Jean-Claude Juncker au sujet de la crise de la dette souveraine, de la Grèce et de la cohésion au sein de l'Union européenne

Ingo Kahle: Europa ist heute mein Thema. Eine schwierige Woche in der deutschen und europäischen Politik liegt hinter uns. Und deshalb freue ich mich sehr, mit einem großen Europäer sprechen zu dürfen.

Mein Gast aus Luxemburg hat zu uns Deutschen ein besonderes Verhältnis, nicht nur weil er unser Land gut kennt; sein Vater, und mehrere von dessen Brüdern wurden von den Nazis zum Dienst in der Wehrmacht gezwungen.

Und doch trug der, der Christlich-Sozialen Volkspartei seines Landes angehörende Politiker die europäische Idee voran, die Deutschland wieder zu einem geachteten Teil der Völkerfamilie hat werden lassen.

Als Vorsitzender der Eurogruppe, also jener Staaten, die den Euro eingeführt haben, ist er ein zentraler Akteur in der aktuellen Krise.

Herzlich willkommen, Premierminister Jean-Claude Juncker.

Jean-Claude Juncker: Hallo.

Ingo Kahle: Herr Premierminister, ich freue mich deshalb ganz besonders dieses Interview führen zu dürfen, weil Sie kürzlich gesagt haben, die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Eurozone sollte nur hinter verschlossenen Türen, in dunklen, geheimen Räumen diskutiert werden.

Es gibt bei YouTube – übrigens belegt – den Satz von Ihnen: "Wenn es schwierig wird, muss man lügen." Nun ist die Lage besonders schwierig, und andererseits will ich die Wahrheit herausfinden. Was dürfen wir denn in diesem Gespräch erwarten?

Jean-Claude Juncker: Hier dürfen Sie fast alles erwarten. Und das was da auf YouTube rumgereicht wird, lässt ja – ich habe das zwar nie selbst gesehen – den Gesamtkontext außen vor.

Ich habe erklärt, wenn es um wichtige währungspolitische Entscheidungen geht – und habe das festgemacht an früheren währungspolitischen Entscheidungen während der Zeit, wo es noch das Europäische Währungssystem gab, also vor der Eurozeit – durfte man als Finanzminister Freitag nachmittags nie sagen, dass Samstag abends oder Sonntag morgens eine Sitzung nach Brüssel einberufen wurde, weil ansonsten, bei noch offenen Finanzmärkten in New York, sich Spekulationswellen breitester Art in Wallung gebracht hätten.

Und da ist das eigentlich eine abgemachte, verabredete Art und Weise der damaligen europäischen Finanzminister gewesen, dass man dann nichts dazu sagt, dass man einfach in Abrede stellt, dass so eine Sitzung stattfindet. Und mehr habe ich nicht gesagt.

Jetzt amüsiert sich auch die überregionale deutsche Presse, mich als systematischen Lügner hinzustellen. Ich kann damit leben [wird unterbrochen]

Ingo Kahle: Und das war jetzt nicht meine Intention.

Jean-Claude Juncker: Und das wäre nicht die erste Fehleinschätzung der überregionalen deutschen Presse, meine Person betreffend im Übrigen.

Ingo Kahle: Das Europaverständnis der Deutschen ist nicht mehr so wie es mal war. Die Zustimmung ist deutlich zurückgegangen. Ich meine, man muss natürlich auch sehen, was haben die Deutschen in letzter Zeit geschultert? Deutsche Einheit, Globalisierung, Sanierung der Sozialsysteme, Finanzkrise, viele haben Einkommensverluste erlitten.

Ihr Vater, zum Beispiel, war in der christlich-sozialen Gewerkschaftsbewegung. Verstehen Sie das, wenn Leute dann sagen: "Nö, sehe ich gar nicht ein?"

Jean-Claude Juncker: Erst mal möchte ich sagen, dass es zur deutschen Selbstbetrachtung gehört, so zu tun als ob nur die Deutschen gebeutelt worden wären. Das sind viele andere auch geworden.

Die Deutsche Einheit ist ja nicht nur ein Vorgang der die Deutschen betroffen hat, es ist auch ein Vorgang der die Nachbarn betroffen hat, und tangiert hat. Und die Nachbarn haben das, weil Deutschland sich nach dem Zweiten Weltkrieg so mustergültig bewegt hat, wie Deutschland sich eben bewegt hat, auch Interesse an dieser Frage gehabt. Und das ist der Kohl‘schen Außenpolitik eigentlich zu verdanken, dass es keine massiven, lang anhaltenden zwischenstaatlichen Reibereien in Europa gab, in dem Moment wo man sich für die Deutsche Einheit hat aussprechen müssen.

Die Finanzkrise hat alle im selben Masse erreicht. Der wirtschaftliche Rückgang, die rezessive Phase, die wir in 2009 gekannt haben hat alle fast gleichermaßen erreicht. Dies ist also kein deutsches Spezifikum, und insofern täte es den Deutschen gut, sich nicht zu betrachten als jemand, dem es schlimmer gegangen wäre als den anderen. Das ist nicht der Fall.

Die "Opfer" die von den deutschen Steuerzahlern, von der deutschen Politik, von der deutschen Öffentlichkeit, vom deutschen Volk, um das salopp zu pauschalisieren, verlangt werden, sind mit den Opfern vergleichbar, die andere auch bringen müssen. Diese Vorstellung, dass die Deutschen die einzigen zahlenden Sachsen Europas wären, ist eine völlig verkehrte Vorstellung.

