Krieg geschehen, hat das dann aber nicht erklärt bis ich 14, 15 war und das besser einordnen konnte. Und ich hab mir in meinem späteren Leben gesagt, das wäre doch gut, wenn in Europa Männer und Frauen groß werden könnten, die ihren Kindern nie mehr vom Krieg erzählen müssten.

Auf europäische Dinge hat mich mein Vater auch aufmerksam gemacht, der Gewerkschafder war und der sehr früh in seiner Stahlgewerkschaft mit anderen Stahlgewerkschaften aus Europa, von der Saar, aus Lothringen, aus dem wallonischen Teil Belgiens zusammengearbeitet hat. Er hat dann alle Dokumente nach Hause geschickt bekommen und ich habe von zehn, elf, zwölf Jahren an mich für europäische Sozialpolitik, eigentlich gewerkschaftlichen Zuschnittes, interessiert. Also, Europa war immer da. Europa war bei mir zu Hause Teil der gewollten Atmosphäre.

OPUS: Wie erreicht man die Balance oder hält die dialektische Spannung der Selbstliebe der Regionen /Nationen und der Internationalität und Neugierde?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nachdrücklich der Auffassung, dass man das Regionale oder das Nationale nicht gegen das Europäische ausspielen darf und vice versa. Wenn ich mich selbst betrachte, bin ich gern Luxemburger, bin auch gern jemand, der hier in dem europäischen Raum lebt, den wir die Großregion nennen, Saarland, Rheinland-Pfalz, Luxemburg, Lothringen, Wallonien, und ich bin gern Europäer, weil ich mich überall in Europa zu hause fühle. Ich hab nie das Gefühl, mich weit von mir und meiner kleinen Welt zu entfernen, wenn ich sonst wo in Europa bin. Deshalb bin ich der Auffassung, dass zum modernen Patriotismus beides gehört: Man muss das Eigene lieben und man muss das Andere zumindest mögen und sich dafür interessieren. Ein Patriot ist jemand, der die Menschen, mit denen er lebt, gerne hat, der die Landschaft mag, in der er groß geworden ist. Und ein Nationalist ist jemand, der die Anderen ablehnt. Insofern gehen Patriotismus und zugespitzter Nationalismus überhaupt nicht zusammen. Die Begriffe sind antinomisch.

Europa versteht man am besten, wenn man sich das Nicht-Europa vorstellt. Wer an Europa zweifelt oder verzweifelt, der soll Soldatenfriedhöfe besuchen. Dort kann er gehenden Schrittes ermessen, was Nicht-Europa heißt. Das können auch jüngere Menschen tun.

OPUS: Sind Sie ein Mensch, der seine Wurzeln des Handelns auch im Glauben hat?

Jean-Claude Juncker: Ja, aber ich möchte dieses abgegriffene Bild, dass ich mich vom christlichen Menschenbild angezogen fühle, nicht gebrauchen. Ich bin jemand, der an Gott glaubt, aber auch jemand, der sehr darauf achtet, dies nicht zu einem permanenten Element des öffentlichen Diskurses werden zu lassen. Ich halte Religion eigentlich nicht für Privatsache, aber den Glauben halte ich schon für Privatsache. Meinen Glauben muss ich nicht verteidigen, das ist ja meiner, und ich muss nicht dauernd darüber reden. Religion muss ich verteidigen wollen, weil Religionsausübung zu den Menschenrechten gehört. Das würde ich aber auch tun, wenn Religion keine Religion wäre. Ihr Büro ist voll von Büchern, offensichtlich gelesen. Welche Rolle spielt Literatur in Ihrem lieben?

