"Lahme Ente Deutschland", Jean-Claude Juncker au sujet du tribunal constitutionnel fédéral, de la situation de l'UE, de l'encyclique sociale du pape et de l'influence politique des chrétiens

Rheinischer Merkur: Die Zukunft der Europäischen Union ist unsicher. Der Lissabon -Vertrag erfährt jetzt auch - durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts - Widerstand aus Deutschland. Eine Katastrophe?

Jean-Claude Juncker: Das bringt die Europäische Union in einen sonderbaren Schwebezustand, da doch fast alle die europäischen Dinge voranbringen möchten. Das Karlsruher Urteil sorgt für erheblichen Hinterfragungsbedarf. Am Anfang hieß es, dass die Karlsruher Richter gefunden haben, der Lissabon-Vertrag bewege sich in keiner Weise im Widerspruch zum Grundgesetz und dass dies ein innerdeutscher Vorgang sei, der das übrige Europa nicht betreffe.

Rheinischer Merkur: Sie scheinen nicht beruhigt ...

Jean-Claude Juncker: Bei genauer Lektüre des Urteils ergibt sich die Befürchtung, dass die EU in einen Zustand der institutionellen Sklerose geraten könnte. Die Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts scheint mir nicht problematisch, aber die Weiterungen, wie sie etwa im 14-Punkte-Papier der CSU formuliert werden. Dann wären wir in bedeutsamsten Fragen entscheidungsunfähig. Denn im Verlauf von Verhandlungen der europäischen Spitzengremien ergeben sich plötzlich Schnittmengen, wo man sich nicht an strikt vorgefertigten Verhandlungsverläufen wird ausrichten können. Die etwas plumpe Idee, dass man die Sitzung eben vertagt, wenn ein Verhandlungsergebnis gerade nicht dem entspricht, was die kritische Masse des vom heimischen Parlament erteilten Verhandlungsmandats ausmacht. Diese Idee abstrahiert völlig von der notwendigen Verhandlungsdynamik. Eine Regierung, die pausenlos erklären muss, dass dies oder das noch wieder mit dem Parlament abgesprochen werden muss, ist in Europa eine lahme Ente und führt sich selbst in eine inakzeptable Bewegungsstarre.

Rheinischer Merkur: Was raten Sie Deutschland?

Jean-Claude Juncker: Bundestag und Bundesrat sollten sehr genau prüfen, inwieweit es im deutschen und europäischen Interesse liegt, sich selbst zu solcher Verhandlungs- und Abschlussunfähigkeit im Europäischen Rat, im Außenministerrat, im Finanzministerrat zu verdonnern.

Rheinischer Merkur: Aus Rückschlägen ist die Europäische Union bisher ja meist gestärkt hervorgegangen ...

Jean-Claude Juncker: Diese Krise ist anders. Es handelt sich um eine Systemfrage und eine der Methodik der politischen Entscheidungsfindung. Das Urteil des deutschen Verfassungsgerichts könnte - wenn es ausweitend ausgelegt würde - sehr wohl in eine nicht abreißende Serie von europäischen Krisen führen. Das geschähe, wenn die Bundesrepublik vor dem Hintergrund ihrer traditionell europa- und integrationsfreundlichen Haltung sich selbst zur lahmen Ente in der Europäischen Union machen sollte.

Rheinischer Merkur: Wie sähe das praktisch aus?

Jean- Claude Juncker: Wenn ich bei Verhandlungsbeginn in Brüssel weiß, wozu Frau Merkel in keinem Fall Ja wird sagen können, besteht doch die Gefahr, dass man dann auf diesem für die Deutschen erkennbar gemachten Reizthema herumreitet, um in anderen Bereichen weitere Zugeständnisse zu erhalten. Der Europäische Rat ist eine klassische Diplomatenkonferenz internationalen Zuschnitts. Wer da nicht abschlussfähig ist, schmälert seinen Einfluss. Ich staune, dass in einigen parlamentarischen parteilichen Kreisen der Bundesrepublik so getan wird, als ob sich die Position der Bundesrepublik besser verteidigen ließe mit einem parlamentarischen Mandat für die Regierenden. Meine Erfahrung ist gegenteilig.

Rheinischer Merkur: Was wiegt schwerer - das noch offene irische Votum oder die Debattenlage in Deutschland?

Jean-Claude Juncker: Ich halte das irische Votum inzwischen für weniger problembeladen als den Ausgang der innerdeutschen Debatte.

Rheinischer Merkur: Wenn Deutschland das größere Problem ist, müssten wir dann die Verfassung ändern ?

Jean-Claude Juncker: Nein. Es ist dem europäischen Einigungsprozess ja dienlich, dass nationale Gesetzgeber sich im Vorfeld mit europäischen Sachthemen und Entscheidungszonen beschäftigen, um nachher bei der Übertragung des Gemeinschaftsrechts in das nationale Recht in vollem Wissen, was Vorgeschichte war, schnell gesetzgeberisch tätig werden zu können. Aber: Aus einer Hürde darf keine Barriere werden. Das ist mein Punkt.