Ingo Kahle: [undeutlich] dass sie in letzter Zeit schon ordentlich bluten mussten, so ist das nicht.

Jean-Claude Juncker: Die Deutschen bluten nicht mehr als die Luxemburger, und auch nicht mehr als andere. Pro Kopf sind sogar die luxemburgischen Erfordernisse wesentlich höher angesiedelt als die Pro-Kopf-Opfer, zwischen Gänsefüsschen, die den Deutschen abverlangt werden. Aber in der Summe ergibt sich natürlich eine etwas erklecklichere Summierung im deutschen Fall, als im luxemburgischen Fall.

Aber wenn ich hier mit luxemburgischen Bürgern und Steuerzahlern rede, die reden nicht darüber, dass die Deutschen so viele Milliarden zahlen, die sagen, wir zahlen pro Kopf mehr als die Deutschen. Insofern ist das etwas, was mich interessiert, berührt, aber nicht nachhaltig berührt.

Wobei ich gerne zugebe, um Ihren Gesamtgedanken aufzugreifen, dass den Menschen natürlich viel zugemutet wird, und sie auch teilweise Opfer fehlgerichteter Informationsstränge werden, die in die öffentliche Meinung hineinragen.

Bislang hat ja der deutsche Staat noch keinen Cent an Griechenland verloren. Wir haben Kredite gegeben, und diese Kredite sind verzinst worden. Wir kassieren Geld, das aus Griechenland in unsere Kassen, in die deutschen, die luxemburgischen, die niederländischen und die österreichischen fließt, und wir haben noch kein Geld ausgegeben. Wir haben Geld gekriegt.

Ingo Kahle: Ja, die Frage ist ja nur, ob es auch zurückgezahlt wird. Befürchten Sie denn [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Ja, ich bin im Übrigen davon überzeugt, dass es zurückbezahlt wird, ansonsten ich nicht luxemburgische Steuergelder virtuell zur Disposition stellen würde.

Ingo Kahle: Das Gefühl von Aussichtslosigkeit macht sich offenbar in der Bevölkerung breit. Und auch in der Politik registriere ich, jedenfalls in den Gesprächen, die ich jetzt geführt habe, so ein bisschen Ratlosigkeit. Es fiel ja auch das Wort vom Fass ohne Boden. Und das hat offenbar zum drastischen Absinken der Zustimmung der Deutschen zu Europa geführt.

Die Frage ist, was meinen Sie, wie hat deutsche Politik auch dazu beigetragen? Denn es wurde ja erst verkündet, von der Bundeskanzlerin, es gibt kein Geld für Griechenland. Dann gab es welches, dann kam noch dabei der Rettungsschirm, der sollte nicht genutzt werden, wird aber genutzt. Und ab 2013 gibt es also jetzt auch noch den dauerhaften Mechanismus. Also, die Begründung kann doch auf Dauer nicht das Fahrradprinzip sein: entweder es fährt oder es fällt um?

Jean-Claude Juncker: Es gibt in europapolitischen Dingen eine neue deutsche Zögerlichkeit, die es in der Form früher nicht gab. Ich gehöre nicht zu denen, die das fundamental bedauern.

Man muss sich in Europa daran gewöhnen, dass die Deutschen so geworden sind, wie die anderen immer schon waren, das heißt abwägend, überprüfend und manchmal zögernd. Ich halte das inzwischen für deutsche Normalität. Ich habe es immer begrüßt, dass die Deutschen zur Europäischen Union, zur europäischen Integration, und auch zum Eurogeschehen genau die Haltung, langsam aber sicher anzunehmen verstanden, die der Haltung der anderen Mitgliedstaaten der Eurozone ja auch entsprach.

Ich gehöre nicht der Truppe an, die denkt, Deutschland würde jetzt der europäischen Integration, oder dem Europrozess den Rücken zuwenden. Das sehe ich nicht so, weil ich die anderen besser kenne, als die Deutschen die anderen kennen.

Ingo Kahle: Werden wir konkreter. Die so genannte Troika aus IWF, EZB und EU hat offenbar die Hoffnung aufgegeben, dass sich Griechenland, wie bislang vorgesehen, refinanzieren kann. Nun hat sie zwar keine Finanzierungslücke beziffert, aber aus den Planungen lässt sich ja Einiges ablesen.

Was ist denn jetzt eigentlich in der Diskussion? Um wie viel Milliarden bis wann geht es jetzt eigentlich?

Jean-Claude Juncker: So einfach wie Sie die Frage stellen, lässt sie sich nicht beantworten. Griechenland muss sicherstellen – das tut Griechenland auch – dass es sein Haushaltsziel für 2011 erreicht.

Wenn die griechische Politik sich weiterhin so bewegen würde, wie sie sich jetzt in den ersten 6 Monaten bewegt hat, würde sie das Haushaltsziel nicht erreichen. Ergo muss die griechische Haushaltspolitik im zweiten Halbjahr sicherstellen, dass das Haushaltsziel erreicht wird. Das heißt in specie, dass drei weitere Prozentpunkte im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt eingespart werden müssen. Diesen Plan hat die griechische Regierung verabschiedet, wird dem Parlament zugeleitet, und wird, so wie die Dinge stehen, auch vom griechischen Parlament so verabschiedet werden.

