"Der Euro-Pakt reicht nicht aus", Jean-Claude Juncker au sujet de l'impact de la crise économique et de l'introduction d'une taxe sur les transactions financières

Luxemburger Wort: Herr Staatsminister, ein knappes Jahr ist es her, dass die Finanznöte Griechenlands ans Tageslicht kamen, der Euro ins Trudeln geriet und die ersten Aktionen zur Rettung der kriselnden Nationalstaaten in die Wege geleitet wurden. Wie bewerten Sie die Lage der Eurozone und der EU im Allgemeinen heute?

Jean-Claude Juncker: In den zurückliegenden Monaten hat die Eurozone bewiesen, dass sie reaktionsschnell ist - auch wenn manche Entscheidungen nach meinem Geschmack zu lange gedauert haben. Auf EU-Ebene habe ich selten eine Periode erlebt, in der zielorientierte Entscheidungen in einer so großen Anzahl getroffen wurden wie in den vergangenen zwei Jahren.

Luxemburger Wort: Manche meinen ja, die Krisenbewältigung wäre mit dem bevorstehenden Gipfeltreffen abgeschlossen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Jean-Claude Juncker: Im Grundsatz sind sich die Finanzminister der Eurozone und der elf EU-Mitgliedsländer einig, was die Ausrichtung der Wirtschaftsregierung, den Stabilitätspakt, den permanenten Krisenmechanismus und die Änderungen an der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität angeht. Das bedeutet aber nicht, dass die politische Bewältigung der Krise abgeschlossen wäre. Der Pakt für den Euro sieht ohnehin vor, dass die Staats- und Regierungschefs sich künftig mindestens einmal im Jahr mit der Krise und ihren Folgen beschäftigen müssen. Das Thema wird also zum Dauerbrenner.

Luxemburger Wort: Sie haben in der Vergangenheit mehrfach betont, dass der Pakt für den Euro kaum über die bereits bestehenden EU-Kompetenzen im Bereich Wirtschaftskoordinierung hinausgeht. Was kann der Euro-Pakt, was die EU bisher nicht konnte?

Jean-Claude Juncker: In der Tat reicht es nicht aus, den Pakt für den Euro umzusetzen, um die Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsländern zu koordinieren. Es muss auch Sorge getragen werden, dass wachstumsstärkende Politikfelder stärker gefördert werden. Deswegen habe ich darauf gepocht, dass bei der Einschätzung der Wettbewerbsfähigkeit eines Mitgliedslands auch Investitionen in Infrastrukturvorhaben berücksichtigt werden. Außerdem würde es der EU gut zu Gesicht stehen, wenn sie die soziale Dimension des Binnenmarkts stärker betonen würde. Ich wiederhole daher meine alte Forderung nach der Einführung von einem Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten in der Union, zu dem auch ein gesetzlicher Mindestlohn in allen Mitgliedsländern gehört. Ich weiß, dass das nicht jeder so sieht.

Luxemburger Wort: Nach Ansicht der Gewerkschaften ist der Pakt für den Euro unsozial. Haben sie recht?

Jean-Claude Juncker: Nein. Der Pakt an sich ist nicht unsozial, seine Ausführung kann es aber sehr wohl sein, denn es bleibt der Regierung jedes Mitgliedsland überlassen, die Bestimmungen nach eigenem Gutdünken umzusetzen. In Luxemburg hat die Umsetzung des Euro-Pakts nicht zur Folge, dass wir nun den Einstieg in den Ausstieg aus der Sozialpolitik einleiten werden. Wir halten weiterhin an unserer zielorientierten und vernünftigen Mischung aus wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Solidarität fest.

Luxemburger Wort: Bei den europäischen Sozialdemokraten sollen Sie sich für die Einführung einer Finanztransaktionssteuer in der Eurozone ausgesprochen haben. Bisher hieß es doch immer, ein Alleingang der Eurozone würde den Finanzplatz gegenüber der internationalen Konkurrenz benachteiligen.

