"Athen ist nicht pleite": Jean-Claude Juncker au sujet de la crise en Grèce

SPIEGEL: Herr Premierminister, Sie sind Christdemokrat und Katholik, deshalb wollen wir mit Ihnen über die Zehn Gebote sprechen.

Jean-Claude Juncker: Ich ahne schon, worauf Sie hinauswollen.

SPIEGEL: Kennen Sie das achte Gebot?

Jean-Claude Juncker: Sicherlich. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.

SPIEGEL: Das nehmen Sie offenbar nicht ganz so ernst. Vor gut zwei Wochen haben Sie einen Bericht von SPIEGEL ONLINE über das Geheimtreffen einiger EU-Finanzminister zur Lage in Griechenland dementiert, obwohl in Luxemburg schon die Staatskarossen vorfuhren.

Jean-Claude Juncker: Das wichtigste Gebot verlangt, anderen keinen Schaden zuzufügen. Das findet sich zwar so nicht unter den Zehn Geboten, lässt sich aber daraus ableiten. Die Finanzminister mehrerer Euro-Staaten hatten sich an jenem Freitag zu einem Treffen mit dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Jean-Claude Trichet, verabredet. Weil die Finanzmärkte in Europa noch nicht geschlossen waren und auch der Handel an der Wall Street noch lief, mussten wir die Existenz des Treffens leugnen. Andernfalls wäre der Kurs des Euro gegenüber dem Dollar, der ja wegen Ihrer Meldung schon gesunken war, katastrophal abgestürzt.

SPIEGEL: Mit dem falschen Dementi haben Sie nicht nur Ihrer eigenen Glaubwürdigkeit geschadet, sondern auch der europäischen Finanzpolitik.

Jean-Claude Juncker: Es hat auch die Glaubwürdigkeit von SPIEGEL ONLINE nicht erhöht, die Falschmeldung in die Welt zu setzen, wir säßen in Luxemburg zusammen und redeten über den Austritt Griechenlands aus der Währungsunion.

SPIEGEL: Mit Verlaub, SPIEGEL ONLINE lagen entsprechende Informationen aus Regierungskreisen vor sowie ein eigens für dieses Treffen gefertigtes Arbeitspapier für den deutschen Finanzminister.

Jean-Claude Juncker: Dass Finanzminister Papiere dabeihaben, in denen alle Fragen enthalten sind, die in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ist nicht ungewöhnlich. Und die Frage nach dem Austritt Griechenlands aus der Währungsunion wird ja in der Öffentlichkeit diskutiert. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Frage auf der Tagesordnung einer Sitzung steht. Umso entschiedener musste ich dafür sorgen, dass keine unnötigen Turbulenzen an den Märkten entstehen.

SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, dass man als Finanzminister im Zeitalter globaler Kapitalmärkte den Menschen nicht mehr die Wahrheit sagen darf?

Jean-Claude Juncker: Ich habe auf Ihre Frage keine schlüsselfertige Antwort. Mein Hauptaugenmerk ist darauf gerichtet, die Menschen vor Nachteilen zu bewahren. Deshalb bin ich geradezu gezwungen, dafür zu sorgen, dass keine gefährlichen Gerüchte in Umlauf kommen. Wegen eines falschen Dementis renne ich jedenfalls nicht sofort zu meinem Beichtvater. Der liebe Gott versteht von den Finanzmärkten mehr als viele, die darüber schreiben.

SPIEGEL: Der frühere Bundespräsident Horst Köhler hat die Finanzmärkte als "Monster" bezeichnet. Hat dieses Monster auch die Art und Weise verändert, wie sich Politiker mitteilen können?

Jean-Claude Juncker: Ohne Frage. Wenn ich einen Vorgang nicht bestätige, obwohl ich es eigentlich müsste, weiß ich jedenfalls genau, warum ich so handle. Wir tun uns angesichts der Nervosität der Finanzmärkte schwer, die Öffentlichkeit stets adäquat und korrekt zu informieren. Das ist bedauerlich, aber leider unvermeidlich.