Dann steht Griechenland in der Pflicht – dies ist abgemacht – ein sehr ambitioniertes Privatisierungsprogramm auf die Wege zu schicken, das bis Ende 2015 50 Milliarden Privatisierungserlös bringen muss, der zur Absenkung des griechischen Gesamtschuldenstandes be- und genutzt werden muss.

Dann sind wir der Auffassung, ich auch, wie die deutsche Politik insgesamt, dass es eine vernünftige, mit Augenmaß durchgeführte, Privatgläubigerbeteiligung geben muss. Und aus den Detailfestlegungen – Erreichen des Haushaltszieles, Privatisierungserlöse, Privatgläubigerbeteiligung – ergibt sich die Summe, für die der IWF zu einem Drittel, und die Eurozone zu zwei Drittel bereitstehen müssen.

Also wird man, das ist mein tägliches Los zurzeit, in vielen Gesprächen mit den 17 Finanzministern der Eurozone ausloten müssen, auch mit dem griechischen, und mit dem IWF, und mit der Europäischen Zentralbank, wie sie die einzelnen Untergruppierungen der Gesamtfinanzmasse im Detail artikulieren werden. Und dann wird man die Summe feststellen, die es braucht.

Wir brauchen, daran möchte ich allerdings keinen Zweifel lassen, ein neues Finanzierungsprogramm für Griechenland, das man nur dann verabschieden können wird, wenn dies unter striktesten Auflagen passiert. Das heißt, wenn die Griechen die Soliditätsvorleistung erbringen, die wir erwarten müssen, damit wir unserer Solidarpflicht nachkommen können.

Ingo Kahle: Also, ich verstehe das jetzt richtig: Sie nennen mir jetzt keine Zahlen, weil ja viele schon in der Diskussion sind?

Jean-Claude Juncker: Genau so. Der lange Satz war deshalb so lange ausgelegt, damit ich hier keine Zahlen nennen muss. Aber die Zahlen, die in der Öffentlichkeit kursieren sind in ihrer Totalität, in ihrer Gesamtsumme richtig, aber sagen nichts darüber aus, was die Euro-Mitgliedsstaaten, ergo auch die Deutschen, jetzt an weiteren Leistungen werden erbringen müssen.

Ingo Kahle: Also, wenn Sie jetzt so in Rätseln sprechen, dann sage ich, da sind Summen zwischen 60 und 120 Milliarden Euro im Spiel.

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass die Eurostaaten für die Summe werden geradestehen müssen.

Ingo Kahle: Wie ist das nun mit der privaten Beteiligung? Wie soll das funktionieren, vor allen Dingen, dass sie freiwillig bleibt?

Jean-Claude Juncker: Da müsste ich jetzt auch wieder, um Ihrer Frage zu entschlüpfen, lange Sätze anbringen.

Wir reden darüber unter den 17 Finanzministern der Eurozone, in engstem Kontakt mit Kommission und Europäischer Zentralbank. Ich bin der Auffassung, dass es eine Privatgläubigerbeteiligung geben muss.

Die muss allerdings so ausgerichtet werden, dass sie:

a) keine Infizierungs- und Ansteckungsgefahren für andere Mitgliedsstaaten der Eurozone enthält, und
b) dass diese Privatgläubigerbeteiligung von den Bewertungsagenturen, von den Ratingagenturen, nicht so ausgelegt wird, als ob dies ein Zahlungsausfall wäre.

Wäre es nämlich in der Einschätzung der Ratingagenturen ein Zahlungsausfall, dann müsste die Europäische Zentralbank aus ihrem Begleitprogramm zu diesem Gesamtprogramm aussteigen. Und Zahlungsausfall würde bedeuten, dass wir das Ende der Fahnenstange erreicht hätten.

Also, alles was unterhalb der Ebene des Kreditevents, Credit default, oder Zahlungsausfall bewegt – wie immer man auch die Termini hier wählen möchte – ist gangbar. Alles was größere Gefahren nach sich zieht, ist eine Sackgasse.

Ingo Kahle: EZB-Chef Trichet lehnt ja eben alles was nicht freiwillig ist ab [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Ja, es muss freiwillig sein. In der Kürze hätte ich mich auch darauf beschränken können.

Ingo Kahle: Herr Premierminister, auf Ihrem Geheimtreffen der großen Eurostaaten, der EZB, der EU-Kommission und Griechenlands im sicher sehr schönen luxemburgischen Schloss Senningen, am 6. Mai dieses Jahres, soll EZB-Präsident Jean-Claude Trichet empört den Saal verlassen haben, als es um das Thema Umschuldung Griechenlands ging? Können Sie uns etwas verraten?

Jean-Claude Juncker: Ich kann Ihnen das verraten. Das ist nicht so, weil wir haben auf der Terrasse getagt, und wir haben nicht über einen eventuellen Austritt Griechenlands aus der Eurozone beraten – das war ja die Spiegel-Online Meldung, und die wurde dementiert. Das war nie ein Thema gemeinsamer Erörterungen.

Dass wir im Schloss Senningen hier in Luxemburg, und später auch in Brüssel, über das Thema Privatgläubigerbeteiligung im Gesamtkontext, Umschuldung geredet haben, ist der Fall. Die Debatte läuft ja auch in die Richtung, und vor dieser Debatte kann niemand weglaufen.