Das Lesen als solches und das sich Beschäftigen mit Literatur, auch mit Lyrik, spielt eine große Rolle. Das trägt zu meiner Entspannung bei, so nicht-utilitaristisch wie dies auch klingen mag, ich lese gerne, weil ich während des Lesens niemandem zuhören muss. Man wird den ganzen Tag über so voll gequatscht, dass es eigentlich wohltuend ist, wenn man liest, denn dann halten alle anderen den Mund und man selbst auch, was für andere wiederum wohltuend ist. Und es fasziniert mich einfach, wie ein Schriftsteller oder ein Lyriker zum schreiben kommt. Niemand schreibt ein Buch, weil er ein Buch schreiben möchte, sondern jemand schreibt ein Buch, weil ihm irgendwann irgendwo irgendetwas oder irgendwer aufgefallen ist und dieses Irgendwas oder dieser Irgendwer ihn so fasziniert hat, dass er aus einem kurzen Augenblick ein ganzes Leben in einem Roman oder in einem Gedicht-auch ein Zweizeiler kann lebenslänglich dauern-werden lässt. Also, mich fasziniert das Schöpferische. Mich fasziniert Sprache ohnehin. Ich lege großen Wert darauf, dass man einen Gedanken, den man gefasst hat, auch für andere verstehbar und verständlich ausdrückt. Dieser Kampf des Schreibenden auf der Suche nach dem richtigen Wort, die bildhauerische Detailversessenheit dessen, der das richtige Wort sucht und das sehr oft findet, das beeindruckt mich sehr. Und mich beeindruckt noch mehr, dass ich sehr oft versuche, noch ein besseres Wort zu finden als das, was ich gerade gelesen habe. Da bin ich aber nicht immer sehr erfolgreich.

OPUS: Ist Literatur auch Eintauchen in das Leben anderer, in andere Lebensentwürfe?

Jean-Claude Juncker: Für Luxemburger, ergo auch für mich, ist ja noch darauf hinzuweisen, dass wir immer in zwei Sprachen lesen-eigentlich in drei, denn es gibt ja auch luxemburgische Literatur und luxemburgische Lyrik-aber vornehmlich dann doch deutsch und französisch. Und mich hat immer das Aufsuchen von Parallelen begeistert, im selben Moment in zwei Sprachen und Kulturräumen. Und dann der Versuch, aus dem Vergleich zwischen beiden Schreibweisen Empfindungsweisen abzuleiten, was den Deutschen von Franzosen unterscheidet. Also "komparative Literatur" zu betreiben. Und dann ist es natürlich auch die Indiskretion des Lesers, die mich schon dazu bringt, durch das Schlüsselloch der Bücher zu schauen, mir vorzustellen, wie das dann genau war. Die Szene, das Ereignis, das Langstreckengefühl, das jemand beschreibt. Man dringt ja in das Leben des Schreibenden ein, denkt man, aber eigentlich dringt man ein in die Lebensentwürfe der Beschriebenen. Man darf den Schreibenden und den Beschriebenen nie miteinander verwechseln. Frisch war nicht Stiller. Man verwechselt oft beide miteinander. Und ob Döblin am Alexanderplatz gewohnt hat, weiß ich nicht.

OPUS: Zurück zu Europa: Sie verglichen einmal das Verhältnis zu Europa mit einer Liebesgeschichte, in der es nicht nur rational zugehen darf, dass man die anderen auch mögen muss. Kann und darf es in der Politik auch emotional, d.h. auch irrational zugehen?

Jean-Claude Juncker: Zuerst glaube ich, dass man in der Politik versagen würde, wenn man andere Menschen nicht mögen würde. Man kann nicht Politik machen, wenn man die Anderen hasst. Man muss sie mögen, sonst macht man das nicht. Dann wird man Börsenmakler oder man wird Spekulant oder man wird ein zu allem fähiger General, aber man wird nicht Politiker. Das tut man nicht, wenn man die Anderen nicht mag. Hinzu kommt, dass das sich Beschäftigen mit den Lebensbedingungen anderer ja nicht nur rational begründbar sein darf. Rational kann ich ja die schlimmsten Dinge begründen. Ich kann rational begründen-ich nicht, aber ich stell mir vor, dass man das kann-wieso es Lebewesen gibt, die kein Recht haben zu leben. Ich kann auch rational begründen, wieso man eine bestimmte Kategorie Benachteiligter nicht nach oben in ein Unternehmen nehmen darf, weil man sich rational vorstellen kann, dass die von diesen Wohltaten "Betroffenen" es nicht zu schätzen wissen. Ich kann rational begründen, dass Kampf gegen Armut wenig Sinn macht, weil es immer Armut geben wird. Ich kann rational begründen, dass Entwicklungshilfe eigentlich ein Loch ohne Boden ist, weil ich sehr oft feststelle, dass Geldmittel versickern. Wer also nur rational an Gestaltungsprozesse und, denen vorgelagert, an Denkprozesse rangeht, der begreift ja nicht den ganzen Menschen. Es braucht also auch Gefühl, es braucht auch die Überzeugung, dass zwei und zwei in manchen Bereichen des Lebens eben fünf ergibt und nicht vier. Es braucht das Wissen darum, dass die kontinentale Mathematik und die interkontinentale Mathematik nur weiter kommt, wenn man eine runde Zahl gerade sein lässt. Wer aber nur mit dem Gefühl arbeitet, der landet in Gefühlsduselei. Und das ist kein Maßstab für die irdischen Dinge.