SPIEGEL: Wenn Geheimtreffen stattfinden und nicht immer die Wahrheit gesagt wird, entsteht bei den Menschen der Eindruck, irgendetwas kann mit diesem Europa nicht stimmen.

Jean-Claude Juncker: Die Menschen verstehen sehr gut, dass sich Politiker in sensiblen Fragen hinter verschlossenen Türen beraten müssen. Ich hatte zehn Sekunden, um zu entscheiden, wie ich auf die Meldung von SPIEGEL ONLINE reagiere. Mal angenommen, ich hätte gesagt: "Okay, wir sitzen zusammen, aber ich sage nicht, worüber wir reden wollen", hätte das an den Finanzmärkten einen Tsunami ausgelöst. Da habe ich mich lieber dafür entschieden, eine kleine Empörungswelle über eine Notlüge zu produzieren.

SPIEGEL: Wir wollen es trotzdem mit der Wahrheit versuchen: Wie schlecht steht es um Griechenland wirklich?

Jean-Claude Juncker: Griechenland hat das verabredete Konsolidierungsprogramm nur ungenügend umgesetzt. Die Einnahmen liegen neun Prozent unter dem Soll, die Reform des Steuersystems kommt nicht so voran wie verabredet, und die geplanten Privatisierungen sind nicht einmal in Angriff genommen. Diese Versäumnisse haben wir unseren griechischen Freunden beim letzten Treffen der EU-Finanzminister in sprachlich direkter Form nahezubringen versucht.

SPIEGEL: Was muss Athen ändern?

Jean-Claude Juncker: Griechenland kann noch einiges tun, um seinen Haushalt in Ordnung zu bringen. Der Staatsapparat ist aufgebläht und muss reduziert werden. Zudem verfügt das Land über beträchtliche Vermögenswerte in Staatsbesitz.

SPIEGEL: Experten schätzen den öffentlichen Besitz auf rund 300 Milliarden Euro.

Jean-Claude Juncker: Ich kann diese Zahl so nicht bestätigen. Ich gehe aber davon aus, dass die griechische Regierung über die Jahre mit Privatisierungen erheblich mehr erlösen kann als die 50 Milliarden Euro, die sie selbst vorgeschlagen hat.

SPIEGEL: Das wird die griechische Regierung aber kaum aus eigenem Antrieb schaffen. Müssen Sie Athen nicht stärker unter Druck setzen?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union wird das Privatisierungsprogramm künftig so eng begleiten, als würden wir es selbst durchführen. Ich würde es zum Beispiel begrüßen, wenn unsere griechischen Freunde nach dem Vorbild der deutschen Treuhandanstalt eine regierungsunabhängige Privatisierungsagentur gründen würden, die auch mit ausländischen Experten besetzt ist. Des Weiteren erwartet die europäische Staatengemeinschaft, dass die beiden großen politischen Gruppierungen des Landes in dieser politischen Schicksalsfrage ihre kleinlichen Streitigkeiten beilegen: Regierung und Opposition sollten gemeinsam erklären, dass sie sich zu den Reformvereinbarungen mit der EU bekennen.

SPIEGEL: Die Schuldenlast des Landes ist so groß, dass es mit harten Sparpaketen und Krediten nicht aus der Krise kommt. Warum räumen Sie nicht endlich ein, dass Griechenland pleite ist?

Jean-Claude Juncker: Griechenland ist nicht pleite. Das sagen uns auch die erfahrenen Experten des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank. Ich bin fest davon überzeugt, dass es in gemeinsamer Anstrengung gelingen kann, Griechenland aus der Krise zu führen.

SPIEGEL: Die Gesamtverschuldung beläuft sich auf fast 160 Prozent der griechischen Wirtschaftskraft. Wie soll das Land mit dieser Last je wieder auf einen grünen Zweig kommen?

Jean-Claude Juncker: Die USA oder Japan haben auch einen hohen Schuldenstand, und niemand würde behaupten, dass diese Länder pleite sind.