Ingo Kahle: Und man muss den Hörern eben erklären, warum diese Debatte so wichtig ist. Also warum es nicht passieren darf, dass die Ratingagenturen bei irgendeiner freiwilligen Beteiligung sagen, diese Griechenlandpapiere werden herab auf “D�?, nämlich Default, also Zahlungsausfall gestellt. Das bedeutet nämlich, die EZB dürfte griechische Anleihen nicht mehr aufkaufen, weil sie sonst entgegen ihren Statuten einen bankrotten Staat aus der Notenpresse finanzieren würde. Das wäre also ihre Kapitulation.

Für 50 Milliarden hat sie schon gekauft. Mit anderen Worten, es geht hier um ein ganz hohes Gut, nämlich die Glaubwürdigkeit und die Unabhängigkeit der EZB.

Hat sie mit der Entscheidung, diese griechischen Anleihen zu kaufen, ihre Glaubwürdigkeit und ihre Unabhängigkeit nicht längst verloren?

Jean-Claude Juncker: Nein, das hat sie nicht. Die Europäische Zentralbank arbeitet, funktioniert und bewegt sich in totaler Unabhängigkeit. Präsident Trichet, andere Direktoriumsmitglieder der Zentralbank, haben nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie sich politischen Hinweisen oder politischen Befehlen nicht beugen würden.

Ich habe auch nicht in Erinnerung, dass es im letzten Jahr unmäßigen, und nicht zu akzeptierenden politischen Druck auf die Entscheidungsfindung der Europäischen Zentralbank gegeben hätte.

Präsident Trichet hat immer deutlich gemacht im Gespräch mit mir, mit der Kommission, mit der Eurogruppe, dass wir unsere Entscheidungen treffen sollen, in vollem Bewusstsein dessen was unsere Verantwortung wäre; und dass dann die Europäische Zentralbank ihre unabhängigen, geldpolitischen Entscheidungen treffen und Maßnahmenkataloge verabschieden würde.

Also, ich kann überhaupt nicht erkennen, dass es hier einen unzulässigen Einfluss der Politik auf die Entscheidungsfindung der EZB gegeben hätte. Die EZB ist sehr solide und strukturell stark aufgestellt, wenn es um die Abschottung zwischen EZB-Politik und europäischer Finanz- und Wirtschaftspolitik geht.

Ingo Kahle: Es hat ja, man kann schon fast sagen, einen Eklat damals gegeben, weil der damalige Bundesbankpräsident Axel Weber strikt gegen den Ankauf griechischer Staatsanleihen war. Die Regierungen müssten für ihre Schuldenpolitik selbst und alleine haften, hat er nämlich damals gesagt.

Hat Trichet, als er die Entscheidung getroffen hat, die er sich wahrlich schwer gemacht hat, diese Anleihen zu kaufen, sozusagen nicht mehr als Mister Euro sondern – was Sie ja durchaus, wie ich mal vermute, einfordern – als Mister Europa gehandelt?

Jean-Claude Juncker: Wir fordern von Herrn Trichet überhaupt nichts ein [wird unterbrochen]

Ingo Kahle: Nein, ich meine nicht von Trichet, sondern generell von Politikern, dass sie sich stärker für Europa engagieren.

Jean-Claude Juncker: Ja, aber Trichet ist ja in dem Sinne kein Politiker. Er ist ein unabhängig Handelnder, und er handelt ja auch nicht alleine, es sind ja Entscheidungen aller 17 Gouverneure der Zentralbank, die er verkündet. Obwohl ich zugeben muss, dass er sie ja auch massiv inspiriert, was ja seines Amtes ist.

Herr Weber hat sich von diesen Entscheidungen distanziert. Andere haben das nicht getan, weil dies Entscheidungen des EZB-Rates waren. Ich wundere mich manchmal, dass Herr Trichet, und andere – das kann man auch in der deutschen Presse nachlesen – sich über divergierende Meinungsäußerungen der Mitglieder der Eurogruppe ärgern. Die EZB tut das manchmal aber auch, wie Ihr Hinweis auf die dissidente Meinung von Herrn Weber ja zur Genüge belegt. Nein, ich sehe das nicht als ein gravierendes Problem.

Trichet macht seine Arbeit in einem, wie ich finde, bewundernswerten Maße außergewöhnlich gut. Das ist keine leichte Aufgabe. Er stellt sich seiner Aufgabe, und der Aufgabe der EZB in voller Verantwortungsbreite.

Und wir versuchen auch nicht, weil dies einfach keinen Sinn macht, Einfluss zu nehmen auf die Entscheidungsfindung und die Entscheidungsmotivierung der Europäischen Zentralbank. Er ist Mister Euro, und ein Mister Euro ist verantwortlich für das Ganze.

Ingo Kahle: Alles was nicht freiwillig ist, das lehnt er ab. Hat er da nicht eine Grenze erreicht? Er muss das ja so tun, weil ihm sonst doch letztlich gesagt werden würde, am Ende seiner Amtszeit: "Du hast Papiere gekauft, die hättest du überhaupt nicht kaufen dürfen. Und du darfst es auch nicht weiter tun."