OPUS: Das "politische Europa" hat so viele Institutionen, die Europäische Kommission das Europa-Parlament, den Europäischen Rat der Nationen, den ersten Ständigen Präsidenten eben dieses Rates. Wie soll ein europäischer Normal-Bürger dies noch verstehen?

Jean-Claude Juncker: Wenn wir in Deutschland oder in Luxemburg oder in Belgien, da ist das besonders kompliziert, oder in Frankreich die Menschen bitten würden, sie sollten mal im Detail erklären, wie ihr eigener Nationalstaat funktioniert, da wären die wenigsten dazu fähig. Ich weiß nicht, ob in Deutschland jeder Bürger über den Länderfinanzausgleich erschöpfende Vorträge halten könnte. Trotzdem gibt es ihn und er wird im Grundsatz von den Bundesbürgern auch nicht abgelehnt. Ich weiß nicht, ob es jedem Bundesbürger geläufig ist, wo die Kompetenzlinie verläuft zwischen Bundestag und Bundesrat oder ob alle Bundesbürger sich in dem Miteinander, Nebeneinander und manchmal Gegeneinander von Landesverfassungen und Grundgesetz auskennen. Das stört aber niemanden, weil diese Ordnung, die gewachsen ist, von jedermann im Großen und Ganzen akzeptiert wird. In Europa wird sie das erstaunlicherweise nicht. Und das hat damit zu tun, dass eben Europa kein Nationalstaat ist und auch überhaupt kein Staat ist und sich auch nicht auf dem Weg intensiver Verstaatlichung befindet. Das wiederum zeigt mir, dass man den Nationalstaat nicht einfach durch die europäische Union wird ersetzen können. Nationalstaaten sind keine provisorischen Erfindungen der Geschichte, sondern sind auf Dauer eingerichtet. Der Bezug zum Land, zur Nation, zur Region, zum Nationalstaat ist immer intensiver als der etwas weitläufige Bezug zur europäischen Union. Vieles, was aus Europa kommt ist suspekt, weil es aus Europa kommt und nicht national vorgefiltert wird.

OPUS: Eine Ihrer besonderen Eigenschaften ist Ihre Ironie, manchmal ein wenig Sarkasmus. Die meisten anderen Politiker sind ironiefrei, wie geht das zusammen?

Jean-Claude Juncker: Weil ich mich selbst nicht immer ernst nehme, erlaube ich es mir auch, andere nicht dauernd ernst zu nehmen. Und Humor und feinfühlige Ironie sind eigentlich Bestecke, die man am europäischen Tisch braucht, um die notwendige Distanz zwischen sich und den Dingen herzustellen. Man darf es nur nicht zu Zynismus, zu blankem Zynismus verkommen lassen. Aber Ironie ist das einzig zulässige Mittel in der Politik, um die Dinge und die Menschen zu gewichten.

OPUS: Der Soziologe Joas sagt: "Werte müssen narrativ vermittelt werden." Was bedeutet das für die Politik?

Jean-Claude Juncker: Politik braucht eine Geschichte, die man erzählt. Politik muss mehr sein als eine Momentaufnahme, mehr als ein Einzelbild. Und deshalb ist Politik ein Album mit vielen Bildern, mit vielen Fotos. Und je nach Gesprächspartner muss man die eine Seite oder die andere Seite aufschlagen. Und wenn man mit allen redet, halt das ganze Album zeigen. Nur den Moment, wo alle einem zuhören werden, den gibt es leider nicht. Deshalb zeigt man immer nur ein paar Seiten. Aber die Seiten, die man dem einen zeigt und die Seiten, die man dem anderen zeigt, die müssen zusammen passen, denn die beiden könnten ja miteinander ins Gespräch kommen. Politik braucht eine erzählbare Geschichte. Das tun wir sehr oft nicht, weil wir nicht narrativ sind. Politik braucht keine Märchenonkel, aber Politik braucht, gut erzählt, Beschreibungen, so zusammengefügt, dass daraus ein Roman wird, der der Wirklichkeit entspricht.

