Jean Asselborn au sujet de l'Afghanistan, du Moyen-Orient et de la politique européenne

Tonia Koch: Die deutsche Kanzlerin hat den Bundeswehreinsatz in Afghanistan in - man möchte sagen - ungewöhnlich scharfer Form zurückgewiesen und sie hat sich "Vorverurteilungen verbeten". Fühlen Sie sich angesprochen?

Jean Asselborn: Ich wurde um eine spontane Reaktion gefragt, nachdem ich Bilder, Fotos gesehen hatte, und wusste, dass viele Menschen ihr Leben gelassen hatten. Und ich habe überhaupt nicht spezifisch die Deutschen treffen wollen. Ich habe das kommentiert, was mir am Herzen lag. Wir haben mit Bomben operiert. Wir haben das als Nato zu verantworten. Tut mir leid, ich bin kein Mensch, der sich da wegdrücken kann. Ich habe gesagt, was ich gesagt habe. Ich wiederhole das auch. Ich sage nicht mehr, ich sagen nicht weniger, aber Sie müssen mir glauben, dass das eine menschliche Reaktion war, wo ich keinen großen politischen Hintergedanken - auch nicht gegen Deutschland, vor allem nicht gegen Deutschland - hingesetzt habe.

Ich habe gesagt: Es muss Regeln geben in der Nato, die zu beachten sind. Und jetzt sind wir ja an einem Punkt, wo diese Enquete gemacht wird, geschaut wird, was wirklich war. Die Tatsachen werden dann auf den Tisch gelegt. Und dann wird es nicht an mir, sondern an den Verantwortlichen liegen, die Konsequenzen zu ziehen.

Ulrich Ziegler: Sie haben einen Satz gesagt: Man müsse "bei Bombeneinsätzen Gewissheit haben, dass es keine zivilen Opfer geben kann." Das ist natürlich in einem Land wie Afghanistan kaum zu bewerkstelligen. Oder haben Sie eine Lösung?

Jean Asselborn: Nein. Ich weiß, dass mir entgegen gehalten wird, dass wir im Krieg sind. Und Krieg ist eben Krieg. Ich weiß das alles. Aber auch diese Reaktion ist ja nur eine Reaktion, die man als normaler Mensch hat. Dass wir nicht in Afghanistan sein können, um Zivilleute zu bombardieren, sondern dass wir da sind aufgrund des UN-Mandats, was wir ja seit 2001 haben, um Afghanistan wieder aufzubauen, um einen "Embryo von Demokratie" hineinzubringen, damit die Menschenrechte respektiert werden, darum geht es. Das ist unsere Aufgabe, wissend, dass der Wiederaufbau von Afghanistan nur geschehen kann, wenn auch Sicherheit garantiert wird.

Aber ich glaube, dass die Amerikaner und vielleicht auch andere heute sehr genau wissen, dass man äußerst vorsichtig sein muss mit Bombardierungen, dass Bombardierungen nur die Ultima Ratio sein dürfen und sein können. Ich glaube, dass auch auf Seiten von Deutschland - und da will ich kein Professor sein - militärisch die Konsequenzen gezogen werden, die zu ziehen sind.

Tonia Koch: Lassen Sie uns noch einmal über diese Regeln für Luftangriffe reden. Wenn Sie sagen, wir brauchen starke Regeln dafür, kann denn dieses Ereignis möglicherweise dazu führen, dass diese gesamte Strategie überdacht werden muss, dass man noch mal darüber redet, weil auch die Menschen an den Bildschirmen, die die Dinge gesehen haben, zum ersten Mal in einem großen Maß Betroffenheit verspürt haben. Ist es an der Zeit, darüber noch mal exakt darüber zu reden innerhalb der Staatengemeinschaft?

Jean Asselborn: Wir wissen heute, was wir vielleicht vor einer Woche - jedenfalls ich nicht - nicht genau wussten, dass auf Seiten der Amerikaner, auf Seiten auch der Nato ganz klare Regeln bestehen. Diese Regeln müssen, glaube ich, ich sage das als Politiker, äußerst strikt sein.