Jean-Claude Juncker: Ich bin ja auch nicht Sprecher der Europäischen Zentralbank. Also, zuerst befragen Sie mich, was ich von der Politik der Bundesregierung hielte, und dann fragen Sie mich, was ich denn von den Meinungsäußerungen der EZB hielte.

Ingo Kahle: Das hängt doch zusammen, oder?

Jean-Claude Juncker: Und ich bin aber Präsident der Eurogruppe, und nicht Sprecher dieser oder der anderen Spartenaufteilung, die es sonst noch im Eurosystem gibt.

Ingo Kahle: Sie müssen es ja nicht kommentieren, um Herrn Trichet jetzt sozusagen zu treten [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Ja, aber Ihre Frage war aber so gemeint.

Ingo Kahle: Nein, ich wollte eigentlich nur die Zusammenhänge erklären, warum auch bestimmte Akteure so agieren.

Jean-Claude Juncker: Man muss ja Verständnis dafür haben, dass der EZB-Präsident, und überhaupt der EZB-Rat, mahnend in Richtung der Regierungen Dinge zum Ausdruck bringen, die auf die schiefe Bahn geraten könnten, falls die Regierungen sich nicht richtig bewegen. Das ist ja der interinstitutionelle Dialog, den wir brauchen. Und es ist Aufgabe der Europäischen Zentralbank dort zu warnen, wo sie auf der Lauer liegende Gefahrenmomente ausmacht.

Ich bin folgender Auffassung: Wir können diese Privatgläubigerbeteiligungen nicht ohne, und nicht gegen die Europäische Zentralbank durchfechten. Man muss einfach sehen – ich sage das nicht gerne, aber das ist so, aber das spricht für die Bank – dass die Glaubwürdigkeit der Europäischen Zentralbank um ein Vielfaches höher ist, als die Glaubwürdigkeit der Eurogruppe, der Finanzminister und der Regierungen. Das ist so, das spricht ja für die Europäische Zentralbank, das zeigt im Übrigen auch, dass sie sich von politischer Einflussnahme abzuschotten wusste.

Und deshalb muss man hier Lösungen zustande bringen. Daran arbeiten wir, und ich im Besonderen intensiv dieser Tage, und über die Pfingsttage, um eine tugendhafte Schnittmenge zwischen dem zustande zu bringen, was die EZB als Warnungen vorgibt, und dem was die Regierungen als Wünsche vortragen.

Aber dass die Europäische Zentralbank warnt, sie, die sie die Finanzmärkte wesentlich besser kennt, im Minutentakt besser kennt, als die Regierungen, ist doch ein Zustand, der eigentlich die Steuerbürger sehr beruhigen sollte.

Ingo Kahle: Na ja, was ich ja sagen wollte ist – was Sie aber ja nicht kommentieren müssen, das ist ja klar, aber ich kann mal sagen worauf ich hinauswollte– dass sie sich durch den Einkauf eben in diese Situation gebracht hat.

Denn was wäre eigentlich passiert, wenn sie es nicht getan hätte? Dann wäre genau das passiert, was Weber gesagt hat, dann hätten nämlich die europäischen Staaten zahlen müssen, richtig?

Jean-Claude Juncker: Ja, deshalb hätte Herr Weber auch nicht so tun sollen, als ob er der Gralshüter der Interessen der deutschen Steuerzahler wäre.

Ingo Kahle: Wie ist das eigentlich bei Ihnen? Sie sind natürlich auch der Gralshüter der luxemburgischen Steuerzahler. Die luxemburgischen Banken sind sehr mächtig. Werden die sich daran beteiligen, und/oder würden die große Probleme bekommen, wenn Griechenland jetzt umgeschuldet werden müsste?

Jean-Claude Juncker: Die luxemburgischen Banken sind relativ unterdurchschnittlich an den Exposures, wie man das im Neudeutschen nennt, in Griechenland beteiligt. Sogar, wenn es einen totalen Schuldenschnitt gäbe – den wird es nicht geben, und ich werde mich dem in allen Fällen in die Wege stellen – wäre das für keine luxemburgische Bank mit Problemen behaftet. Die Luxemburger sind vorsichtiger als andere.

Ingo Kahle: Aber wenn Sie jetzt sagen, Sie würden sich einem Schuldenschnitt, egal wie der nun aussieht [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Einem totalen, habe ich gesagt.

Ingo Kahle: Einem totalen Schuldenschnitt, ja klar, einer Umschuldung aber [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Einer totalen Umschuldung.

Ingo Kahle: An einer Umschuldung arbeiten wir doch jetzt hier, also sozusagen einer freiwilligen Umschuldung.

Jean-Claude Juncker: Ja, freiwillige Umschuldung und totale Umschuldung [wird unterbrochen]

Ingo Kahle: Ist ein Unterschied, klar.

Jean-Claude Juncker: Ja, es ist eine Frage der Größenordnung, und auch eine Frage der Endkonsequenzen, die sich aus dieser, oder jener Art totaler, oder sanfter Umschuldung, auch Reprofiling genannt, ergeben. Und die totale Umschuldung wird es nicht geben. Die Regierungen haben sich darauf verständigt. Die EZB wäre nicht dafür zu gewinnen, einer derartigen Lösung zuzustimmen.

