"Wir müssen uns an Trippelschritte gewöhnen". Jean-Claude Juncker au sujet de la faillite de Lehmann Brothers il y a un an, de l'origine de la crise financière et économique, du G20 à Pittsburgh et de la situation budgétaire au Luxembourg

Télécran: Herr Staatsminister, vor einem Jahr stürzte die Pleite der Lehman Brothers die Welt in die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit 60 Jahren. Haben wir das Schlimmste hinter uns?

Jean-Claude Juncker: Die Niedergang von Lehman Brothers war nicht, wie häufig behauptet, der Auslöser der Krise. Krisenhafte Erscheinungen an den Finanzmärkten gab es seit August 2007. Diese Pleite war der Brandbeschleuniger einer Finanzkrise, die auf die USA beschränkt war, auf die Finanzwelt und die Realwirtschaft der Rest der Welt. Trotz erster Anzeichen eines Stopps des freien Falls der Weltwirtschaft, was nicht mit einer konjunkturellen Wiederbelebung zu verwechseln ist, ist die Krise nicht vorbei. Wir sind an der Talsohle angekommen, aber der Weg hinaufzukraxeln ist ungeheuer anstrengend.

Télécran: Was bewirkt eine derartige Krise, die trotz aller Vorzeichen, brutal gekommen ist, bei einem Politiker? Hat sie Ihr Weltbild verändert?

Jean-Claude Juncker: Inhaltlich, substantiell und sachlich nicht. Es ist weitgehend unbekannt hierzulande, dass ich seit Jahren vor der ungenierten Flexibilisierung in allen Bereichen gewarnt habe. Vor einigen Jahren hielt ich eine heftige Rede in der Euro Gruppe gegen die Boni und die Risiko verleitenden Vergütungssysteme im Bankenwesen, ohne nennenswerten Erfolg in der Sitzung und nach der Sitzung. In sehr viele Reden habe ich die Tatsache angeprangert, dass der tägliche Finanzfluss ein X-Faches der realwirtschaftlichen Vorgänge dargestellt hat. Und ergo, Blasen bildende und spekulative Elemente hatte. Wenn ich manchmal lese, dass niemand in der Politik gesagt hätte, das System könnte eines Tages zusammenbrechen, dann finde ich es zu anstrengend, mit Hilfe von Zitaten zu beweisen, dass ich genau dies getan habe.

Télécran: Für Sie war es keine Überraschung?

Jean-Claude Juncker: Doch. Ich hätte nie gedacht, dass eine Finanzkrise, die einen regionalen Ursprung hat - in den USA - eine derartig niederschmetternde Gesamtwucht entwickeln würde. Es ist die erste Finanz- und Wirtschaftskrise, die etwa zum gleichen Zeitpunkt gleichmäßig angekommen ist. Sie ist flächendeckend. Dies hätte ich effektiv nicht für möglich gehalten, wahrscheinlich, weil ich die strukturellen Verschiebungen, die durch die Globalisierung herbeigeführt wurden, in ihrer Gesamtwirkung unterschätzt habe. Aber dass das System, wie es gedreht hat, nämlich dieses Loslösen der Finanzwirtschaft von der produktiven Wirtschaft, schlecht war, davon war ich stets überzeugt.

Télécran: Vor dem G-20-Gipfel zeigt die EU sich geschlossen. Sie fordert eine Begrenzung der Manager-Boni. Wird sich hierauf einen publikumswirksamen Nebenschauplatz der Krise konzentriert?

Jean-Claude Juncker: Ich hätte mir Publikumsinteresse gewünscht, als ich angefangen habe, den Bereich des wirtschaftspolitischen Gebarens öffentlich zu kritisieren. Es hat aber niemand in diese Kritik eingestimmt. Die Bonussysteme, die Bankmanager und Trader dazu verleitet haben, unverantwortliche Risiken einzugehen, tragen ein gerüttelt Maß Schuld an dem, was wir jetzt erleben. Es ist aber zweifellos nicht das zentrale Element, aber trotzdem muss es geklärt werden. Deshalb ist es gut, dass wir als EU und auch als Euro Gruppe - dort sind wir präziser geworden - Vorschläge machen, wie dem ein Riegel vorgeschoben werden kann. Zum Beispiel, dass die Bonuszahlungen mit einem Malussystem kombiniert werden. Dass man also Geld verliert, wenn man den Karren an die Wand gefahren hat. In der Euro Gruppe einigten wir uns auf eine Obergrenze der Boni. Die Engländer sehen das nicht so. Die Amerikaner auch nicht. Was mich zu dem kühnen Satz verleitet hat, dass die Europäische Union das im Alleingang machen würde. Weil ich daran glaube, dass es nicht zu einer Auswanderung von Kapital nach USA und sonstwo führen wird. Banken, Investoren und Kunden ist ein geregeltes System lieber, als sich auf freier Wildbahn den hetzenden Hunden auszusetzen.

Télécran: Trotzdem sind die Bonuszahlungen nicht der zentrale Punkt, wie Sie selber sagten. Was ist der zentrale Auslöser der Krise?

