Interview von Xavier Bettel in der Revue

"Routine gibt es keine"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann, Hubert Morang)

Revue: Haben Sie eigentlich schon mal gezählt, wie viele Pressekonferenzen Sie zusammen mit Gesundheitsministerin Paulette Lenert abgehalten haben?

Xavier Bettel: Nein. Sie etwa? Es waren sicherlich viele, weil es wichtig ist, die Öffentlichkeit jedes Mal über den neuesten Stand der Dinge und die Entscheidungen des Regierungsrats zu informieren. Da ich mich als Teamplayer verstehe und die Thematik Auswirkungen auf viele andere Bereiche hat, erscheint es mir auch wichtig, die Pressekonferenzen zusammen mit Paulette Lenert zu machen.

Revue: Sie funktionieren als eingespieltes Team. Gibt es inzwischen schon so eine Art Krisenroutine?

Xavier Bettel: In einer Krise bekommt man nie eine Routine. Vor allem nicht in dieser, 'weil wir das Virus noch nicht gut genug kennen. Es kommen immer wieder neue Erkenntnisse hinzu. Ich verstehe zwar, wenn viele davon genug haben und eine Art Pandemiemüdigkeit eingetreten ist, aber man darf nicht in eine Routine verfallen, sondern immer wieder neue Anstrengungen unternehmen, um die Menschen an den Ernst der Lage zu erinnern. Routine gibt es jedenfalls keine.

Revue: Hätten Sie im Januar, als die Covid-Nachrichten aus China zu uns herüberschwappten, jemals daran gedacht, dass Luxemburg zwei Monate später einen Lockdown haben würde?

Xavier Bettel: Nein, damals wurde gesagt, das geschieht dort. Mit den Nachrichten kam es dann aber auch zu uns. Als es aber die ersten Fälle in Europa und auch in Luxemburg gab, haben wir auch schnell reagiert. Schließlich handelt es sich nicht um eine geografisch begrenzte Krise, sondern um eine Weltkrise. Aber dass wir noch im Dezember so sehr unter ihr leiden würden, hatten wir im Januar sicherlich nicht erwartet.

Revue: Es hieß immer, dass Luxemburg zum Beispiel in Sachen Schutzkleidung und Masken gut aufgestellt war. Wie schnell reagierte die Regierung und wann war der Zeitpunkt gekommen, in dem es galt, aktiv zu werden?

Xavier Bettel: Schon als die ersten Fälle in China auftraten, hatte ich den "Haut Commissaire' à la protection nationale" mit einer Analyse beauftragt für den Fall, dass das Virus in Luxemburg auftreten würde. Es ging darum, rasch zu reagieren. Wir waren also nicht unvorbereitet. Es gelang uns schnell, das nötige Material zu besorgen. Aber Material ist nicht alles. Es geht vor allem auch ums Personal. Wenn Frau Lenert sagt, dass 600 Beschäftigte im Gesundheitssektor momentan nicht arbeiten können, weil sie sich in Quarantäne befinden, dann fehlen uns diese Leute. Es heißt zwar immer, wenn wir nur 48 von 110 bis 120 Intensivbetten nicht belegt haben, gebe es noch genügend Spielraum. Aber das Personal kriegen wir nicht so leicht ersetzt. Das ist nicht materialbedingt, sondern menschlich.

Revue: Wie ist die im internationalen Vergleich ziemlich einmalige Situation, dass rund zwei Drittel der Pflege von Grenzgängern erledigt wird? Die Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen fühlten sich lange Zeit nicht genügend angehört.

Xavier Bettel: Das Ziel müsste sein, mehr als 50 Prozent des Personals des Gesundheitsbereichs aus dem eigenen Land zu haben. Sie wissen, dass wir bereits mit der Anil, der Vereinigung der Krankenpfleger und Krankenpflegerinnen, zusammengekommen sind. Im Januar wird es eine Versammlung mit Frau Lenert sowie mit den Ministern Cahen, Meisch, Gramegna und Schneider geben, um unter anderem darüber zu sprechen, wie wir die Pflegeberufe attraktiver gestalten und neue Pisten in der Berufsbildung eröffnen können. Dabei geht es auch um die Alten- und Pflegeheime.

Revue: Kommt es dann zu einer teilweisen Reform des Gesundheitswesens?

Xavier Bettel: Der Gesundheitstisch ist eines. Ich spreche hier davon, was wir bei den Krankenpflegern und auch bei den Ärzten verbessern können. Die meisten studieren Medizin im Ausland. Für sie muss man Anreize schaffen, nach Luxemburg zurückzukommen. Zusammen mit der Anil und der Ärztevereinigung AMMD haben wir also ein gemeinsames Ziel. Die Frage ist, wie wir es fertigbringen können, ein Gesundheitssystem zu haben, das weder materiell Probleme hat noch personalmäßig defizitär ist und auf ein Reservoir aus dem Ausland zurückgreifen muss.