Es wird eine sanfte, freiwillige Umschuldung geben müssen. Weil man muss ja auch sehen, das sage ich ja auch denen, die jeder Umschuldungsform ablehnend gegenüber stehen, dass wir aufpassen müssen, dass sich im Gesamtgefühl der öffentlichen Meinungen nicht die Idee festsetzt, als ginge es darum, in der Krise, wie getan, Banken zu retten – die haben wir ja nicht nur wegen der Banken gerettet – und als ob der Steuerzahler der einzige Adressat der letztendlich zu übernehmenden Verantwortung wäre.

Hier müssen sich alle beteiligen. Aber die Privatgläubiger in einer Art und Weise, dass eben kein Zahlungsausfall ausgemacht werden kann. Und deshalb muss dies auf freiwilliger Ebene passieren.

Ingo Kahle: Herr Premierminister ich wollte gerne herausfinden jetzt, in wieweit es hier auch um sehr, sehr grundsätzliche Dinge geht.

Zum Beispiel also, wenn die Banken nicht mehr, in dem Masse wie sie es bisher getan haben – die privaten Anleger, also auch die Versicherungen, und so weiter – in die Schuldenstaaten investieren, dann können sich viele, viele Staaten eigentlich nicht mehr finanzieren. Geht es also hier eben auch darum, dass die Schuldenpolitik ganz vieler Staaten nicht mehr finanzierbar ist?

Das muss ja einen Grund haben, warum auch Barack Obama in dieser Woche die Europäer gemahnt hat, dieses Problem zu lösen, weil es sonst desaströs für die USA werden könnte, bei deren Schuldenstand?

Jean-Claude Juncker: Ja, der Schuldenstand der USA ist desaströs. Und insofern verstehe ich Präsident Obama schon sehr gut, dass er die amerikanische Problemlage nicht desaströser werden lassen möchte, dadurch, dass es feindliche Fremdeinwirkung von allen Kontinenten gäbe.

Das eigentliche Problem ist ja, dass niemand so recht erklären kann, wieso die Eurozone im Epizentrum einer weltweiten Finanzherausforderung steht, in einem Moment wo die Fundamentaldaten der Eurozone um ein Wesentliches besser sind als die Fundamentaldaten der nordamerikanischen Volkswirtschaft, oder der japanischen Volkswirtschaft. Sowohl Defizite als auch Schuldenstände sind ja wesentlich höher in den USA als in Europa.

Dass er dann trotzdem darauf hinweist, dass wir unsere Hausaufgaben zu erledigen hätten, ist insofern hilfreich, als das ihn auch daran erinnert, dass er seine Hausaufgaben auch tun muss.

Und wenn wir die griechischen Freunde auffordern, dass die beiden großen Parteien, Sozialisten und Konservative, sich im Grundsatz auf die zu erreichenden Haushalts- und Defizitziele verständigen müssen, gilt der gleiche Aufruf gleichwertig auch für die USA, wo Demokraten und Republikaner ohne Rücksicht auf den inneramerikanischen Zustand, und auf den Zustand der Finanzmärkte weltweit, sich nicht imstande zeigen ihre Standpunkte bei der Schuldenbekämpfung Amerikas einander anzunähern.

Aber unsere Politik ist ja, obwohl manchmal, wie ich ja zugeben muss, undurchsichtig – weil mit vielen Wortmeldungen verbunden, die nicht immer sachdienlich sind – relativ einfach zu verstehen.

Wir drängen darauf – ich bleibe beim Fall Griechenland, ich könnte auch Irland und Portugal erwähnen – dass diese Staaten ihre Haushaltskonsolidierung in einer effizienten Art und Weise in die Hände nehmen. Das tun die auch, das tun auch die Griechen, weil die jetzt nachliefern, was im ersten Halbjahr dieses Jahres nicht von ihnen geleistet wurde.

Manchmal klingt die deutsche Debatte so, also ob es so wäre dass wir sagen: „Okay, ihr habt ein Problem, hier habt ihr unser Geld, und macht damit was ihr wollt.“ So ist das ja nicht. Wir haben ja hochpeinliche Gespräche, schwierigste Gespräche mit der griechischen Regierung über die Art und Weise, wie das eigentliche griechische Konsolidierungsprogramm gestaltet werden muss. Wir zwingen die Griechen nicht nur zur Haushaltseinsparung, sondern auch zur Privatisierung.

Zum ersten Mal passiert in der sogenannten freien Welt, dass andere ein Land auffordern einen Teil seines Staatsbesitzes zu privatisieren. Wenn bislang privatisiert wurde, dann war das immer eine eigene Entscheidung des jeweils betroffenen Landes. Hier sagt die Eurogruppe dem griechischen Premierminister, dem griechischen Finanzminister: "Ihr müsst 50 Milliarden eures Staatsbesitzes privatisieren. Ihr müsst das unter Form des Treuhandmodells, wie in Deutschland in den 1990er Jahren vorexerziert, machen. Ihr braucht die Expertise ausländischer Berater. Die Eurogruppe und die Europäische Kommission werden Mitglieder des Verwaltungsrates dieser Privatisierungsagentur werden."

Das heißt, wir wohnen hier einem Quantensprung der Gestalt bei, dass wir uns intensiv einmischen in innergriechische Finanzverhältnisse.