Jean-Claude Juncker: Die Gier des schnellen Geldes. Die Vorstellung, dass man Geld über Nacht arbeiten lässt. Es wurde auf den schnellen Gewinn gesetzt, ohne über Kollateralschäden nachzudenken. Viele reiche Leute wurden noch reicher, weil Arbeitsplätze abgebaut wurden. Sogar Arbeitnehmer, die sich als Kleinanleger vermeintlich emporgearbeitet hatten, tragen Mitschuld daran, dass andere Kleinaktionäre ihre Arbeit verloren. Das individuell unverantwortliche wirtschaftliche Benehmen und die Geilheit auf das schnelle Geld haben uns weltweit in diese Lage gebracht. Und da wird die Kombination des neuen Grundreflexes, nämlich schnell Geld zu verdienen ohne dafür zu arbeiten, mit den Bonusregelungen deutlich. Es begünstigte Produkte, in denen kurzfristige Profite möglich waren - und dieses System ist gescheitert.

Télécran: Nun soll die neue Weltfinanzordnung nicht nur sicherer, sondern auch gerechter werden. Aktuell deutet aber nichts in diese Richtung. Die Banken machen wieder Gewinn, doch die Wirtschaft liegt flach, die Arbeitslosigkeit steigt weiterhin. Wird die Welt noch ungerechter?

Jean-Claude Juncker: Die Arbeitslosigkeit wird weltweit bis spät ins Jahr 2011 steigen, auch in Luxemburg. Die Arbeitsmärkte reagieren mit Verspätung auf wirtschaftliche Drosselungsvorgänge und auch mit Verspätung auf wirtschaftliche Erholung. Am Arbeitsmarkt steht uns das Schlimmste noch bevor. Dass die Banken wieder Gewinne abwerfen, ist zu begrüßen, und es ist zu wünschen, dass sie nicht vergessen, dass sie heute in dieser Lage sind, weil die Staaten und Regierungen extrem hohe Gesamtfinanzierungsrisiken im Bankensektor übernommen haben. Dabei ging es nicht um die schönen Augen der Banker, sondern um die Absicherung der Realwirtschaft. Dafür haben wir allein in der EU Konjunkturprogramme auf die Wege gebracht, die insgesamt den Jahren 2009 und 2010 fünf Prozent des europäischen Bruttosozialproduktes ausmachen. Zählt man die Garantien der Staaten hinzu, sind es sogar über 30 Prozent des europäischen BIP. Keine Bank, mit Ausnahme der wenigen, die sehr gut geführt sind, würde heute Gewinne machen, wenn die Staaten und Regierungen nicht gehandelt hätten. Und die Staaten und Regierungen sind nur die Stellvertreter der Menschen, die Steuern zahlen und arbeiten. Deswegen wünsche ich mir größte Bescheidenheit von der Finanzwirtschaft. Sie sollte ihre Ansichten mit weniger Tremolo verbreiten, um der Politik mitzuteilen, wie die Welt regiert sein sollte.

Télécran: Was kann die Politik tun, wenn die Banken dies eben nicht befolgen?

Jean-Claude Juncker: Im Vorfeld der G-20-Sitzung in Pittsburgh, wo sich etwa 85 Prozent des weltweiten BIP versammelt, sagten wir, dass regulierende Systeme für Banken greifen müssen, andernfalls die Länder Sanktionen anwenden können. Wir haben festgelegt, dass die nationalen Aufsichtsbehörden enger zusammenarbeiten müssen und dass weltweit kein Finanzprodukt von keinem Finanzakteur unkontrolliert sein darf. Das sind Normenvorgaben, zunächst von der EU und dann von der internationalen Gemeinschaft, die zu einer Moralisierung des Finanzgeschäftes und des Kreditwesens führen werden.

Télécran: Hierzulande haben die Menschen nur bemerkt, dass Luxemburg kein Bankgeheimnis mehr hat...

Jean-Claude Juncker: Die Menschen sollten bitte zur Kenntnis nehmen, dass das Bankgeheimnis die Finanzkrise nicht ausgelöst hat, aber es hat seinen Teil dazu beigetragen. Nicht unbedingt die Art und Weise, wie wir es in Luxemburg angewandt haben, aber dass es hundert kleine Finanzplätze ohne jegliche Regeln auf der Welt gibt - das waren doch Häfen der Sünde! Da ziehe ich einen großen Bogen um Luxemburg, da wir eine gute Aufsichtsregelung hatten. Dass wir in Richtung eines Informationsaustauschs auf Anfrage gingen, war jedoch kein Schritt, den ich nicht bereits früher gewollt hätte und den ich heute bedauern würde.

Télécran: Im Vorfeld des letzten G-20-Gipfels stand Luxemburg mit dem Rücken zur Wand, ging es doch darum, in extremis zu verhindern, dass unser Land auf eine Graue Liste von Steuerparadiesen gesetzt würde. Wie fühlten Sie sich damals?