Ich will aber auch ein Wort als Luxemburger gegenüber den Deutschen sagen. Ich weiß als Luxemburgischer Außenminister auch, wie viel das Deutsche Militär schon geleistet hat. Ihr habt das größte Kontingent in Afghanistan. Ihr habt fast 4.000 Truppen in Afghanistan. Auch im Norden von Afghanistan ist das keine Spielwiese. Das weiß ich, das akzeptiere ich. Ich habe also viel Respekt auch vor den Menschen, die militärisch da zu operieren haben. Ich weiß, wie schwer das ist. Aber hier müssen wir genau wissen, wie es zu diesem Vorfall kam, wo zivile Menschen ihr Leben verloren haben. Die hätten es vielleicht nicht verlieren brauchen.

Ulrich Ziegler: Der Aufbau dieses Landes, Stabilisierung, Kampf gegen Terrorismus, und das seit 2001, acht Jahre dauert das mittlerweile. Nur wenn wir uns anschauen, wo wir im Moment stehen, ist die Sicherheitslage nicht besser geworden. Wir haben einen schwierigen Präsidenten Karsai, der möglicherweise - man weiß noch nicht genau wie - wieder gewählt wurde. Hat sich der Einsatz bisher gelohnt? Kann man einfach so weiterfahren?

Jean Asselborn: Nein, man kann nicht so weiterfahren. Das ist klar. Hat sich der Einsatz gelohnt? Das ist natürlich die große Frage. Sie haben die Wahlen, Sie haben Präsident Karsai genannt. Ich will da kein Urteil abgeben, wie die Wahlen ausgehen. Ich kann Ihnen nur sagen: Wenn wir keinen legitim gewählten Präsidenten in Afghanistan haben, wird es extrem schwierig werden - intern, in Afghanistan selbst, aber auch für uns als internationale Gemeinschaft - den Menschen hier in unseren Ländern zu sagen, dass wir uns weiterhin, auch mit Steuermitteln, einbringen müssen. Wir müssen uns militärisch einbringen. Wir müssen uns auf allen Gebieten einbringen, um den Wiederaufbau fertig zu bringen. Die conditio sine qua non ist, dass ein Präsident in Afghanistan regiert, der Legitimation hat.

Aber jetzt ist ja der Punkt, wo wir in den nächsten Tagen erfahren, ob es eine Legitimation gibt für dieses Resultat, was wir heute kennen - 54 Prozent, glaube ich, für Karsai und so viel für Abdullah Abdullah. Es wurde ja eine internationale Kommission unter dem Vorsitz eines Kanadiers eingesetzt. Ich glaube, ohne dass diese Kommission gesprochen hat, kann das Resultat nicht legitim sein.

Daneben muss man ja wissen, dass es nicht nur die Wahlen sind. Wir haben auch vieles schon fertig gebracht seit 2001, diese PRT, diese Provincial Reconstruction Teams, wo sehr, sehr viel zustande kam, wo sehr viel Aufbau schon getätigt wurde. Noch nie sind in Afghanistan so viele Mädchen zur Schule gegangen, wie jetzt, um nur dieses Beispiel zu nehmen. Bei allem Manko, was besteht, ist hier viel von der internationalen Gemeinschaft geschehen. Ich glaube, das wird bestimmt Ihre nächste Frage sein, was jetzt ansteht, was wir als Europäer tun können, um Afghanistan auf eine bessere Schiene zu stellen.

Ulrich Ziegler: Wenn Sie die Frage schon stellen, vielleicht haben Sie ja eine Antwort. Denn es gibt Niederländer, die sagen: Wir wollen raus. Dieser Einsatz ist wenig geduldet bei den Europäern, zumindest bei der Bevölkerung. Viele sagen, was haben wir eigentlich in Afghanistan zu suchen. Wir hätten gerne eine "Exit-Strategie", also einen Plan, wann können wir mit gutem Gewissen wieder raus. Da muss Europa eine Antwort geben.

Jean Asselborn: Wissen Sie, in Amerika ist ein neuer Präsident gewählt worden. Der will wiedergewählt werden. Es gibt also eine Zeitspanne von zwei bis zweieinhalb Jahren. Er wird an keiner anderen Herausforderung so gemessen werden, wie an Afghanistan. Die Amerikaner werden also jetzt in den kommenden zwei Jahren wirklich sehr viel investieren, um vorwärts zu kommen.