Und deshalb plädiere ich auch nach wie vor dafür, dass man in der Art und Weise, wie man sich in Richtung Griechenland ausdrückt, wie man die Griechen behandelt, dies eingedenk der Tatsache tut, dass dies doch ein Volk ist mit seiner eigenen Würde, mit seiner eigenen Geschichte, und dass man respektvoll über die Griechen reden sollte. Weil, ich weiß aus vielerlei Gesprächen mit Griechen jedweder Provenienz, dass die griechischen Bürger, vor allem – ich sage das einmal so – die kleinen Leute, weil die gibt es überall, und es gibt sie in besonderem Masse in Griechenland, wirklich in ihren Lebensverhältnissen durch die angestrebte Konsolidierungspolitik sehr eingeengt werden.

Und wenn die dann jeden Tag im Rundfunk, im Fernsehen hören, in den Zeitungen lesen, dass dies alles ja zu nichts führt, weil wir anderen, wir scheinbar tugendhaften Nordeuropäer die Griechen als Faulpelze behandeln, als nicht seriös Handelnde, dann bricht das den Konsolidierungswillen der Griechen. Und das sollte man tunlichst vermeiden.

Wir werden hier, nur reüssieren, wenn beides zusammengebracht wird. Solidität, die von den Griechen zu erbringen ist, Solidarität, die von uns zu leisten ist. Und je grösser die Solidität, umso kleiner die Risiken, dass unsere Solidarität sich in effektive Geldüberweisungen nach Griechenland transformiert.

Ingo Kahle: Also mit anderen Worten, man sollte aufhören den Griechen zu sagen, wann sie in Rente gehen sollen. Ich nehme an, die Ohren der Bundeskanzlerin sollten jetzt geklungen haben.

Jean-Claude Juncker: Nein, ich glaube die Bundeskanzlerin sieht das auch so, weil sie ja sehr genau weiß, dass es eine europäische Gesamtbeschlusslage gibt, die besagt, dass das Renteneintrittsalter in allen Eurolandstaaten in ein Direktverhältnis zur demographischen Entwicklung, zur Lebenserwartung also, gebracht werden muss. Und weil die Lebenserwartung von Land zu Land divergiert, kann es kein einheitliches Renteneintrittsalter geben.

Aber dass wir unsere Rentensysteme, unsere Alterssicherungssysteme in Einklang bringen müssen mit den demographischen Fakten, dies ist in der Eurozone unbestritten.

Ingo Kahle: Es ist wohl so, dass man in Griechenland die Deutschen eigentlich für die Misere verantwortlich macht, und nicht unbedingt sich selbst.

Auf der anderen Seite hat Ihr Notenbankpräsident die Deutschen in gewisser Weise exkulpiert, als Yves Mersch nämlich gesagt hat, Stabilitätspolitik sei kein deutsches Exportprodukt, das den Anderen aufgezwungen werde; Stabilitätspolitik sei vielmehr die Voraussetzung für eine funktionierende Währungsunion. Und da hat er doch Recht?

Jean-Claude Juncker: Also, ich möchte meinem eigenen Notenbankpräsidenten nicht zu nahe treten, aber ich gebe ihm vorbehaltlos Recht.

Stabilität war bei Gründung der Eurozone, und bei Einführung des Euros versprochen worden. Dies gehört zum Gründungspakt der Europäischen Währungsunion. Und Stabilitätsanstrengungen darf man, muss man, soll man von jedermann einfordern.

Dies ist nicht nur die deutsche Sicht der Dinge. Diese Vorstellung die in Deutschland grassiert, also ob die Deutschen die einzigen Tugendhaften am Tisch wären, als ob die Deutschen die Einzigen wären, die von den Griechen anspruchsvolle Anstrengungen verlangen würden [wird unterbrochen]

Ingo Kahle: Ist es nicht eher umgekehrt, also dass sie die Deutschen verantwortlich machen?

Jean-Claude Juncker: Nein, das ist eine andere Frage. Was ich jetzt sagen möchte ist, dass wir Luxemburger, die Niederländer, die Österreicher, die Finnen genauso harsch und barsch mit den Griechen umgehen, wie die Deutschen das tun.

Also, diese Vorstellung, dass die Deutschen die einzig Tugendhaften am Tisch wären, die fängt an mich langsam zu ärgern. Das [wird unterbrochen]

Ingo Kahle: Haben Sie den Eindruck?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich deutsche Zeitungen lese, wenn ich mir Tagesthemen und Heute Journal ansehe, dann ist es so, also ob Deutschland gegen den Rest der Welt tugendhaftes Verhalten durchsetzen müsste. Dabei sind die Deutschen und die Franzosen die ersten gewesen, die den europäischen Stabilitätspakt nicht respektiert haben.

Ingo Kahle: Das war 2003. Haben Sie da eigentlich zugestimmt?

Jean-Claude Juncker: Ich habe da zugestimmt aus guten makro-ökonomischen Gründen.

Aber wenn man sich jetzt tugendhaft aufführt und so tut, als ob nur die schwachen Südeuropäer hier durch mangelhaftes Verhalten auffielen, dann muss man doch daran erinnern, dass es andere gab, die dies auch getan haben.

Und es ist wahr, dass man in Griechenland denkt, weil die Deutschen auch besonders laut reden in dem Bezug, dass Deutschland hier besonders hartklingende Forderungen an die griechische Adresse versenden würde.

Aber es ist nicht wahr, dass das griechische Volk in seiner Breite denken würde, es gäbe kein griechisches Fehlverhalten.

