Interview mit Xavier Bettel in der Revue

"Ich mache meine Arbeit”

Interview: Revue (Stefan Kunzmann)

Revue: Wie die Jahre zuvor ist auch 2022 mal wieder ein Krisenjahr. Was bleibt Ihnen wohl davon am meisten in Erinnerung?

Xavier Bettel: Zwei Dinge haben mich vor allem geprägt: die Covid-Pandemie, die uns vor ein paar Monaten noch in unseren Freiheiten einschränkte, wo sich die Lage aber wieder beruhigt hat, und selbstverständlich der Krieg in der Ukraine, der dramatische Konsequenzen für das ukrainische Volk, aber auch Folgen für die internationalen Beziehungen hat. Hinzu kommt noch die Inflationsbekämpfung.

Revue: Der Krieg in der Ukraine scheint auch im kommenden Jahr weiterzugehen. Was kann der Westen tun, um ihn zu beenden?

Xavier Bettel: Was mit der Ukraine geschieht, kann morgen auch mit einem anderen Land passieren. Wir müssen uns daher alle Mühe geben, um die Einigkeit in Europa zu wahren und Geschlossenheit innerhalb der Europäischen Union zu zeigen. Sie wissen, dass ich zu denen gehörte, die sich für Dialog ausgesprochen hatten.

Im Moment gibt es jedoch wenig Plattformen, auf denen ein Austausch stattfinden kann. Die Ukrainer, die Europäische Union und die Amerikaner müssen eine gemeinsame Linie haben. Die Regierung von Joe Biden arbeitet daran, die Türkei bietet sich als Vermittler an, aber Europa fehlt meines Erachtens in diesem Prozess. Wir hatten das sogenannte Normandie-Format, aber das ist in der Situation, in der wir uns zurzeit befinden, nicht mehr möglich.

Jeder Versuch, zuerst eine Feuerpause zu erreichen und schließlich ein Ende des Krieges, lohnt sich. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir hier in Luxemburg und in Europa mit den Folgen des Krieges zu tun haben, andere ihn allerdings täglich erleben.

Revue: Gibt es Aussicht auf Verhandlungen? Und wann ist es Zeit für solche?

Xavier Bettel: Es ist momentan schwierig. Ich hatte ja selbst Kontakt zu Wladimir Putin. Das haben manche kritisiert.

Aber ich bereue es nicht. Der ukrainische Präsident hatte mich darum gebeten. Man sollte jede Gelegenheit nutzen, Einfluss auszuüben, um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern. Verschiedene Staats- und Regierungschefs halten den Kontakt zum russischen Präsidenten noch aufrecht. Ich pflege auf unterschiedliche Art und Weise den Kontakt zu den ukrainischen Autoritäten, mit Premierminister Denys Shmyhal sogar ganz oft. Es muss auf beiden Seiten eine Dialogbereitschaft vorhanden sein. Die auf russischer Seite schätzte ich anfangs höher ein.

Allerdings stellte ich fest, dass es in Wirklichkeit anders aussah. Niemand hat ein Interesse daran, dass der Krieg noch lange andauert, weder Europa noch die Ukraine noch Russland. Es wurde bereits so viel zerstört. Dabei teilen wir uns unseren europäischen Kontinent, zu dem auch Russland gehört. Sie sind unsere Nachbarn. Die historischen und kulturellen Verbindungen sind, wie die wirtschaftlichen und diplomatischen, an einem Nullpunkt angelangt. Das ist sehr schade. Aber wir müssen nach vorne schauen und auf einen Partner hoffen, auf den man zählen kann. Das hat allerdings nur einen Sinn, wenn Russland signalisiert, dass es in diese Richtung gehen will und für Verhandlungen bereitsteht. Danach sieht es jedoch zurzeit nicht aus. Ich verspüre eher eine große Frustration. Deshalb habe ich den Kontakt zu Putin abgebrochen. Wenn mich Wolodymyr Selenskyj morgen fragt und Herr Putin bereit ist... Aber ich werde nicht aus Eigeninitiative handeln.