Revue: Die Anti-Corona-Maßnahmen während des Lockdowns waren hierzulande weniger streng als in vielen anderen Ländern Europas. Auch jetzt kann man eher von einem Teil-Lockdown sprechen. Müsste es in Luxemburg angesichts der Infektionszahlen und Todesfälle nicht auch einen harten Lockdown geben?

Xavier Bettel: Ich kann nichts ausschließen. Momentan (16. Dezember, Anm. d. Red.) gehen die Zahlen wieder zurück. Aber es stellt sich die Frage, wie schnell die Zahlen zurückgehen. Sie müssten schneller sinken. In den nächsten Tagen muss eine erneute Bilanz gezogen werden. Wir müssen also ständig antizipieren und reagieren. Es gibt so viele Faktoren, die mitentscheidend sind, ob zum Beispiel mehr jüngere Menschen angesteckt werden als ältere, aber auch, wie viel Personal zur Verfügung steht und wie viele Intensivbetten belegt sind. Letzterer F4ktor ist momentan zu hoch. Wir können uns nicht erlauben, mittelfristig auf diesem Niveau zu bleiben. Ich bekomme gesagt, dass es besser gewesen wäre, den Lockdown schon vor zwei Monaten gemacht zu haben. Aber es geht doch nicht zuletzt um die Freiheit der Bürger. Das darf man nicht vergessen. Wir haben schon eine Sperrstunde, eine Begrenzung der Zahl der Leute, die sich treffen dürfen, wir haben die Cafés geschlossen, die Restaurants, die Sportzentren, den ganzen Kultursektor. Wir haben Maskenpflicht in den Geschäften, im öffentlichen Transport, usw. Wir haben so viele Obligationen. Ich kann nicht in ein Altersheim gehen, wie ich vorher gegangen bin, oder in ein Krankenhaus. In den Schulen gibt es Maßnahmen. Die Betriebskantinen sind zu. Und dann heißt es, einfach zu akzeptieren, dass die Einschränkungen eine normale Sache sind? Die muss man machen, wenn sie wirklich gemacht werden müssen. Ob sie zu lasch oder zu streng sind, man muss sie machen, wenn man die Lage genau kennt. Jetzt sind wir in einer Situation, in der wir nicht alles schließen müssen.

Revue: Welchen Einfluss haben die Maßnahmen in den anderen Ländern?

Xavier Bettel: Die Situation ist dort oft eine ganz andere. In Ländern wie Deutschland und den Niederlanden gehen die Zahlen nach oben. Bei uns sinken sie. Wir kännen nicht die Geschäfte schließen, wenn die Zahlen zurückgehen. Die Frage ist, wie schnell sie zurückgehen. Ich kann nicht sagen, was nächste Woche ist. Wir machen jedenfalls ein Monitoring 24 auf 24 Stunden. Wir können morgen 20 Leute mehr auf den Intensivstationen haben. Es ist ein Balanceakt zwischen den Freiheiten und der Sicherheit der Burger. Ich spreche dabei nicht einmal von der wirtschaftlichen Situation, sondern von den Menschen. Es gibt welche, die kommen mit der Situation klar, aber auch welche, die Depressionen bekommen, die Suizid begehen. Der Lockdown hat für viele Menschen psychische Folgen. Und das ist jetzt im Winter noch viel schwerer zu verkraften als im Sommer.

Revue: Können Sie nachvollziehen, dass einige Menschen sich vor allem an den Ungereimtheiten stören, ob zum Beispiel zwei plus drei oder drei plus zwei Personen zusammenkommen dürfen?

Xavier Bettel: Das Beispiel zeigt doch gerade, dass es wirklich schwer nachzuvollziehen ist. Es gibt nicht nur Familien mit zwei plus zwei oder zwei plus drei Angehörigen. Es gibt auch Familien von sieben Personen. Ich kann nicht einfach bestimmen, ob eine Familie aus vier Personen bestehen muss. Jede Interaktion von Personen, die zusammenkommen, ist eine Gefahr mehr. Es gibt auch Länder, wie Belgien, wo die Zahl auf null heruntergefahren wurde. Es geht darum, die Kontakte zu reduzieren, und nicht darum, dass man jeden Abend jemanden einladen soll.

Revue: In anderen Ländern werden Kinder bis zu einem gewissen Alter allerdings nicht mitgezählt...

