"Im Rhythmus der Welt", Jean-Claude Juncker au sujet de la stabilité de l'euro, des processus de réforme et des leçons à tirer de l'accident nucéaire au Japon

TELECRAN: Politiker in der EU scheinen oft zu zaudern, sei es bei der Eurokrise oder der Frage nach der richtigen Haltung im Libyenkonflikt. Teilen Sie die Sicht?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Eurokrise ist keine Eurokrise, sondern eine Verschuldungskrise einiger Länder aus der Eurozone. Der Euro ist stabil, sowohl von seiner Kaufkraft wie seinem Außenwert her. Die Eurozone mag vielleicht den Eindruck erweckt haben, langsam zu handeln, doch ist sie in Wirklichkeit mit einem für europäische Verhältnisse erstaunlichen Tempo vorgegangen. Sie hat ab der Griechenlandkrise im Februar 2010 bis jetzt zum Frühjahrsgipfel Ende März in Brüssel technisch komplizierte, politisch schwierige, in eine bessere Zukunft weisende Entscheidungen getroffen, wie ich es in 25 Jahren noch nie erlebt habe. Ich weiß, dass der Eindruck entstanden ist, die EU würde den Finanzmärkten hinterher humpeln statt sie zu überholen. Auch mir ging es nicht immer schnell genug. In der Summe kamen aber wichtige Entscheidungen heraus.

TELECRAN: Und die Haltung zu den Vorgängen in Nordafrika?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Salopp gesagt, mussten sich die Europäer erst einmal eingestehen, 20 Jahre lang auf die falschen Pferde gesetzt zu haben, und dann waren, als die Umsturzbewegungen einsetzen, keine Gesprächspartner da, und wir, wenn wir ehrlich sind, wurden wie auch die USA oder andere internationale Akteure auf dem falschen Fuß erwischt. Aber hätte ich im Dezember gesagt, die EU würde mit zum Abgang der Machthaber in Tunesien und Ägypten beitragen, europäische Staaten würden zum Schutz der Zivilbevölkerung Militärstellungen in Libyen bombardieren, hätte doch nicht nur die Télécran-Redaktion mich für verrückt erklärt.

TELECRAN: Ist die Politik angesichts all dieser Krisen, Katastrophen und Kriege nur noch ein riesiger Reparaturbetrieb?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Politik ist nicht mehr ein Reparaturbetrieb wie eine Zeitungsredaktion. Gelegentlich hat man nicht von Anfang an die richtige Schreibweise, weil man mit den Augen von gestern auf die Wirklichkeit von heute blickt. Wir müssen uns in Europa an den Gedanken gewöhnen, dass wir nicht Herr und Meister über das Geschick in Nachbarregionen sind. Ab und an schreiben Völker ihre Geschichte selbst.

Staatsfinanzen ins Lot

TELECRAN: Als Eurogruppenchef müssen Sie einen harten Sanierungskurs von drei Ländern fordern. Im eigenen Land rennen Ihnen Gewerkschaften und Patronat bei jedem Sparbeschluss gleich die Türen ein. Halten Sie dagegen?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Als die Wirtschaft infolge der Bankenkrise vor dem Abgrund stand, war die Politik der Retter. Jetzt gilt es im Interesse der nachkommenden Generationen, die Staatsfinanzen zu konsolidieren in der Eurozone, also auch in Luxemburg, ohne aber konjunkturelle Schäden anzurichten. Ich empfinde es als schmerzlich, wenn unter den Konsolidierungsprogrammen in Griechenland, Irland und Portugal sozial Schwache leiden müssen. Größer aber ist meine Angst, dass es für sie noch schlimmer kommen könnte, wenn die Euro-Zone die Bewältigung der Schuldenkrise zu lange schleifen lassen würde. Was Luxemburg betrifft, hält diese Regierung an ihren Plänen zur Sanierung des Staatshaushalts bis 2014 fest. Zwar geht es den Staatsfinanzen besser, aber noch nicht so gut, dass die Regierung die Konsolidierungsmaßnahmen einstellen könnte

TELECRAN: Schon wird spekuliert, dass auch der 700-Millionen Rettungsschirm für den Euro nicht hält, wenn Spanien und Italien wackeln. Schlafen Sie noch gut?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Ich schlafe gut, aber nicht lange genug. Was den neuen Krisenfonds und seine Einlagenhöhe angeht, halte ich ihn für ausreichend genug.