SPIEGEL: Aber Japan und die USA haben eine eigene Währung, die sie im Notfall abwerten können.

Jean-Claude Juncker: Dieser Weg ist Griechenland versperrt, das räume ich ein. Dennoch ist die Regierung nicht machtlos. Im Gegenteil: Griechenland kann seine Wettbewerbsfähigkeit stärken, es kann eine vernünftige Wirtschaftspolitik betreiben und mehr Wachstum schaffen.

SPIEGEL: Es regiert das Prinzip Hoffnung.

Jean-Claude Juncker: Nein, ich bedenke die Alternativen. Würde Griechenland morgen den Staatsbankrott erklären, hätte das Land auf Jahre keinen Zugang zum internationalen Finanzmarkt mehr, und seine wichtigsten Gläubiger, die Banken in Deutschland und Europa, hätten ein riesiges Problem - mit unkalkulierbaren Folgen für den Finanzmarkt.

SPIEGEL: Sie übertreiben doch. Die europäischen Kreditinstitute stehen besser da als vor zwei Jahren, und viele Länder haben eigene Rettungsinstrumente zum Schutz vor Bankencrashs eingerichtet.

Jean-Claude Juncker: Da wäre ich vorsichtig. Wir stehen noch immer im Epizentrum einer globalen Krise. Wir haben es mit weitgehend irrationalen Märkten zu tun, wir haben es mit nervösen Anlegern zu tun, und wir haben es mit Rating-Agenturen zu tun, deren Befunde nicht immer einwandfrei nachvollziehbar sind. Ich bleibe dabei: Bei einem Staatsbankrott mit anschließender Umschuldung würden wir einen Geist aus der Flasche lassen, von dem wir nicht wissen, wohin er fliegen wird.

SPIEGEL: Den Nutzen haben die Banken, die Sie so gern kritisieren. Die können hohe Gewinne für ihre Griechenland-Engagements einstreichen und sicher sein, dass die Risiken am Ende deutsche oder niederländische Steuerzahler tragen. Wie wollen Sie das den Bürgern vermitteln?

Jean-Claude Juncker: Eine Wirtschaftsordnung, bei der die Gewinne privatisiert und die Risiken sozialisiert werden, widerspricht meiner Grundüberzeugung. Wir müssen aber aufpassen, dass wir durch das Pochen auf ordnungspolitische Prinzipien nicht das globale Finanzsystem in die Luft jagen. Deshalb rate ich zu größter Zurückhaltung, wenn es um die durchaus berechtigte Forderung geht, private Gläubiger an den Kosten der Krise zu beteiligen.

SPIEGEL: Sie haben deshalb für eine "sanfte Umschuldung" plädiert. Was, bitte, ist darunter zu verstehen?

Jean-Claude Juncker: Zunächst muss Griechenland sein Konsolidierungsprogramm wie versprochen erfüllen. Wenn das geschehen ist, können wir im Gegenzug darüber nachdenken, die Laufzeiten von öffentlichen wie privaten Krediten zu verlängern und die Zinsen zu senken. Das verstehe ich unter "sanfter Umschuldung": Es wäre der allerletzte Schritt in einem sehr langen Prozess.

SPIEGEL: EZB-Präsident Trichet will daüber nicht mal nachdenken. Können Sie nachvollziehen, weshalb er sich strikt gegen jede Form von Umschuldung wendet?

Jean-Claude Juncker: Trichet ist beim Thema Umschuldung sehr vorsichtig, weil er zu Recht fürchtet, dass die Krise dann auf andere Länder übergreifen könnte. Deshalb kann eine sanfte Umschuldung nur in bestimmten Fällen und nur unter besonderen Bedingungen in Frage kommen.

SPIEGEL: Konkreter, bitte!

Jean-Claude Juncker: Es muss gewährleistet sein, dass eine sanfte Umschuldung von den Rating-Agenturen nicht als Zahlungsausfall gewertet wird. Andernfalls müssten die Banken milliardenschwere Abschreibungen auf ihre Forderungen vornehmen, mit unkalkulierbaren Folgen für den Kapitalmarkt.