Was investieren Sie? Sie investieren in die Sicherheit, um mit dem Wiederaufbau wirklich voranzukommen. Ich bin davon überzeugt, dass die Amerikaner selbst, um mehr Sicherheit zu garantieren, dass wir noch mehr Truppen brauchen. Denn wir müssen wissen, dass zu diesem Zeitpunkt der Wiederaufbau nur zu bewältigen ist, wenn er von Sicherheitsleuten begleitet wird.

Nach diesen zwei, zweieinhalb Jahren, das ist meine Meinung, kommt ein Umdenken, wo die Afghanisierung auch der Sicherheit vorangetrieben wird. Und dann kommt der finale Punkt, wo wir uns vielleicht die Frage stellen: Wann haben wir als internationale Gemeinschaft in Afghanistan gewonnen? Und wann haben wir verloren?

Ich sage, dass wir gewonnen haben, wenn es möglich ist, in Afghanistan eine Regierung mit den Taliban zu bilden. Taliban heißt ja nicht Al Kaida. Wenn die Taliban bereit sind, in die Regierung zu gehen, wenn sie in die Regierung gewählt werden, wenn sie die Rechtsstaatlichkeit anerkennen, dann haben wir gewonnen. Verloren haben wir, wenn wir als internationale Gemeinschaft abziehen und tags danach sind die Extremisten wieder an der Macht und machen das, was sie vor 2001 gemacht haben.

Ulrich Ziegler: Sowohl der frühere deutsche Verteidigungsminister Peter Struck, als auch jetzt Herr Jung haben über Jahre immer gesagt, wir wollen den zivilen Aufbau vorantreiben. Wenn wir uns im Moment die Lage anschauen, stimmt es möglicherweise, dass mehr Mädchen in die Schule gehen können. Aber es stimmt auch, dass die Städte unsicherer geworden sind, dass der Opiumanbau gesteigert wurde in den letzten Jahren, so dass dieses Ziel, in zwei Jahren das alles wieder zurückzufahren, doch eigentlich unrealistisch ist.

Jean Asselborn: Also, wenn ich mit meinem Kollegen, Außenminister Spanta aus Afghanistan, der ja auch Deutschland gut kennt, spreche, dann sagt er mir, dass der Anbau nur noch in wenigen Provinzen im Süden geschieht, dass das noch nicht unter Kontrolle ist, dass aber die Hoffnung besteht, dass dieser Opiumanbau, der ja auch die Finanzierung der Extremisten von Al Kaida bewerkstelligt, zu bewältigen ist.

Tonia Koch: Diese Zielsetzungen, über die wir jetzt sprechen, dass man die Menschen in die Lage versetzt, dass sie ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen können, steckt ja dahinter, sind ja schon einmal 2006 in einem Abkommen formuliert worden. Und jetzt hat sich Ihr Amtskollege Steinmeier geäußert und meint, man müsste eine solche Konferenz möglichst bald wiederholen, um klare neue Zielsetzungen zu formulieren, die man dann auch einer neuen Regierung an die Hand geben könne, damit sie diese erfüllt, um die Eigenständigkeit zu proben. Wann sollte diese Konferenz kommen und bringt sie auch den gewünschten Erfolg aus Ihrer Sicht?

Jean Asselborn: Frank Steinmeier war der Erste von uns, der im August schon gesagt hat, dass man einen Abzug planen soll und gleichzeitig eine Redynamisierung dieses Afghan-Compacts, wie das heißt, der ja 2006 in London beschlossen wurde. 2010 läuft dieser Pakt aus. Wir müssen ihn also mit der neuen Regierung in Afghanistan neu verhandeln, neu orientieren, militärisch, aber auch wirtschaftlich und politisch gesehen. Es kann nicht ein "Weiter-So" geben, sagt er ganz klar, sage ich auch. Und diese Konferenz, die dann stattfinden soll? Wissen Sie, wir haben als Außenminister ja auch im Kopf, dass es auch einmal möglich sein müsste, dass die 27 Außenminister eine Konferenz in Kabul abhalten. Das ist eine Idee, die besteht. Das wäre zum Beispiel ein Zeichen, was wir auch setzen könnten. Dieser Gedanke ist im ebryonalen Stadion und ich hoffe, dass er sich weiterentwickelt.