Revue: Was ist die erste konkrete Voraussetzung für Gespräche?

Xavier Bettel: Zuerst einmal eine Feuerpause von russischer Seite. Jeden Tag werden Städte, Schulen und zivile Einrichtungen bombardiert. Das muss aufhören. Menschen sterben, drohen zu erfrieren, leben im Dunkeln.

Revue: Als Sie mit Putin sprachen, welchen Eindruck hatten Sie? Wann spürten Sie, dass es nichts mehr bringt?

Xavier Bettel: Ich hatte ja zuerst mit Herrn Selenskyj telefoniert. Dann mit Herrn Putin, wiederum mit Selenskyj und schließlich nochmal mit Putin. Mit dem, was in Butscha passiert ist, war für mich klar, dass der Punkt erreicht war, an dem ich die Gespräche mit dem russischen Präsidenten nicht mehr weiterführen wollte.

Es hat sich hierbei nicht mehr "nur" um Krieg gehandelt, es waren wahrhaftige Hinrichtungen.

Revue: Eine Konsequenz aus dem Krieg in der Ukraine ist die Energiekrise, die wir jetzt in Europa haben. Es wurden zwar verschiedene Maßnahmen getroffen, trotzdem machen sich viele Menschen Sorgen.

Wir sollten nicht vergessen, dass wir zurzeit noch teilweise mit russischem Gas heizen. Wir sind aber dabei, mit Partnern zu verhandeln, um andere Wege zu finden, die Gasversorgung zu sichern. Das hat schon Früchte getragen. Wir haben im Regierungsrat Maßnahmen getroffen, um Energie innerhalb von staatlichen Gebäuden zu sparen. Die Regierung kann nicht bloß die Bürger auffordern zu sparen, wir möchten selbst mit gutem Beispiel vorangehen.

Die Bürger bekommen momentan nichts aufgezwungen, sondern machen aus freien Stücken mit, Garantien kann ich leider keine geben. Aber wir haben Alternativen gefunden. Die erste Frage, die sich stellt, ist die, wie man unabhängig wird. Wir haben festgestellt, dass wir in Europa von Russland vor allem im Bereich Gas abhängig waren, dass wir von chinesischen Schutzmasken in der Pandemie abhängig waren und ebenfalls viele Mikrochips und Smartphones aus Asien importieren. Europa muss sich darüber Gedanken machen.

Revue: Deutschland ist zum Beispiel im Zuge der Energiekrise nach Katar gegangen, um von dort beliefert zu werden.

Ich verstehe, dass die deutsche Regierung nach Katar geht oder Herr Macron nach Algerien. Jeder hat seine nationalen Sorgen und geht auf Shoppingtour in Sachen Energie. Wir machen das ja auch, indem wir unsere Energie über die Niederlande bekommen.

Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass Kommissionspräsidentin von der Leyen oder Ratspräsident Charles Michel das im Namen der gesamten Europäischen Union unternehmen. Europa muss in dieser Hinsicht aktiver werden. Wir überlegen uns schon seit Monaten, dass "common purchases" getätigt werden, dass wir also gemeinsam einkaufen. Dann würden wir auch vorteilhaftere Preise erzielen. Von den USA kriegen wir jetzt LNG (Flüssigerdgas) geliefert. Wir haben hier eine Übergewinnsteuer für Betriebe. Aber wie sieht es bei den Amerikanern aus? Warum geht das LNG für 15 Dollar raus und für 40 Dollar rein?

Es ist zu einfach und auch etwas populistisch, im Parlament eine Preisdeckelung zu fordern. Wir sollten uns bewusst sein, dass ein Price-Cap wichtig ist, aber mit der Garantie, dass wir auch beliefert werden. Wir sollten also als Europa gemeinsam unsere "Shopping Tour" machen, anstatt alleine pilgern zu gehen.

Revue: Mit der Energiekrise ist nicht zuletzt auch die Abhängigkeit von fossilen Energiequellen in den Vordergrund getreten...