Rheinischer Merkur: Wir haben bisher über Strukturen geredet. In welchem Zustand ist Europa im Moment inhaltlich ?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union als Gesamtgebilde kommt mit den Konsequenzen der Finanz- und Wirtschaftskrise wesentlich besser zurande als einzeln aufgestellte Nationalstaaten. Viele Menschen spüren das und sagen mir: Gott sei Dank, dass es Europa gibt. Sie haben das Gefühl, dass Europa zum ersten Mal eine globale Antwort auf die globalen Herausforderungen hat.

Rheinischer Merkur: Gilt das für Europa, oder gilt das nur für Euro-Europa?

Jean-Claude Juncker: In der Euro-Gruppe klappt das gut. Die gemeinsame Geldpolitik für 16 Länder lässt uns in der Welt mit festem Fuße auftreten. Es gelingt unseren Partnern in der Welt nicht mehr, uns auseinander zu dividieren. Wenn es den Euro nicht gäbe, wäre jetzt klar, wieso wir ihn brauchten. Anders bei der Wirtschaftspolitik, da sind doch viele der Auffassung, dass dem getrennten Marschieren größere Bedeutung zukommt als dem vereinten Schlagen. Man wird noch zu oft überrascht von nicht angekündigten Alleingängen nationaler Regierungen, was den Anforderungen der von allen gewünschten Koordinierung der Wirtschaftspolitik nicht entspricht.

Rheinischer Merkur: Das sieht nicht nach ausgeprägter Gemeinsamkeit aus ...

Jean-Claude Juncker: Dennoch funktioniert es meist. Denn der Vorwurf, dass sich die europäische Krisenlösung aus Nationalinitiativen ergeben hätte, ist ja nur zu einem winzig kleinen Teil wahr. Vielmehr haben wir im Europäischen Rat und im Rat der Finanzminister gemeinsam beraten, welche Konjunkturprogramme es geben soll, wie wir antizyklische Politik machen wie wir mit dem Stabilitätspakt in Zukunft umzugehen gedenken, wie viel Geld wir in die Hand nehmen. Das sind alles europäische Grundsatzbeschlüsse, die gemeinsam getroffen wurden, bevor die nationalen Regierungen das, was gemeinsam beschlossen wurde, in nationales Handeln umgesetzt haben.

Rheinischer Merkur: Immer wieder streitet man über den Grad der Integration. Steht am Ende ein Staatenbund oder ein Bundesstaat?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union ist per definitionern ein Entwurf. Zukünftige Generationen müssen das Beste aus dem machen, was wir ihr hinterlassen. Am Ende werden aber nicht die Vereinigten Staaten von Europa stehen. Die Menschen haben das Bedürfnis nach Nähe, sie sind ihren Ländern, Bundesländern und Provinzen sehr verbunden. Das hat sich jahrhundertelang aufgeschichtet. Wer denkt, diese Schichtungen abtragen zu können, irrt sich fundamental.

Rheinischer Merkur: Nun hatten wir Europawahl, wir hatten aber auch Wahlen in Luxemburg ...

Jean-Claude Juncker: ... was die Welt weniger bewegt, ja.

Rheinischer Merkur: Aber es wurde doch beobachtet, Sie sind erneut Premierminister. Dieser Tage haben Sie die Regierungserklärung abgegeben. Was fiel Ihnen darin am schwersten?

Jean-Claude Juncker: Die eigene Unsicherheit. Man kann keine Prognosen abgeben über das Jahr 2010 hinaus. Wer in einem Regierungsprogramm für fünf Jahre planen muss, der tut sich dann in der Finanzplanung, aber auch in der inhaltlichen Planung schwer. Wenn man aber einräumen muss, nicht genau zu wissen, was kommt, dann sieht das nicht nach Führungsstärke aus.

Rheinischer Merkur: Sie bilden erneut mit den Sozialdemokraten eine Koalition. In der letzten Legislatur mussten Sie eine Lockerung der Sterbehilfe-Regelungen hinnehmen, diesmal zählen die Eheschließung für Homosexuelle und auch eine Änderung der Abtreibungsgesetzgebung zu den Vereinbarungen. Wie gehen Sie um mit dem dissonanten Handeln zwischen eigener Überzeugung und einer kompromisshaften Regierungspolitik?

Jean-Claude Juncker: Die Christdemokraten in Luxemburg haben ihr Resultat zum zweiten Mal in Folge verbessert, auf jetzt 38 Prozent. Der Umstand, dass Grüne, Liberale und Sozialisten zu dritt keine Mehrheit zustande gebracht hätten, hat mich nie glauben lassen, wir Christdemokraten seien die Herren der luxemburgischen Welt. Vor allem im Amt des Premierministers gilt die Regel: Erst kommt das Land, dann die Partei. Das bedeutet: Man muss auch Befindlichkeiten wahrnehmen, mit denen man sich selbst nicht in Harmonie bewegt. Man verwirkt sonst seinen Führungsanspruch. In Sachen Homoehe und Abtreibungsparagrafen sind in der luxemburgischen Gesellschaft inklusive in der eigenen Partei genügend Konsenselemente herangereift, die es möglich machen, jetzt brückenschlagend gegensätzliche Positionen gesetzgeberisch gestalten zu können. Täte man dies nicht, liefe man Gefahr, einer zukünftigen Mehrheit das Spiel völlig zu überlassen, anstatt aus dieser relativen Stärke heraus Positionen mitzudefinieren, die eigenem Denken näher kommen.