Ulrich Ziegler: Herr Asselborn, ohne die Amerikaner geht in Afghanistan nichts. Ohne die Amerikaner geht aber auch im Nahen Osten nichts. Am Rande der Vollversammlung der Vereinten Nationen möchte US-Präsident Obama mit Netanyahu aber auch mit Herrn Abbas sprechen, versuchen, neue Dynamik in den Nahostprozess zu bringen. Was soll denn anders sein als in einer Zeit vor acht oder zehn Jahren, als Bill Clinton das versuchte, als andere amerikanische Präsidenten versucht haben, diese Nahostkonflikt zu lösen. Sehen Sie neue Chancen?

Jean Asselborn: Ja. Auch hier muss man eine gewisse Dosis Optimismus selbstverständlich immer auf die Waage bringen. Sonst braucht man nicht anzufangen, weder zu diskutieren, noch zu handeln.

Noch nie hat ein amerikanischer Präsident sich so klar ausgesprochen, dass diese Settlements, dass diese Kolonien gestoppt werden müssen. Da wird das Land der Palästinenser von den Israelis beschlagnahmt, mit Stacheldraht abgesichert. Und dieses Territorium ist dann nicht mehr Palästina, sondern gehört zu Israel. Es ist eine permanente Provokation, mit der die Menschen da zu leben haben. Die wahren Freunde Israels, und Luxemburg gehört dazu und Deutschland bestimmt auch, dürfen nicht müde werden, hier Tacheles zu reden und den amerikanischen Präsidenten hundertprozentig zu unterstützen. Bis jetzt haben wir alle 27 Regierungen in der Europäischen Union hinter dieser Position, dass wir sagen: Ohne Stopp der Kolonien kann es wirklich nicht zu einem ersten Gespräch wieder kommen.

Die Israelis bauen weiter. Das stört mich ungemein. Und ich hoffe, weil ich ein Freund Israels bin, dass das nicht so weit getrieben wird, dass überhaupt nichts mehr geht oder dass der Deckel explodiert. So kann es nicht gehen. Obama wird das wiederholen. Er wird mit Abu Mazen reden. Er wird mit Netanyahu reden. Und er wird sagen, dass das, was Fayyad, der Premierminister der Palästinenser vorgeschlagen hat, dass wir uns zwei Jahre geben, um zu verhandeln, um dann zu einer Zweistaatenlösung zu kommen, auch sein Wille ist.

Da bin ich auch überzeugt, wenn der amerikanische Präsident und die Europäische Union, wenn die internationale Gemeinschaft diesen Willen wirklich bekundet und wenn Amerika diesmal sagt, wir machen es nicht mehr wie bei Annapolis, dass Israelis und Palästinenser allein verhandeln, sondern wir wollen uns mit an den Tisch setzen, dadurch indirekt auch die Europäer und indirekt an dem Tisch sitzen haben, dass sie da nicht einfach abwinken können.

Tonia Koch: Dann wird Obama innerhalb von zwei Jahren das schaffen, was andere in Jahrzehnten nicht geschafft haben?

Jean Asselborn: Das wird Obama nicht alleine schaffen können. Aber wissen Sie, wir haben zum Beispiel im Nahen Osten vier Jahre der Administration Bush gehabt, wo nichts geschehen ist. Vier Jahre war Stillstand. Seit Monaten und Monaten wird keine Rakete mehr aus Gaza auf Sderot geschossen. Aber nichts ändert sich. Das ist das Schlimmste. Die Lastwagen, die mit den elementarsten Nahrungsmitteln hineinkommen müssten, kommen nicht hinein. Nur die Hälfte der Lastwagen kommt nach Gaza.

Die Welt darf hier nicht weiter zuschauen. Wir dürfen uns nicht wundern, dass, wenn das so bleibt, dass auch hier die Explosivität sehr, sehr groß ist. Fatah hat sich regeneriert, mit einem Präsidenten Abu Mazen, mit Fatah-Leuten, die keine Extremisten sind, die keine Terroristen sind, die mit den Füßen auf dem Boden stehen. Diese Chance wird Israel nicht mehr bekommen, um zu verhandeln.