Xavier Bettel:...total! Wir haben eine Abhängigkeit nicht nur gegenüber den Zulieferern, sondern auch von fossilen Energien. Deshalb war es mir in meiner Rede zur Lage der Nation wichtig anzukündigen, wie wir die Energieproduktion in Luxemburg mithilfe von Fotovoltaik steigern können. Zurzeit wird im Energieministerium analysiert, wie das in die Praxis umgesetzt werden kann. Heute ist die Fotovoltaik noch die Ausnahme, in Zukunft soll sie aber die Regel sein. Wir leben schließlich keine sechs Monate im Dunkeln. Außerdem haben wir Projekte zusammen mit Dänemark im Bereich Windenergie.

Revue: Geht der Staat bei den eigenen Gebäuden schon mit einem guten Beispiel voran?

Xavier Bettel: Wir arbeiten daran. Ich finde es nämlich etwas peinlich, wenn man den Bürgern sagt, sie sollen diesbezüglich aktiv werden, wenn man als Staat noch selbst nicht alles ausgereizt hat. Es wurde schon viel unternommen, und so sind zum Beispiel bei allen neuen Gebäuden Fotovoltaik-Anlagen vorgesehen. Diese Frage des Energiesparens hat sich bis zu der Krise keiner in diesem Ausmaß gestellt.

Durch die Krise wurden wir wachgerüttelt, noch aktiver zu werden. Es war bekannt, dass bei den erneuerbaren Energien etwas getan werden musste, jetzt kam halt der Schub, der uns dazu drängt, es schneller umzusetzen. Das Ziel — und das werden wir nicht morgen erreichen: irgendwann hierzulande sogar einen Überschuss an nachhaltig erzeugter Energie zu haben.

Revue: Was versprechen Sie sich vom Klimabürgerrat?

Xavier Bettel: Ganz ehrlich, ich war positiv überrascht, was die hundert Bürger an Ideen hervorgebracht haben. Diese werden aktuell analysiert. Der Abschlussbericht soll auf keinen Fall in irgendeiner Schublade verschwinden. Er wurde ja bereits in der Abgeordnetenkammer diskutiert. Manche der Vorschläge haben eine europäische Dimension, wo überprüft werden muss, ob wir sie überhaupt alleine umsetzen können. Im rezenten Politbarometer, in dem sich Befragte zu vom KBR vorgeschlagenen Maßnahmen äußern konnten, wurden manche Vorschläge auch verkürzt oder gar falsch abgefragt, wie etwa bei der COZ-Steuer. Da geht es nämlich vordergründig darum, das Verursacherprinzip einzuführen und diejenigen mehr zahlen zu lassen, die mehr CO, verursachen, und diejenigen zu belohnen, die weniger CO, ausstoßen, indem die Bürger die komplette Steuer wieder zurückerstattet bekommen.

Eine Klimapolitik soll in meinen Augen nicht gegen, sondern immer mit den Bürgern gemacht werden.

Verbote sind weniger produktiv, als wenn man versucht, die Menschen mit im Boot zu haben, dann ist die Akzeptanz nämlich deutlich höher.

Revue: Was halten Sie vom Vorschlag des Rechnungshofes, aus der Tripartite eine Quadripartite zu machen und Umweltschutzorganisationen mit an den Tisch zu holen?

Xavier Bettel: Momentan geht es bei der Tripartite um die wirtschaftliche Lage. Es ist aber nicht so, dass am Tisch einer Tripartite niemand einen Umweltgedanken hätte und nur das Geld im Vordergrund stünde. Der Umwelt- und Klimaaspekt wurde zum Beispiel während der letzten Tripartiterunde analysiert, wie etwa bei Energiefragen. Über den Vorschlag des Rechnungshofes kann man zwar diskutieren, man soll aber nicht so tun, als bliebe der Umweltgedanke bei den aktuellen Tripartiten außen vor.

Revue: Die "Sonndesfro" der letzten Woche sieht die aktuelle Majorität gestärkt. Wie zufrieden sind Sie?