SPIEGEL: Ihre Zurückhaltung in Sachen Umschuldung in allen Ehren. Was passiert aber, wenn wir in einem Jahr wieder hier sitzen und feststellen, dass Griechenland immer noch nicht auf Sanierungskurs ist?

Jean-Claude Juncker: Wenn der Esel eine Katze wäre, dann könnte er den Baum hochkriechen. Er ist aber keine Katze. Trotzdem ist das eine Frage, die viele Menschen bewegt. Meine Antwort darauf fällt fast ein wenig theologisch aus: Ich glaube nicht, dass sich diese Frage jemals stellt.

SPIEGEL: Viele Bürger sind nicht so glaubensfest wie Sie. Sie fürchten, dass bald Milliarden Steuergelder in andere Länder fließen, deshalb wächst europaweit der Widerstand gegen weitere Hilfsprogramme und den geplanten Rettungsschirm ESM.

Jean-Claude Juncker: Bisher hat noch kein europäischer Steuerzahler einen Cent für die Rettung verschuldeter Euro-Staaten zahlen müssen. Im Gegenteil: Derzeit zahlt Griechenland in beträchtlichem Umfang Zinsen an die Geberländer, deren Steuergelder bislang nicht benötigt wurden.

SPIEGEL: Aber es könnte so kommen. Kurt Tucholsky hat mal gesagt, das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.

Jean-Claude Juncker: Es stimmt, dass die Menschen meist ein gesundes Bauchgefühl haben, und das gilt auch für die Risiken der Rettungspakete. Ich halte es nur für falsch, dem Bauchgefühl völlig nachzugeben.

SPIEGEL: In den deutschen Regierungsfraktionen wird die Forderung lauter, in jedem Fall das Parlament zu beteiligen, bevor ein Euro-Land Hilfe aus dem ESM bekommt. Könnten Sie damit leben?

Jean-Claude Juncker: Es gibt einige Zentralbanker, die sich daran stören, dass wir in den zentralen Fragen in Europa Einstimmigkeit brauchen. Aber auch in Krisenzeiten können wir die Demokratie nicht aushebeln. Ich habe volles Verständnis dafür, dass dort, wo die Haushaltshoheit des Parlaments berührt ist, die Abgeordneten mitentscheiden wollen.

SPIEGEL: Europa befindet sich nicht nur in einer Finanzkrise. Vielerorts drehen Regierungen, getrieben von Populisten, die europäische Integration zurück. Italien, Frankreich und auch Dänemark stellen die Reisefreiheit in Frage. Wie erklären Sie sich diese Rückkehr zur Kleinstaaterei?

Jean-Claude Juncker: Als Luxemburger höre ich dieses Wort nicht gern, schließlich sind wir überzeugte Kleinstaatler. Aber es stimmt: Die Errungenschaften der europäischen Integration werden aus tagespolitischem Kalkül zur Disposition gestellt. Den Menschen ist in den vergangenen 20 Jahren etwas viel an Veränderungen zugemutet worden, von der Globalisierung bis zur Neuordnung Europas. Wenn wir das europäische Projekt jetzt nicht so gestalten, dass es bei den Menschen ankommt, laufen wir Gefahr, dass es scheitert.

SPIEGEL: Europa-Skepsis zahlt sich an der Wahlurne aus, wie das Beispiel der "Wahren Finnen" zeigt.

Jean-Claude Juncker: Wir dürfen Politik nicht mit Demoskopie verwechseln. Ich beobachte mit Sorge, dass sich auch in den großen Volksparteien Europas das Gefühl breitmacht, diesen Stimmungen nachgeben zu müssen. Ich warne davor, Populisten nachzuäffen. Man muss in der Politik bereit sein, sich von Zeit zu Zeit beschimpfen zu lassen. Wenn man mit den Menschen diskutieren will, dann muss man sich ihnen manchmal auch in den Weg stellen und sagen: "Halt, so geht das nicht." Wer den Wählern nur nachläuft, sieht sie nie von vorn.

SPIEGEL: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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