Ulrich Ziegler: Aber kann denn die Lösung eine Zweistaatenlösung sein in einer Situation, wo wir im Gaza-Streifen die Hamas haben, die Fatah im Westjordanland? Laufen wir da nicht mit einer alten politischen Landkarte durch völlig neues Gebiet, wo wir eigentlich die Welt noch mal anders betrachten müssten?

Jean Asselborn: Auch hier eine klare Antwort: Durch die interne Reform von Fatah hat Hamas nicht mehr die große Mehrheit, sondern Fatah hat wieder viel mehr Vertrauen gewonnen. Es muss möglich sein - das ist ja das Ziel -, dass Anfang 2010 Wahlen stattfinden können in Palästina. Und nach diesen Wahlen muss geschaut werden, dass Palästina auch wieder zusammenkommt, die zwei Gebiete zusammenkommen. Darum verstehe ich auch hier wieder nicht diese Isolationspolitik, die vor Ort betrieben wird, wenn man sieht - zum Beispiel wieder die Deutschen -, welche Mühe man sich gibt, um Gefangenenaustausch vorzuweisen, wenn man sieht, welche Mühe sich die Ägypter geben, um den interpalästinensischen Dialog voranzutreiben.

Aber von der Seite der Israelis, was Gaza betrifft, genau wie im großen Prozess, im Friedensgespräch, ist Funkstille. Das ist etwas, was vielleicht in ein paar Wochen, ein paar Monaten wieder zu einer Explosion führen kann. Dann sieht man wieder Bilder, die man nicht mehr sehen mag, wie wir sie im Dezember letzten Jahres gesehen haben.

Ulrich Ziegler: Eine kleine Anmerkung: Die Ägypter lassen es auch zu, dass Tunnel gegraben werden und Waffen in den Gazastreifen kommen.

Jean Asselborn: Sie müssen verstehen, wie die Lage der Menschen da ist. Durch diese Tunnel kommen verschiedene lebenswichtige Mittel, Nahrungsmittel, vielleicht auch Güter nach Gaza. Es gibt ja keinen einzigen offiziellen Zugang mehr zu Gaza. Rafah müsste doch eine Grenze sein, die offen ist, wo auch die Europäische Union ja viel investiert hat mit Polizisten, die vor Ort sind. Warum kann das nicht funktionieren? Dann wären diese Tunnel nicht da. In den Tunneln werden nicht nur Waffen hineingeschmuggelt.

Ulrich Ziegler: Aber auch.

Jean Asselborn: Aber auch, es werden aber keine Raketen zurzeit mehr geschossen. Man darf sich doch nicht vorstellen, dass man anderthalb, zwei Millionen Menschen in dieses Areal, was - glaube ich - ein Siebtel vom luxemburgischen Areal ist, ein Siebtel von unserem kleinen Land hier, hineinstecken kann, ohne sie rauszulassen, und die sich nicht wehren. Die versuchen doch mit allen Mitteln, sich da zu wehren. Diese Explosivität muss man doch sehen. Aber wenn Sie in Tel Aviv sind, dann ist Gaza etwas, was irgendwo im Busch bei Tansania liegt. Das ist ja das Problem, dass diese Wahrnehmung nicht geschieht.

Tonia Koch: Herr Asselborn, Sie haben es vorhin schon selber angesprochen, Europa leistet ein großes Maß an humanitärer Hilfe, auch für den Nahen Osten, für die Palästinenser. Aber welche Rolle spielt das denn in diesem Prozess, den Sie vorhin angesprochen haben, von dem Sie glauben, dass er durch Obama in Gang gesetzt wird und beschleunigt werden kann? Wie sieht die Rolle der Europäer da konkret aus?