Xavier Bettel: Wissen Sie, wenn man aufeinanderfolgende Krisen hat und man als Majorität noch einmal gestärkt wird, kann man sich als Premier nur freuen. Auch für meine Partei, die konstant gute Umfragewerte hat. Und auch wenn es ein bisschen speziell ist und nicht zum üblichen politischen Spiel gehört, freue ich mich nicht, wenn eine andere Partei in Umfragen an Zustimmung verliert. Es ist sowieso eine Momentaufnahme.

Die einzige richtige Umfrage findet eh nur alle fünf Jahre statt, und die ist es, die am Ende des Tages zählt. Bis dahin mache ich meine Arbeit weiter — ungeachtet irgendwelcher Umfragewerte —, so wie ich es für richtig halte.

Revue: Einige Minister haben bereits angekündigt, nicht mehr für ein Regierungsamt zur Verfügung zu stehen. Wie sieht es bei Ihnen aus?

Xavier Bettel: Ich bin voll motiviert weiterzumachen. Das Referendum hat gezeigt, dass 80 Prozent der Bevölkerung keine zehnjährige Mandatsbegrenzung wollen. Ich stehe also zu Verfügung. Die Motivation, die Energie und die Lust sind noch da. Sollte ich die Ehre und das Glück haben, nochmal Premier zu werden, mache ich das gerne. Aber das entscheide nicht ich, sondern die Wähler.

Revue: Premier in einer dritten Auflage von Blau-Rot-Grün?

Xavier Bettel: Das entscheiden auch die Wähler. Es gibt sicherlich Punkte, die aktuell in der Diskussion sind und ausschlaggebend für die Bildung einer Koalition sein könnten. Ich denke etwa an Themen wie eine mögliche Erbschaftssteuer oder eine Arbeitszeitverkürzung. Davon abgesehen, bin ich zufrieden über die Arbeit, die wir leisten. Die Chemie zwischen den Koalitionspartnern stimmt, und wenn die Wähler beim Urnengang ein klares Zeichen senden, umso besser.

Revue: Der Index könnte ein Wahlthema werden. Vor allem, wenn im vierten Quartal eine dritte Index-tranche erfallen soll (siehe Hintergrund 5.14)...

Und ich habe ja bereits angekündigt, dass es dann zu einer Tripartite kommen wird. Die Indextranche soll ausgezahlt werden, und diese soll dann für die Betriebe bis Ende des Jahres kompensiert werden, weil die Wirtschaft sonst in Schwierigkeiten geraten könnte. Es ist auch deshalb wichtig, dass die Maßnahmen, die wir im Kampf gegen die Inflation beschlossen haben, anfangen zu greifen. Und das tun sie. Das STATEC hat vor kurzem erläutert, dass die Inflation von 6,9% auf 5,9% sinkt. Das ist im europäischen Vergleich bemerkenswert. Die Index-tranche muss in meinen Augen zumindest ausgezahlt werden. Es wird nämlich schwierig werden, den Menschen bei konstanten Preiserhöhungen zu erklären, dass man dies nicht tun wird.

Revue: Dennoch, die soziale Kohäsion scheint auf wackeligen Füßen zu stehen...

Xavier Bettel: Das Sozialsystem hierzulande ist gut, man muss es aber auch finanzieren können. Ich gehöre zu den Politikern, die sagen, es muss auch Geld vorhanden sein, bevor ich es verteilen kann. Es geht hier auch um das Triple-A. Dieses Rating ist zwar keine heilige Kuh, aber unwichtig ist es sicher auch nicht. Entschuldigen Sie den Ausdruck, aber die Milchkuh in der Luxemburger Wirtschaft ist der Finanzplatz, und wenn der Finanzplatz schrumpft, wird es immer schwieriger, die aktuelle Sozialpolitik aufrechtzuerhalten. Es ist also wichtig für die Zukunft Luxemburgs in diesem Bereich attraktiv zu bleiben.

Diese Frage des Energiesparens hat sich bis zu der Krise keiner in diesem Ausmaß gestellt.

Die Motivation, die Energie und die Lust sind noch da.

Zum letzten Mal aktualisiert am