TELECRAN: Wie steht es um die Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer, von der die Caritas in ihrem neuen Sozialalmanachals dem wahren Gradmesser von Politikgestaltung schreibt?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Schreibt die Caritas auch, dass ich schon seit einem Jahr für die Einführung solch einer Steuer auf Risikogeschäften, am besten weltweit, plädiere? Geht das nicht, bin ich für eine Einführung dieser Art von Steuer auf Risikogeschäften zumindest innerhalb der Eurozone. Ich halte den Finanzsektor nämlich weltweit für unterbesteuert und finde es nur normal, dass die internationale Finanzbranche als ursächlicher Verursacher der Wirtschaftskrise jetzt wie all die anderen ihren Beitrag zur Bewältigung der Folgekosten dieser Krise leistet. In meinen Augen ist das geradezu eine moralische Notwendigkeit. Zur sozialen Marktwirtschaft gehört der Grundsatz, dass Eigentum verpflichtet.

Luxemburger Politik mit Augenmaß

TELECRAN: Seit jahrzehnten halten Weltpolitik und Europakrisen Sie in Atem. Mit welcher Haltung gehen Sie da an die Luxemburger Regierungspolitik heran?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die Luxemburger Politik atmet im Rhythmus der Herausforderungen, die ihr die Weltereignisse und die EU-Politik diktieren. Insofern handelt es sich um keine wesentlich unterschiedlichen Beschäftigungsfelder für mich. Für die Luxemburger Politik gilt, nicht nur aus eigenem Politikverständnis heraus Entscheidungen reifen zu lassen, sondern sich auch einen Blick für gute Beispiele aus anderen Ländern zu bewahren. Die handwerkliche Schwierigkeit der Politik besteht heute darin, dass Politikern von einer übermediatisierten Welt keine Zeit mehr zum Nachdenken eingeräumt wird. Ich beanspruche für mich aber das Recht, über komplizierte Fragen auch einmal länger nachzudenken, ehe ich mich äußere.

Koalition mit Sinn für Pragmatismus

TELECRAN: Wie stabil ist diese Koalition?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Dies ist für mich bereits die siebte Regierung, in der ich bin, und ich erlebe sie, trotz einer öffentlich vielleicht anderen Wahrnehmung, als eine der stabilsten. Ich bin aber auch nicht mehr so von allen möglichen Arten von Schlachtgeschrei zu beeindrucken.

TELECRAN: Wie viel Reibungsfläche verträgt diese Koalition?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Entgegen allen Annahmen wird in dieser Regierung nicht viel gestritten. Es gibt ab und an unterschiedliche Meinungen, und für meinen Geschmack werden zu viele Diskussionen in der Öffentlichkeit ausgetragen. Aber Demokratie lebt vom Widerspruch und eine Regierung ist kein Gesangverein. Ich kann nur betonen, dass diese Koalition nicht am Ende ihrer Gemeinsamkeiten angekommen ist und ich kann auch keine Kräfte in der Regierung entdecken, die dieser Koalition ein Ende bereiten würden.

TELECRAN: Ist der Pragmatismus, den die Koalition 2010 gezeigt hat - durchdrücken, was geht, fallen lassen, was nicht geht - auch die vorherrschende Regierungshaltung 2011?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Ich denke, dass die Regierung eine pragmatische Herangehensweise an die sich stellenden Probleme hat. Dabei kann sie nicht immer im Konsens formulieren, was in der Gesellschaft teils heftig umstritten ist. In der Politik sind Kompromisse notwendig. Wer Kompromisse als unethisch abstempelt, legt Axt an das Demokratieverständnis von Staatsführung. Eine Regierung kann selten nur auch alle Vorhaben, die ihr wichtig erscheinen, durchsetzen.

Langsame Reformprozesse in Luxemburg

TELECRAN: Warum kommt der Modernisierungsprozess in Luxemburg nicht richtig in Gang?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Wie die übrige westliche Welt zeichnet sich Luxemburg durch eine gewisse Trägheit bei der Umstellung aus, die in einer Reformmüdigkeit endet, die nicht gut ist angesichts einer sich rasant verändernden Welt. Globalisierung ist kein Phänomen der Wirtschaft allein, sondern hat alle Lebensbereiche erfasst. Da muss jeder sich auf ständige Veränderungen einstellen. Menschen haben solche Veränderungen aber nicht gern, sie hängen an ihrem gewöhnten Ambiente. Daher ist Politik kompliziert geworden. Denn man muss pausenlos Probleme beschreiben, die sich mit Sicherheit in 20 Jahren stellen werden und deren Anwachsen man nur bekämpfen kann, indem man schon heute konsequent diese Probleme angeht. Ganz oft besteht bei den Menschen in wie außerhalb der Politik aber nicht die Bereitschaft, sich heute den Aufgaben von morgen zu stellen. Das ist mühselig.