Wer intensiv liest, und ich lese zurzeit mehr griechische Zeitungen als deutsche – das ist auch manchmal erholsam, wenn man das tut – dann wird man feststellen, dass die griechische Politik unter einem Kritikfeuer der griechischen Öffentlichkeit steht, unter dem die deutsche Politik, oder die luxemburgische, oder eine sonstige noch nie stand. Die Griechen sind hoch unzufrieden mit ihrer politischen Klasse, die sie zu Recht verantwortlich machen für das Desaster, in das die Griechen hineingeraten sind.

Also, man ärgert sich über die Deutschen, weil die deutschen Forderungen lautstark vorgetragen werden, obwohl sie nicht nur von Deutschen vorgetragen werden. Aber man sollte in Deutschland nicht so tun, als ob die Griechen nicht wüssten, dass eigenes Fehlverhalten eigentlich der Quell aller Probleme ist.

Ingo Kahle: Stichwort Stabilitätspolitik, Herr Premierminister.

Helmut Kohl hat schon 1971 die Vorstellung als abwegig bezeichnet, dass man eine Wirtschafts- und Währungsunion, ich zitiere ihn, „ohne politische Union auf Dauer erhalten könne.“

Jetzt gibt es eine Reihe von Vorschlägen auf diesem Wege. Ehemalige Kommissionsvorsitzende wollen ganz scharfe Kompetenzen für die EU-Kommission haben. Trichet, der Chef der EZB, schlägt ein Euro-Finanzministerium vor.

Was ist das? Sind das Illusionen, möglicherweise sogar von Europaenthusiasten, weil der Trend doch eigentlich in eine ganz andere Richtung geht, die man ja kritisieren kann, nämlich Renationalisierung der Politik?

Jean-Claude Juncker: Tatsache ist, dass die Gestaltung, die kollektive und solidarische Gestaltung der einheitlichen Währungszone einfacher wäre, wenn wir in Sachen politische Union weiter gegangen wären, als wir dies im Maastrichter Vertrag und in den Nachfolgeverträgen getan hätten. Dafür gab es aber keine politische Mehrheit in der Europäischen Union.

Und selbst wenn es eine Mehrheit gegeben hätte, hätte es immer individuelle Widersprüche gegeben, sodass dies sich als nicht gangbarer Weg herausstellte.

Wir haben trotzdem [wird unterbrochen]

Ingo Kahle: Das wird es auch in Zukunft nicht geben, oder? Also, [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Ja, ich bin mir da auch ziemlich sicher, dass das in Zukunft relativ unmöglich sein wird. Aber man wird daran weiter arbeiten müssen, weil ich einfach der Auffassung bin, dass die Währungsunion in ihrer Essenz, in ihrer Substanz sich perspektivisch stabiler wird darstellen können, wenn es einen größeren politischen Gesamtzusammenhalt in der Europäischen Union gäbe.

Man muss einfach zur Kenntnis nehmen, ich tue das mit einiger Trübsal, dass diejenigen, die sich heute der europäischen Integration überkritisch nähern, und dies dann auch von den notwendigen Zwischenzungenschlägen begleitet auch rhetorisch stark zum Ausdruck bringen, indem sie in populistische Gefilde abdriften, des Applauses sicherer sein können, als diejenigen, die sich für europäische Beständigkeit und für das Bohren dicker europäischer Bretter weiterhin einsetzen.

Mein Punkt ist, dass ich sage, wenn meine Generation, also die Generation der in den 1950er und 1960er Jahren geborenen, die wir die Erben sind einer großen Lebensleistung der Nachkriegsgeneration, uns jetzt nicht darauf zu verständigen wissen, diese europäischen Dinge im Lauf zu halten, dieses europäische Wasser im Kanal zu behalten; wenn wir uns nicht darauf verständigen, dass wir nach den Regeln der Gemeinschaftsmethoden und des Integrationsmechanismus arbeiten, und nicht in intergouvernementales Verhalten ausbrechen, dann wird die Europäische Union an Kraft verlieren.

Und diejenigen, die in 20, 30 Jahren unsere Gesellschaften animieren und unsere Länder regieren, werden, weil sie keinen direkten Bezug mehr zur Nachkriegs-Gründungsgeschichte der Europäischen Union haben; weil sie keine Väter und keine Großväter mehr haben werden, die ihnen erzählen können, was Nicht-Europa bedeutet, dann wird diese Nachfolgegeneration – die ich nicht im vorauseilenden Verfahren beschimpfen möchte – die Kraft, aus eigener Erinnerung, oder aus tradierter Erinnerung, nicht mehr aufbringen, um die Dinge noch einmal in die richtige Richtung zu lenken.

Insofern leben wir in einer vitalen Phase europäischer Zukunftsgestaltung. Es ist diese Generation, die Nachfolgegeneration der Gründungsväter der Europäischen Union, die es in der Hand hat, und es im Gewissen haben müsste, die europäischen Dinge kontinental endgültig auch dingfest zu machen.

Ingo Kahle: Herr Premierminister Juncker, ich danke Ihnen sehr herzlich für dieses Gespräch.

Jean-Claude Juncker: Ich bedanke mich.

Ingo Kahle: Das war "Zwölfzweiundzwanzig". Zu Gast bei Ingo Kahle heute der luxemburgische Premierminister und Chef der Eurogruppe Jean-Claude Juncker.

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