Rheinischer Merkur: Was bedeutet es dann für Sie, wenn sich der Papst zu solchen Fragen äußert?

Jean-Claude Juncker: Der Papst als Kirchenoberhaupt muss sich unbedingt zu gesellschaftspolitischen Fragen äußern, die die Kirche vom Lehramt her für bedeutsam hält. Ich wundere mich immer, dass manche dem Papst dieses Recht regelrecht abstreiten. Das muss man vor allem als katholischer Christ sehr ernst nehmen, wenngleich auf die Entscheidungsprozesse eines Politikers eben leider oft noch andere Kriterien einwirken M RM: Papst Benedikt hat jetzt seine erste Sozialenzyklika vorgelegt. Wie haben Sie das Papier wahrgenommen?

Jean-Claude Juncker: Ich habe sie mit Begeisterung gelesen, denn ich stehe mit beiden Füßen fest auf dem Boden der katholischen Soziallehre. Die neue Enzyklika ist für mich eine Anleitung in der Sache und eine Verpflichtung im Grundsatz.

Rheinischer Merkur: Sie enthält die Idee, einen Welt-Ethikrat einzurichten. Teilen Sie diese Vorstellung?

Jean-Claude Juncker: Das muss man als Auftrag anstreben, um deutlich zu machen, dass Wirtschaft sich prinzipiell im Dienste der Menschen zu verhalten hat. Nobles wirtschaftliches Tun gibt es nur auf ethischer Grundlage. Ich bin aber skeptisch, ob die Idee eines Welt-Ethikrates am Ende realistisch ist.

Rheinischer Merkur: Wird sich im ethischen Verhalten der handelnden Personen in der Wirtschafts- und Finanzwelt etwas ändern ?

Jean-Claude Juncker: Das wünschte ich mir, stelle allerdings mit Sorge fest, dass der Staub, der von dieser globalen Krise hochgewirbelt wurde, sich langsam wieder legt und Fehlentwicklungen zudeckt. Da muss man wieder in den Staub hineinblasen. Wenn ich jetzt höre, dass das Bonusgeschäft wieder bunte Blüten treibt, bin ich darüber ganz entsetzt, weil die Wirtschaftseliten den Menschen den Eindruck geben, als wäre aus der Krise nichts gelernt worden. Das legt die Axt an den Zustimmungskern der Menschen zu unserem Wirtschafts- und Sozialmodell.

Rheinischer Merkur: Was fürchten Sie?

Jean-Claude Juncker: Massive soziale Unruhen. Da stürzen Menschen unverschuldet in ein Lebensnichts und müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Kräfte, die in diese Krise hineingeführt haben, wieder auf der Sonnenseite des Lebens gelandet sind. Das ist ein höchst unverantwortliches Vorgehen und im Übrigen auch nicht dem entsprechend, was der Papst in seiner letzten Enzyklika zu Papier gebracht hat.

Rheinischer Merkur: Die G 20 haben ja kürzlich in London Änderungen an den Rahmenbedingungen der Wirtschaft beschlossen. Was wird daraus?

Jean-Claude Juncker: Wer jetzt Grauzonen bewusst übersieht, legt den Grundstein zur nächsten Krise. Insofern wünsche ich mir, dass die Regulierung stärker wird, ohne zu strangulieren. Die Ratingagenturen müssen an die Leine gelegt, die Finanzaufsicht muss gestärkt werden. Da gibt es einige Fortschritte. Ich stelle allerdings ein eher zögerliches Verhalten der britischen Regierung fest, die auf dem Höhepunkt der Krise doch den Eindruck tatkräftiger Führerschaft vermittelt hatte. Wenn es nun aber um die Londoner City geht, dann werden die Nuancen in London zahlreicher ...

Rheinischer Merkur: Fehlt es an Kritik daran ?

Jean-Claude Juncker: Ich wundere mich, dass andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ihren moralischen Zeigefinger tief in der Tasche hielten, als sich die Briten Sonderregelungen in Brüssel aushandelten. Aber ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass man mit Kleineren forscher umspringt als mit den Größeren.

Rheinischer Merkur: Wird am Ende der politische Wille da sein, die Reformen auch gegen Widerstand durchzusetzen ?

Juncker: Mein Eindruck ist: Ja. Aber es gibt einflussreiche Kräfte in der Finanzwelt, die

Rheinischer Merkur: Wer wird stärker sein?

Jean-Claude Juncker: Gegen eine geballte Willensäußerung nationaler und internationaler Öffentlichkeiten kann sich im Endeffekt die Wirtschaftsdominanz nicht so wie früher aufspielen. Die Menschen sind hellhöriger geworden.dies zu unterlaufen versuchen.

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