Xavier Bettel: Das ist in meinen Augen ein Fehler, denn hierzulande hatten wir auch Kinder und junge Menschen, die im Krankenhaus waren. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht man klar, dass Menschen unter 20 Jahren schon einen gewissen Prozentsatz bei den Hospitalisierungen ausmachen. Die Leute müssen weg von dem Gedanken kommen, dass nur Menschen über 75 Jahre in der Klinik landen. Allerdings wissen wir auch, dass bei jungen Menschen weniger oft große Komplikationen bei einer Erkrankung auftreten. Es geht vor allem darum, die Übertragung zu unterbinden.

Revue: Deshalb die strengen Regeln auch an Weihnachten?

Xavier Bettel: In meinen sieben Jahren als Premierminister war die Entscheidung, den Menschen zu sagen, dass sie Weihnachten nicht in der Familie feiern können, mit die schwerste, die ich treffen musste. Ich würde auch liebend gerne, wie viele Luxemburger, mit meiner Mutter und meiner Schwester Weihnachten zusammen verbringen. Aber ich bleibe bei meiner Aussage von der Pressekonferenz. Sind die paar Stunden Freude tatsächlich das viele Leid am Ende wert? Der Preis ist einfach zu hoch. In Großbritannien sind Familientreffen zu Weihnachten zwar erlaubt, allerdings raten die Mediziner dringend davon ab.

Revue: Auch hierzulande geschieht die Übertragung oft im familiären Umfeld?

Xavier Bettel: Das Virus verbreitet sich vor allem dort, wo Menschen keine Maske tragen. Genau deshalb sind hierzulande auch die Bars und Restaurants, genau wie die Fitnesszentren geschlossen. Und aus diesem Grund spielt auch das Arbeiten aus dem Homeoffice eine wichtige Rolle, denn im Büro ist man auch dazu verleitet, die Maske auszuziehen, wenn die Distanzen nicht eingehalten werden und nicht gelüftet wird, ist eine Ansteckung schnell passiert. Generell gilt es eben alle Situationen zu vermeiden, wo man keine Maske trägt.

Revue: Gab es Situationen während der Krise, die Sie jetzt anders handhaben würden?

Xavier Bettel: Zu dem Moment, in dem ich eine Entscheidung getroffen habe und mit dem Wissensstand, der zu dem Zeitpunkt meiner war, habe ich immer das gemacht, was mir opportun schien. Natürlich weiß man im Nachhinein immer mehr. Ob der harte Lockdown im März die richtige Entscheidung war oder nicht, darüber kann man diskutieren. Aber es gibt auch immer die Menschen, die jetzt schon glauben zu wissen, was in sechs Monaten ist. Ich weiß es nicht.

Revue: Gibt es Dinge im Zuge der Pandemie, die Sie besonders ärgern?

Xavier Bettel: Wenn ich lese, dass hundert Menschen zusammen eine Party feiern, dann macht mich dies wütend. Ich finde das unverantwortlich und fast schon kriminell. Vor allem auch, wenn ich sehe, welche Arbeit das Personal aktuell auf den Intensivstationen leisten muss. Wegen des Fehlverhaltens von einigen wird eigentlich eine ganze Bevölkerung gestraft und ganze Wirtschaftszweige müssen geschlossen bleiben. Ich ärgere mich auch über diejenigen, die behaupten, Covid-19 sei lediglich eine normale Grippe: Wenn einer ihrer Familienmitglieder an dem Virus stirbt, merken sie schnell, dass es kein einfacher Schnupfen war.

Revue: Gab es auf europäischer Ebene eigentlich ausreichend Zusammenarbeit?

Xavier Bettel: Das Hauptproblem ist, dass das Gesundheitswesen nicht in den europäischen Kompetenzen liegt. Der beste Beweis, dass Europa gut zusammenarbeiten kann, sind in meinen Augen allerdings die Impfungen. Wenn Luxemburg alleine hätte versuchen müssen, an Impfstoffe zu kommen, dann wären wir nicht unter den Ländern gewesen, die als erste bedient worden wären. Weil dann wäre es über den Preis gegangen und über die Menge, die man bestellt, Luxemburg wäre da nicht unter den ersten gewesen. Die europäische Zusammenarbeit garantiert uns hier, dass wir Impfstoffe erhalten. Es soll ja jetzt auch am selben Tag in Europa mit den Impfungen angefangen werden, dies zeigt, dass Europa funktioniert. Ich hoffe, dass wir noch in diesem Jahr mit den Impfungen beginnen können.

Revue: Die Grenzschließungen zeugten vom Gegenteil...

Xavier Bettel: Die Grenzschließungen waren nationale Reflexe, aber eine Grenze hat noch nie ein Virus gestoppt. Der Schengenraum ist eine große Errungenschaft und diese soll man nicht einfach so aufgeben und über Bord schmeißen.