Jean Asselborn: Auch hier muss man ganz klar sehen, dass Gaza überhaupt nicht ohne das Geld existenzfähig wäre, was wir aus Europa nach Gaza geben. Das Zweite ist: Wir, Europa, sind ja keine militärische Macht an sich. Ich habe auch nichts dagegen. Die Amerikaner sind eine anerkannte Militärmacht. Die zwei Komponenten, wenn sie auf einer Schiene sind, wenn sie zusammenarbeiten, auch durch den Einfluß der Amerikaner, durch die große jüdische Gemeinschaft, die in Amerika besteht, ist vieles zu bewältigen.

Darum sollte Europa, dieser Wille war in den letzten acht Jahren nicht da, eng zusammenarbeiten im Quartett mit den Amerikanern, um diese Ziele zu erreichen, die ja auf der Hand liegen. Es muss möglich sein, in zwei Jahren die verschiedenen Punkte, die in Annapolis angeschnitten wurden, zu bewältigen. Nämlich Jerusalem Hauptstadt, Rückkehr der Flüchtlinge, dann die Aufteilung des Landes, das ist alles nicht so schwierig. Das ist zu bewerkstelligen. Dann müsste es doch auch möglich sein, dass Israel in Frieden mit seinen palästinensischen Nachbarn leben könnte. Demographisch gesehen wissen wir, wer gewinnen wird. So weit sollte und müsste es ja nicht kommen.

Tonia Koch: Was ist Europa? Stiller Unterstützer, damit die Amerikaner hoffentlich in die Richtung laufen, von der Sie glauben, dass es die richtige ist?

Jean Asselborn: Es gibt ja das Quartett, wo Amerika, Europa, Russland und die UNO zusammen sind. Die großen Achsen der Palästina-Israel-Politik werden da bestimmt. Es geht darum, eine Zweistaatenlösung zu finden, wo die zwei Staaten in Frieden zusammenleben können. Wer mehr helfen müsste, sind die Golfstaaten.

Ulrich Ziegler: Bleiben wir noch mal bei Europa, denn der Nahe Osten liegt sozusagen vor der Haustür. Es gibt die Reisediplomatie der Franzosen, der Deutschen, der Luxemburger, der Engländer, wie auch immer. Wäre es denn nicht sinnvoll, wenn Sie schon sagen, wir wollen eine gemeinsame europäische Außenpolitik machen, dass wir auch tatsächlich nur einen hinschicken, einen europäischen Außenminister?

Jean Asselborn: Meine Antwort ist ganz einfach: Ja, das müsste die Regel sein. Aber Europa ist ein Gebilde, wo zum Beispiel zwei Länder einen Vertreter im Weltsicherheitsrat haben, wo vier Länder in G8 sind, wo sechs Länder in G20 sind, wo wir dauernd den Spagat machen zwischen den Interessen der Länder und den Interessen der Gemeinschaft. Wenn morgen der Außenminister der Europäischen Union in Israel, in Palästina, in Syrien, in der ganzen Region auftritt, müsste er die Interessen der ganzen Gemeinschaft vertreten. So weit sind wir nicht.

Das ist auch nicht der störende Faktor. Ich bin überzeugt, dass - wenn wir in der Substanz eine gemeinsame Linie haben - dann auch in der Form der Weg zu finden ist.

Ulrich Ziegler: Aber der Reformprozess innerhalb Europas würde Ihnen schon helfen.

Jean Asselborn: Würde sicherlich helfen, auch in der Außenpolitik. Aber ich sage noch einmal: Es genügt nicht, dass wir einen gemeinsamen Außenminister haben. Wir müssen auch den gemeinsamen politischen Willen haben, diesem Außenminister dann ein Mandat zu geben, damit er im Namen von allen reden kann. Ich sage nur, dass es Punkte gibt, wo kleine, mittlere und große Länder spezifische Interessen haben, die auch zu verteidigen sind.

In der großen Frage, wo es um Frieden geht, müssen wir uns anstrengen, wirklich eine Position herauszuarbeiten. Wichtig wäre es natürlich in der Struktur, dass wir da durch Lissabon trotzdem mehr rationell vorangehen könnten.

Tonia Koch: Wie weit steht denn der Vertrag?

Jean Asselborn: Da kann man zurzeit immer nur spekulieren. Es sieht ja nicht schlecht aus in Irland. In Polen, glaube ich, braucht man nicht viel Durchblick zu haben. Das liegt da an einer Person. Und bleibt noch Prag. Da den Durchblick zu haben, da muss man früh aufstehen.