OPUS: Wie wird aus einer Union, die auf einer Wirtschaftsidee gegründet wurde, ein "Europe des hommes", ein Europa der Menschen?

Jean-Claude Juncker: Euro und Binnenmarkt und Freizügigkeit sind keine Begriffe, die Menschen eigentlich zum Träumen bringen. Und deshalb bin ich schon der Auffassung, dass man mit den Menschen immer wieder über das Grundanliegen der Europäischen Union diskutieren muss und mit ihnen darüber im Gespräch bleiben muss. Die europäische Grundidee ist die Idee des Friedens und der totalen und radikalen Ablehnung bewaffneter Konflikte. Dies bleibt ein europäisches Thema, wie wir vor zehn, zwölf Jahren auf dem Balkan noch gesehen haben. Und die Frage, wie studierende Menschen in Europa sich agiler, schneller, ungehinderter bewegen können, bleibt auch ein Thema, das man noch weiter wird vertiefen müssen. Das hat dann mit dem Europa der Menschen wesentlicher etwas zu tun.

Die Einführung des Euros, für den wirtschaftliche Aspekte bestimmend waren, ist aber nicht zu dem Europa der Menschen antinomisch zu sehen: Wenn wir, bevor es den Euro gab, uns in Finnland ins Auto setzten und bis nach Sizilien fuhren, wenn wir in allen Mitgliedstaaten die 1000 Euro, die wir in der Tasche hatten, umgetauscht haben, dann blieben uns noch 500 Euro. Wer heute in Helsinki ins Auto steigt und in Palermo aussteigt, der hat immer noch 1000 Euro.

OPUS: Wie siebt Europa in Jahren aus?

Jean-Claude Juncker: Ich bin relativ sicher, dass Europa in zehn Jahren besser dastehen wird als heute. Die Krise, die Finanzkrise, in der wir stecken, hat jedermann deutlich vor Augen geführt, dass selbst die größeren Staaten der europäischen Union alleine nicht mit den Verlängerungen und Erweiterungen der Verwerfungen zu Rande kommen, die es in der Weltwirtschaft in den letzten Jahre gegeben hat. Das weiß jeder, der ehrlich mit sich selbst ist.

Und die Europäer werden sich mit dem Gedanken abfinden müssen und daraus die richtigen Schlussfolgerungen ziehen, dass es immer weniger Europäer gibt. Am Anfang des 20. Jahrhunderts hat es noch 20% Europäer gegeben, am Anfang des 21. Jahrhunderts, also unseres Jahrhunderts, noch 11%, Mitte des 21. Jahrhunderts wird es noch 7% Europäer geben und am Ende des Jahrhunderts noch 4%. Wer denkt, dass 4% Europäer, die wie ein verstörter Hühnerhaufen durch die Weltgeschichte laufen würden, das Weltgeschehen beeinflussen können, der irrt sich. Europäer müssen zusammenstehen, deshalb muss man die europäische Integration, ohne das Integrierende zu überhöhen, weitertreiben im demokratischen Konsens zwischen Regierenden und Völkern.

Ich bin der Meinung, der gesunde Menschenverstand zwingt uns zu mehr Europa.

OPUS: Was sind Ihre Visionen, Ihre Ideen für die Zukunft?