Jean-Claude Juncker: Ich bin mir der Gefahren bewusst, die auf den Finanzplatz zukommen, sollte die Eurozone die Transaktionssteuer im Alleingang einführen. Deswegen kommt es darauf an, auf welchen Finanzprodukten diese Abgabe erhoben wird. Werden nur Risikoprodukte belangt, dann bin ich mir ziemlich sicher, dass wir eine weitreichende internationale Einigung finden werden. Am Prinzip der Transaktionssteuer halte ich aber bedingungslos fest, auch wenn einige in Europa und auch in Luxemburg anderer Ansicht sind. Immer mehr Menschen in Europa haben nämlich den Eindruck, dass sie die Kosten der Krise alleine tragen, während die eigentlichen Krisenverursacher ungeschont davonkommen. Deswegen werde ich auch weiterhin auf strengere Regeln bei der Vergabe der Banker-Boni pochen. Wir können doch nicht nach der Krise einfach zur Tagesordnung übergehen, ohne uns erneut mit deren Ursachen auseinanderzusetzen. Das muss man als Politiker doch spüren.

Luxemburger Wort: Kann man mit dieser Transaktionssteuer nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und die Einnahmen für die Investitionen verwenden, die bei der Energiewende anfallen?

Jean-Claude Juncker: Ein Gespräch über die Verwendung einer Abgabe, die es noch gar nicht gibt, halte ich verfrüht. Ohnehin wird es noch längere Zeit dauern, ehe die Transaktionssteuer beschlossen wird. Sollte es sie eines Tages geben, so sollten die Einnahmen meiner Ansicht nach in die langfristige finanzielle Absicherung der Entwicklungshilfe fließen. Ich hätte aber auch nichts dagegen einzuwenden, Teile davon für die Klimapolitik zu verwenden.

Luxemburger Wort: Wie kann sich Europa langfristig energetisch absichern, wo doch die Atomenenergie nach Fukushima in Verruf geraten ist und die Versorgung mit Erdöl aus Nordafrika nicht mehr so sicher ist wie vor einigen Monaten noch?

Jean-Claude Juncker: Ich habe nie zu jenen gehört, die sich die Zukunft unseres Wirtschaftsraums nuklear vorgestellt haben. Die internationale Staatengemeinschaft und die EU täten gut daran, keine neuen Atomzentralen zu bauen.

Luxemburger Wort: Soll die EU nach Fukushima die Fördermittel für Nukleartechnologie und für das Kernfusionsprogramm Iter einstellen?

Jean-Claude Juncker: Das ist eine Frage, mit der ich mich derzeit auseinandersetze. Auf Iter treffen die langfristigen Probleme nicht zu, die bei der Kernspaltung und der Nutzung der Atomenergie anfallen. Ich bin mir aber sehr wohl bewusst, dass es in der Öffentlichkeit wenig Verständnis für diese Art von Energieprogrammen gibt, und deswegen denke ich, dass es bei der Neufestlegung der EU-Finanzperspektiven zu einer Umschichtung der Forschungsausgaben kommen muss, weg von der Kernenergie und hin zu den alternativen und erneuerbaren Energiequellen.

Luxemburger Wort: Vom Krisenherd Fukushima zum Krisenherd Libyen: Soll die Nato die Führungsrolle beim Militäreinsatz gegen das Regime in Tripolis übernehmen?

Jean-Claude Juncker: Ich hätte grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden. Es war aber Frankreich, das den Militäreinsatz in die Wege geleitet hat, und Frankreich steht einer Führungsrolle der Nato gegen Libyen kritisch gegenüber. Luxemburg hat bei militärischen Aktionen ohnehin wenig zu melden, deswegen fände ich es ratsam, wenn luxemburgische Politiker sich in diesem Zusammenhang eine gewisse Bescheidenheit bei ihren Aussagen auferlegen würden.

Luxemburger Wort: Beim Libyen-Einsatz ist sich die Nato ebenso uneins wie die EU. Von einer gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik kann wieder einmal keine Rede sein.

Jean-Claude Juncker: Ich halte eine gemeinsame EU-Außen- und Sicherheitspolitik für unbedingt notwendig, auch wenn ich nicht mit schnellen Fortschritten in diese Richtung rechne. Darüber hinaus zeigt der Fall Libyen, dass zwei Staaten, die zu Recht eine Führungsrolle in der EU anstreben, nämlich Deutschland und Frankreich, in wesentlichen Fragen nicht immer eine Linie verfolgen. Das ist bedauerlich, jedoch wäre damit das Märchen widerlegt, dass Berlin und Paris sich stets verbrüdern, und dass neben ihnen in Europa nichts anderes gedeiht.

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