Ulrich Ziegler: Macht es Sinn, dass nächste Woche ein neuer EU-Kommissionspräsident gewählt wird und dass der Barroso heißt, egal, wie der Prozess in Sachen Lissabon und Ratifizierung läuft?

Jean Asselborn: Ich gehe davon aus, dass der Kommissionspräsident gewählt wird. Ich gehe auch davon aus, dass die Kommission Anstrengungen mit dem Parlament machen wird, dass vielleicht im November die Kommission stehen könnte. Ich weiß allerdings nicht, wann Lissabon steht. Ich hoffe nur, dass wir es vor den englischen Wahlen schaffen.

Tonia Koch: Denken Sie denn auch, dass dann Barroso mit einer vollen Amtszeit ausgestattet wird? Es gab ja auch mal Ideen zu sagen, ihn nur interimsmäßig zu installieren, bis dann eben der Vertrag von Lissabon in Kraft ist.

Jean Asselborn: Das ist alles Sache zu allererst des Parlaments. Ich bin überzeugt, dass das Europaparlament auch versucht, ein Bild abzugeben, das auch die Irländer nicht irreführen kann. Damit habe ich mich weder für noch gegen eine Person ausgesprochen. Ich bin nicht Mitglied des Europäischen Parlaments. Es ist am Europäischen Parlament, die Entscheidung zu treffen.

Ulrich Ziegler: Aber Sie sind überzeugter Europäer. Und dann sind Sie auch noch Sozialist. Wann werden denn die Sozialisten im Europäischen Parlament wieder mal ein gewichtiges Wörtchen mitreden, auch einen wichtigen Posten haben, möglicherweise den des Außenministers oder des Ratspräsidenten?

Jean Asselborn: Wir haben ja als Sozialdemokraten eigentlich alle Karten in der Hand, wenn wir jetzt schauen, was wir in Bezug auf die Krise brauchen. Wir sind ja politische Parteien, die glauben, dass man einen Staat braucht, der reguliert, der sich einsetzt, der eine starke Hand hat. Personen sind nicht das Wichtigste. Ich glaube auch, die richtige Idee auf dem richtigen Posten bringt Europa schon voran.

Ulrich Ziegler: Da müssen Sie nur aufpassen, dass die sozialdemokratischen Ideen, von denen Sie reden, nicht von anderen geklaut werden.

Jean Asselborn: Ja, das geschieht schon seit einigen Jahren. Aber gut, wir sind ja auf die Welt gekommen, um zu teilen.

Tonia Koch: Herr Asselborn, Sie haben gesagt, es gibt einen Durchhänger für die Sozialdemokratie in Europa, für die Sozialisten in Europa, einen "kleinen Durchhänger". Wenn man die Wahlergebnisse anschaut, die Sozialdemokraten oder Sozialisten in den europäischen Ländern erzielen, dann wachsen hier die Bäume wirklich nicht in den Himmel. Wie lange wird denn diese Phase dauern und wann haben Sie die überwunden?

Jean Asselborn: Wir haben immer noch fünf Ministerpräsidenten. Und ich glaube, in vier anderen Regierungen sind wir in der Koalition. Für mich ist die Referenzpartei trotzdem die SPD. Alles, was mit der SPD geschieht, hat einen großes Einfluss auf die europäische Sozialdemokratie. In Frankreich sieht es zurzeit noch nicht so rosig aus, auch nicht in Italien. England ist schwer einzuschätzen. Aber die Substanz, die wir in die Politik hineinzubringen vermögen, wird sich in den nächsten Jahren wieder sehr viel stärker zeigen.

Vielleicht muss die Sozialdemokratie mehr sexy werden, muss mehr zeigen, dass wir uns wirklich für einen starken Staat einzusetzen haben. Ein starker Staat ist etwas, was wir durch diese Krise und auch nach dieser Krise brauchen. Denn wir haben gesehen, was - wenn die Wirtschaft auf sich selbst angewiesen und sich selbst überlassen ist - die Konsequenz weltweit dann ist.

Ulrich Ziegler: Herr Asselborn, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.

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