"Sozialer Sprengsatz". Jean-Claude Juncker au sujet du Conseil européen à Bruxelles

Luxemburger Wort: Herr Staatsminister, gäbe es nicht die Griechenland-Krise, dann würde die koordinierte Wirtschaftsaufsicht in der EU den Brüsseler Gipfel dominieren. Gegen diese Wirtschaftskoordinierung haben am Dienstag Gewerkschafter aus ganz Europa in Luxemburg demonstriert. Liegen sie mit ihren Befürchtungen ganz daneben?

Jean-Claude Juncker: Man muss den Gewerkschaften erklären, dass es zum Haushaltskonsolidierungsprozess keine Alternative gibt. Sie müssen einsehen, dass Europa sich nicht weiter verschulden kann, dass es wettbewerbsfähiger werden und die notwendigen Strukturreformen in die Wege leiten muss. Wie diese Reformen jeweils ausfallen, müssen die Regierungen der Mitgliedsländer jede für sich entscheiden.

Luxemburger Wort: Für Luxemburg hat die EU-Kommission unter anderem angeregt, dass wir unsere Lohngestaltung an die Produktivitätsentwicklung anpassen sollen. Auf welche Indexmodulierungen sollten sich die Gewerkschaften einstellen?

Jean-Claude Juncker: Im Rahmen des Europäischen Semesters hat die EU-Kommission Belgien aufgerufen, den Indexmechanismus regelrecht abzuschaffen. Im Gegensatz dazu fällt die Empfehlung an Luxemburg sanfter aus. Ich würde es begrüßen, wenn dieser feine Unterschied zur Kenntnis genommen würde, denn man kann davon ausgehen, dass er nicht auf eine zufällige Redaktionsschwäche der EU-Kommission zurückzuführen ist. Im Sommer oder Herbst werden wir uns mit den Sozialpartnern zusammensetzen, um zu erörtern, wie wir die Brüsseler Empfehlung in die Tat umsetzen können. Mit der Analyse, dass die Lohnentwicklung in Luxemburg an die Produktivität angepasst werden soll, bin ich grundsätzlich einverstanden und werde dies auch im Europäischen Rat deutlich machen.

Luxemburger Wort: Im Mittelpunkt des EU-Gipfels wird wohl die Griechenland-Krise stehen. Die Griechen selbst sind immer weniger mit den auferlegten Sparmaßnahmen einverstanden, auch in Spanien und anderswo wächst der Widerstand gegen "die da oben". Wird sich dieser Protest wieder legen?

Jean-Claude Juncker: Vor zwei Jahren habe ich davor gewarnt, dass die Finanzkrise in eine Wirtschaftskrise, die Wirtschaftskrise in eine Sozialkrise und die Sozialkrise in eine Systemkrise münden wird. Damals wurde diese Vorhersage als maßlos übertrieben dargestellt. Heute ist es das wachsende Ungerechtigkeitsgefühl in unseren Gesellschaften, das mich keine Stunde loslässt. Die Forderungen der Demonstranten in Madrid, Barcelona oder Athen stellen nicht wirklich eine Alternative zu den unabdingbaren Haushaltskonsolidierungsprozessen dar. Dennoch rate ich allen politischen Entscheidungsträgern, gut zuzuhören, welches neue Lebensgefiihl sich da artikuliert. Dass immer mehr Menschen den Eindruck haben, es geht nicht mehr gerecht in unseren Gesellschaften zu, weil die Banken gerettet werden und die sogenannten kleinen Leute die Zeche zahlen müssen, stellt einen Sprengsatz für unser sozialwirtschaftliches Gesellschaftsmodell dar. In zwei Jahren werden wir sehen, ob das wieder einmal maßlos übertrieben war.

Luxemburger Wort: Bei allen Sorgen um Griechenland ist die Flüchtlingsproblematik, die die EU vor ein paar Wochen noch fast zerrissen hätte, völlig ins Hintertreffen geraten. War demnach alles nur halb so wild?

Jean-Claude Juncker: Wenn sich 80.000 Tunesier oder Libyer auf den Weg nach Europa machen, dann stellt das für einen Kontinent mit 500 Millionen Einwohnern überhaupt kein Problem dar, ich betone, überhaupt keins. Italien kann mit dieser Angelegenheit durchaus fertig werden. Wobei ich nicht sagen will, dass es das allein tun muss. Wir sind bereit, Italien zu helfen.

Luxemburger Wort: Immigrationsminister Nicolas Schmit hat aber behauptet, unsere Fähigkeiten zur Flüchtlingsaufnahme wären ausgelastet.

Jean-Claude Juncker: Wenn Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Weltanschauung oder ihrer Religion verfolgt werden, dann sind sie in Luxemburg willkommen. Und die Luxemburger sind trotz aller Stammtischgespräche bereit, diese Menschen aufzunehmen. Ich möchte nicht, dass Menschen ums Leben kommen, nur weil in Luxemburg scheinbar kein Platz für sie war. Ich sehe darin keinen Widerspruch zu Minister Schmit, ich bemühe mich nur, die eigentliche Frage ins rechte Licht zu rücken.

Luxemburger Wort: Steht Kroatien im rechten Licht, um in die EU aufgenommen zu werden?

Jean-Claude Juncker: Wenn wir keinen Beitrag zur Befriedung dieser Region leisten, werden deren Probleme auf uns zurückfallen. Ich erinnere nur daran, dass Luxemburg im ersten Halbjahr 1999 mehr Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen hat als Frankreich. Deswegen regt mich auch die Schengen-Debatte so maßlos auf. Ich bin durchaus bereit, das Regelwerk zu überprüfen. Ich wehre mich aber dagegen, das Einzige, was Europa sympathisch in den Augen der Menschen macht - die offenen Grenzen - zur Disposition zu stellen, nur um einer populistischen Grundstimmung gefällig zu sein. Was Kroatien angeht, möchte ich betonen, dass auch ich kein Anhänger einer unüberlegten EU-Erweiterung bin. Ich bin aber ein Anhänger der schönen Geschichte, die besagt, dass europäische Geschichte und europäische Geografie sich die Hand so geben sollen, dass der Handdruck niemandem weh tut. (Pause) Das ist ein schöner Satz. Den muss ich mir merken.

Luxemburger Wort: Am 1. Juli wird Polen den EU-Ratsvorsitz übernehmen. Dient das Land als Vorbild für neue Mitgliedsländer?

Jean-Claude Juncker: Bei aller Fehlerhaftigkeit der europäischen Politik bin ich auf zwei Sachen stolz: den Euro, ohne den die Wirtschaftskrise uns zerrissen hätte, und die europäische Wiedervereinigung. Ich bin mir bewusst, dass die Menschen in Westeuropa erweiterungsmüde sind. Sie sollten sich aber fragen, ob ein Erweiterungsverzicht den Kontinent wohnbarer gemacht hätte. Ich denke nicht.

Dernière mise à jour