Revue: Trotz aller negativen Erfahrungen gibt es Menschen, die versuchen, etwas Positives aus der Krise zu ziehen. Wie ist es bei Ihnen?

Xavier Bettel: Ich will nicht unbedingt in dem Schema positiv oder negativ denken, ich möchte vor allem die große Solidarität der Einwohner hervorstreichen, das hat mich irgendwie beeindruckt. Die Tatsache, dass Menschen sich so gegenseitig unterstützen oder etwa die Pfadfinder, die Einkäufe für andere Menschen erledigt haben, das hat mich positiv überrascht. Was mich noch markiert hat in dieser Pandemie, ist der fehlende menschliche Kontakt, wie etwa seine Mutter umarmen zu können. Das geht aber nicht nur miv so.

Revue: Und das Tragen der Maske?

Xavier Bettel: Daran haben wir uns gewöhnt. Ich sage das jetzt so eiskalt, aber wenn ich mir die Menschen in den Straßen so ansehe, dann gibt es viele, die ihre Maske tragen, ohne dass es Pflicht ist. Die Leute haben also den Reflex integriert. Dies ist vor allem ein Zeichen von Respekt und Verantwortung gegenüber den Mitmenschen.

Revue: Werden in Ihren Augen am Ende Sachen aus der Pandemie gelernt?

Xavier Bettel: Am liebsten hätte ich, es wäre die letzte Pandemie, die wir durchleben. Ich hoffe, dass wir nicht alle paar Jahre das durchleben müssen, was wir aktuell durchmachen.

Revue: Stört es Sie als Chef der Dreierkoalition, dass Sie in diesem Pandemie Jahr nur wenige politische Akzente setzen konnten?

Xavier Bettel: Das stimmt in meinen Augen so nicht. Trotz der Krise haben wir zum Beispiel den Klimaplan angenommen. Das neue Gesetz zur Pressehilfe wird jetzt fertig. Wir sind dabei, die "Cour Grand-Ducale" zu modernisieren. Trotz Pandemie, die viel Zeit in Anspruch nahm, wurde also in den Verwaltungen an anderen Dossiers gearbeitet...

Revue: Die Steuer- und die Verfassungsreform steht allerdings noch aus.

Xavier Bettel: Die Steuerreform ist aus finanziellen Gründen momentan wenig opportun. Wir dürfen nämlich den Bogen finanziell nicht überspannen. Priorität war und ist, der Wirtschaft und den Bürgern zu helfen. Wir haben pro Kopf fast 4.900 Euro an Hilfen investiert. Belgien oder Frankreich liegen unter oder etwas über 1.000 Euro pro Kopf. Diese finanziellen Hilfen waren überaus wichtig.

Revue: Dafür mussten allerdings Schulden gemacht werden...

Xavier Bettel: Gott sei Dank haben wir Schulden auf uns genommen. Wenn wir in der aktuellen Lage nicht investieren, dann hinterlassen wir den nächsten Generationen einen wirtschaftlichen Friedhof. Außerdem kostet es viel mehr Geld, eine Wirtschaft wieder von Null aufzubauen, als das Geld, dass wir jetzt in Betriebe investieren. Sparfetischismus wäre aktuell ein großer Fehler. Die Lage in Luxemburg ist trotz dieser Investitionen noch immer viel besser als in manch anderen Ländern.

Revue: Das Thema Brexit steht noch immer im Raum. Ist man nicht irgendwann des Themas leid?

Xavier Bettel: Ganz ehrlich gesagt, ich persönlich schon länger. Der Brexit ist für beide Seiten schlecht. Um den Schaden zu minimieren, ist es allerdings im Interesse von allen, dass ein Deal zustande kommt, auch wenn das sich hinzieht. Ich hoffe, 2021 brauchen wir nicht mehr darüber zu reden.

Revue: Was wünschen Sie sich für die nächsten Monate?

Xavier Bettel: Dass Menschen sich impfen lassen und dass wir irgendwann keine Maske mehr tragen müssen. Impfungen zu haben ist die eine Sache, allerdings müssen die Menschen sich auch bewusst werden, dass wenn wir in Richtung Normalität wollen, 70 Prozent geimpft werden müssen. Falls nur wenige sich impfen lassen, werden wir uns wohl oder übel auch im Jahr 2021 weiter mit dem Tragen der Maske abfinden. l "Das Ziel müsste sein, mehr als 50 Prozent des Personals des Gesundheitsbereichs aus dem eigenen Land zu haben. rt Es ist ein Balanceakt zwischen den Freiheiten und der Sicherheit der Bürger.

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