Jean-Claude Juncker: Wenn Sie wünschen dürften . . . Mein Wunsch an die Menschen in Europa wäre - das ist fast eine Aufforderung sich intensiver für andere zu interessieren. Sich zu kümmern um das, was die Ändern umtreibt. Wir wissen ja nichts über die Ändern in der europäischen Union. Wir haben 27 Mitgliedsstaaten, die tun so, als ob sie eine Gemeinschaft wären-sind sie auch irgendwo-aber was wissen die Menschen, die diese Gemeinschaft bevölkern eigentlich über die andern Mitbewohner? Was wissen wir Luxemburger über die Nordfinnen und was wissen die Süddänen über die Sizilianer? Relativ wenig. Und trotzdem erlassen wir Gesetze für diese Länder, trotzdem reden wir mit größter Autorität über das was die Menschen in Europa umtreibt, trotzdem geben wir den Eindruck, als wüssten wir sehr genau, was zu tun ist, und dabei kennen wir uns in den Befindlichkeiten anderer nicht aus, sehr oft auch nicht in unseren eigenen Befindlichkeiten, wenn es um Europa geht. Also wünschte ich mir, dass wir noch mehr reisen und wünschte ich mir, dass wir mit offenen Augen reisen. Ich wünschte mir, dass wir sehend reisen. Und ich wünschte mir, dass wir spontan andere erst einmal mögen, und nur wenn es handfeste Gründe gibt, sie weniger mögen. Aber zuerst einmal mögen! Anstatt zuerst einmal in den Anderen Konkurrenten, competitors, wie dies auf neudeutsch heißt, Widersacher, zu sehen, gegen die man sich durchsetzen muss. Das halte ich für eine totale Verirrung europäischen alltäglichen Sprachgeplänkels, das viele Premierminister, Minister, Abgeordnete dauernd den Eindruck zu Hause erwecken, als müssten sie sich gegen andere durchsetzen. Ich habe kürzlich eine Ausgabe des "Spiegel" gelesen, dort steht im Zusammenhang mit dem, was die deutsche Bundeskanzlerin in Europa zu tun gedenkt, 18 mal in einem Artikel das Wort "durchsetzen". In Europa muss niemand sich durchsetzen.

OPUS: Kann Kunst und kulturelles Schaffen einer europäischen Idee Rückenwind geben?

Jean-Claude Juncker: Ich bedauere sehr oft, dass an der europäischen Debatte europäische Intellektuelle und vor allem europäische Künstler in ungenügendem Maße teilnehmen, so als ob die europäische Union oder die europäische Integration ein Anliegen wäre, das nur von Politikern, von Gewerkschaftlern, von Unternehmern, von Verbänden transportiert werden müsste, nicht aber von Einzelnen, Künsdern, die auf Grund ihrer inneren Beschaffenheit eigentlich sehr viel Antennen haben müssen, die es ermöglichen würden, Europäisches aufzufangen. Künstler, die ja existentiell auf Freiheit, auf die Freiheit des Denkens, auf die Freiheit des Schaffens, auf die Freiheit des Ausdruckes angewiesen sind, um überhaupt atmen zu können, sollten eigentlich mehr über diese frische europäische Luft schreiben und sprechen. Gibt es eine "Europäische Kultur"? Oder ist es immer die Kultur einzelner europäischer Länder? Mal angenommen wir wäre uns einig, was wir mit dem Begriff nun genau meinen, ist das so, dass ich wenn ich in Asien bin oder in Nordamerika, sofort das Gefühl habe, in einem anderen kulturellen Raum zu sein. Ich mag den Ausdruck "Europäische Kultur" nicht so sehr, weil es ja diesen kulturellen Einheitsbrei nicht gibt und auch nicht geben darf und auch nicht geben kann. Wir leben von der Vielschichtigkeit des kulturellen Fußabdruckes in Europa und sollten uns nicht in Richtung einheitlicher europäischer Kultur auf den Weg machen. Aber diese "Europäische Kultur" trägt doch in sich ein bestimmtes Menschenbild, dass man auf anderen Kontinenten nicht wiederfindet: Eine bestimmte Idee des Einzelnen, der in seinem Zusammenwirken mit vielen eine Gemeinschaft bildet.

OPUS: Wo ist der Ort, um jungen Menschen Bewusstsein für Europa zu vermitteln? Wie kann man jungen Leuten "Lust auf Europa machen"?

Jean-Claude Juncker: Den Ort gibt es nicht. Ich denke mir, dass sehendes Reisen eigentlich der Europa-Idee auf die Sprünge helfen könnte. Sehendes Reisen wäre vorbereitetes Reisen, nicht einfach irgendwo sein und weiterzufahren, sondern jedes Mal, wenn man irgendwo ankommt, sich zu fragen, wo man ist und wie es da war und wie es gemeinsam werden kann und wie es werden würde, wenn es keine Gemeinsamkeit gäbe. Das kann Schule vermitteln, Schule ist aber nicht der ideale Ort, um Europa zu trainieren.

Der ideale Ort, um Europa zu trainieren, ist auf dem freien Feld.

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