TELECRAN: Übermäßiges Sicherheitsbedürfnis lässt Gesellschaften beschleunigt altern, sagen Politologen, und sehen in mehr Risikobereitschaft den wahren Jungbrunnen. Und Sie?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Die einzige Art, sich grundsätzlich Sicherheit in vielen Lebensbereichen zu bewahren, besteht darin, sich von sich aus den Veränderungen anzupassen. Wer dazu nicht bereit ist, wird nolens volens von anderen geändert. Daher ist es mein Anliegen, dass Luxemburg als Land stets selbst die Notwendigkeit zur Veränderung erkennt und sie so herbeiführt, dass die Welt von morgen die von gestern noch ein wenig widerspiegelt.

TELECRAN: Warum wehren sich die Luxemburger so gegen jede Art von Reformen?

JEAN-CLAUDE JIJNCKER: Die anstehenden großen Reformen stoßen anfangs auf Ablehnung, weil der Wille zur Veränderung nicht ausgeprägt genug ist und nur der Aspekt des aktuellen Verzichts gesehen wird, nicht aber der Aspekt der Zukunftssicherung. Ich glaube nicht, dass die Luxemburger sich vor Reformen stärker fürchten als die Menschen in den Nachbarländern. Sie gehen vielleicht zögerlich an sie heran, weil sie wohlhabender sind.

TELECRAN: Wenn anlässlich der Rede zur Lage der Nation Ihr Blick auf Luxemburg im Jahr 2011 fällt, was sehen Sie dann?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Von außen betrachtet ist auf den ersten Blick alles schön. Doch wenn man unter den Teppich guckt, sieht man all die ungelösten oder ungenügend gelösten Probleme, um die sich die große Öffentlichkeit zu wenig kümmert. Ich rede von 36 toten Obdachlosen allein 2010, von Minderjährigen im Gefängnis, von Hunderten von Schulabbrechern, deren Spur sich verliert, und von immer mehr Kindern und Jugendlichen mit schweren Verhaltensstörungen, für die es keine Therapieplätze im Land gibt. Das sind alles keine Probleme, die Zehntausende ein wenig betreffen, sondern Probleme, die ein paar wenige betreffen und zwar zu 100 Prozent, so dass die Probleme ihnen die Luft zum Leben nehmen. Es sind Fälle, für die es keine gewerkschaftlich organisierten Forderungen gibt. Ich hätte gern, dass die Luxemburger Politik sich wieder mehr auf solche Probleme konzentriert. Ich hätte auch gerne, dass die, die längst alles haben, was sie brauchen, ein wenig langsamer treten, damit der Staat genug Finanzspielraum behält, um solche Probleme anzugehen, denn sonst fallen diese vielen kleinen Probleme der Gesellschafteinmal massiv auf den Kopf.

Die Lehre nach Japan

TELECRAN: Herr Premierminister, was lernt die Politik, was lernt die Gesellschaft aus Ereignissen wie der Nuklearkatastrophe in Japan?

JEAN-CLAUDE JUNCKER: Wenn nach Ereignissen, die die Menschen aufrütteln, nicht sofort politischen Veränderungen eintreten, fürchte ich, könnte es bald schon wieder zu spät sein dafür, da das Langzeitgedächnis vieler schwach ausgeprägt ist. Die Katastrophe in Japan könnte aber eine Zäsur in der Weltgeschichte markieren. Ich kann mir keine Energiepolitik der Zukunft vorstellen, die ohne Lehren aus der japanischen Atomkatastrophe auskommt. Sie hat gezeigt, was wir eigentlich schon wussten, nämlich, dass im Bereich der Nuklearenergie das Restrisiko ein Risiko zuviel ist. Wenn ich aber mit ausländischen Regierungschefs spreche, habe ich nicht den Eindruck, dass der globale Atomausstieg auf ihrer Tagesordnung steht.

TELECRAN: In der Atomfrage ist besonders Frankreich ganz anderer Meinung. Was bleibt zu tun?

JEAN-CLAUDE JIJNCKER: Eigenartigerweise ist es in Luxemburg nicht so bekannt, aber ich möchte daran erinnern, dass zwei belgische Atomzentralen näher bei Wiltz liegen als Cattenom bei Wiltz. Als Regierung, die keine auf Atomstrom vorrangig abzielende Energiepolitik betreibt, müssen wir unsere Politik nicht ändern. Luxemburg gehört zu den Staaten in der EU, die für den schnellstmöglichen Ausstieg plädieren. Mir ist klar, dass dies nicht im Hau-Ruckverfahren geht, aber es muss umso konsequenter in Richtung erneuerbare Energien, Energiesparen, Energieeffizienz gehen. Das ist in allen Köpfen angekommen und deshalb muss es zu einer Beschleunigung beim Umstieg kommen.

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