Jean-Claude Juncker: Ich war vorher auf einer Sitzung der Staats- und Regierungschefs der EU, und da wurde mir vom französischen Präsidenten und anderen versprochen, dass wir auf keine derartige Liste kommen würden, weil wir uns zur Anwendung der OECD-Standards bereit erklärt hatten. Die großen Länder der EU spielten ihre Rolle als Interessenverwalter der gesamten EU einfach nicht, was meinen heftigen Protest hervorrief. Aber das Problem ist ja mittlerweile gelöst. Mich stört vor allem, dass die Europäer gnadenlos von den Amerikanern untergebuttert werden, wenn es darum geht, ihre eigenen internen Steuerparadiese zu retten, wie Wyoming, Nevada oder Delaware. Das sind Steuerparadiese, deren Ausmaße wir uns überhaupt nicht vorstellen können.

Télécran: Wie steht es denn damit? Sind die nun trocken gelegt?

Jean-Claude Juncker: Da hat sich absolut nichts verändert.

Télécran: Was erwarten Sie diesbezüglich vom G-20?

Jean-Claude Juncker: Im Abschlussdokument der jüngsten EU-Sitzung steht, dass die vereinbarte Vorgehensweise gegen nicht kooperierende Gebiete umgehend verwirklicht wird. Ich gehe also davon aus, dass die Europäer mannhaftes Benehmen überkommt, die am Gipfeltreffen sitzen, um den Amerikanern dies deutlich zu machen.

Télécran: Und daran zweifeln Sie auch nicht?

Jean-Claude Juncker: Ich hege die allergrößten Zweifel, wenn ich diesen Wunsch ausdrücke.

Télécran: Bei ihrer jüngsten Sitzung konnte die EU sich nicht über die Einführung einer Börsenumsatzsteuer einigen. Was ist Ihre Meinung?

Jean-Claude Juncker: Im internationalen Finanzgeschäft brauchen wir Spekulationssteuern. Ihre volle Wirksamkeit können sie aber nur entfalten, wenn sie flächendeckend sind. Ich bin aber gar nicht dagegen, dass man in Europa eine Diskussion beginnt, um diese Steuer hier einzuführen, wenn andere Teile der Welt das nicht wollen. Ich weiß nicht, wie oft ein Luxemburger eine administrative Stempelmarke vom Enregistrement braucht - als Minister für administrative Vereinfachung werde ich die übrigens allesamt abschaffen. Wenn wir eine Marke brauchen, um mit dem Auto durch die Kontrollstation zu kommen, aber keine Steuern auf Börsengeschäfte zu zahlen sind, dann klappt doch etwas nicht. Aber wenn ich dies sage, bekommen die Banker Schweißausbrüche.

Télécran: Die Krise hat direkte Auswirkungen auf den Luxemburger Staatshaushalt. Bei welchen Steuereinnahmen gab es die höchsten Einbußen?

Jean-Claude Juncker: Bei der "taxe d'abonnement" und der Mehrwertsteuer. Die Steuerregression bis Ende August lag bei über 300 Millionen Euro. 2009 werden wir ein substantielles Finanzierungsproblem haben, 2010 ein substantielles Haushaltsdefizit. Dennoch muss das vereinbarte Konjunkturpaket weitergeführt werden, auch wenn dies das Haushaltsloch vergrößert. Die Konjunktur könnte einbrechen, wenn man zu früh bei den Konjunkturpaketen sparen würde. Das bringt mit sich, dass wir in Luxemburg das größte Haushaltsloch bekommen, das wir je hatten.

Télécran: Wenn die Banken wieder Gewinn machen, müsste die "taxe d'abonnement" ja wieder fließen. Ist nicht trotzdem mit höheren Einnahmen zu rechnen?

Jean-Claude Juncker: Diese Steuer bezieht sich nicht ausschließlich auf die Banken, sondern wächst mit der Intensität der Börsenaktivität. Ich gehe davon aus, dass sie erheblich unter dem Wert der Vorjahre liegt. Aber sie wird möglicherweise über dem Wert liegen, von dem wir momentan ausgehen. Ich habe immer davor gewarnt, Steuerpolitik ausschließlich auf Einnahmen aus dem Bankgeschäft oder dem Tanktourismus aufzubauen. In den kommenden Monaten werden wir die Gelegenheit bekommen, intensiv mit den Sozialpartnern und anderen über Einsparungen im Haushalt zu diskutieren.

Télécran: Wird Luxemburg sich langfristig auf das Wohlstandsniveau der Nachbarländer einpendeln müssen?

Jean-Claude Juncker: 2010 wird unser BIP unter dem von 2007 liegen. Allein 2009 verlieren wir vier Prozent unserer Wirtschaftskraft. Konkret heißt das, dass wir, die mit großen Schritten vorwärts liefen, uns an Trippelschritte gewöhnen müssen.

Télécran: Und ihre eigene Zukunft? Wären Sie Kandidat für den Posten des ersten EU-Präsidenten?

Jean-Claude Juncker: Für einen derartigen Posten kann man überhaupt nicht Kandidat sein. Denn wäre man es, würde man überhaupt nicht in Betracht gezogen. Angesichts der Heftigkeit der Auseinandersetzungen, die ich aus luxemburgischen Verteidigungsgründen in den vergangenen Monaten mit den großen Ländern in der EU geführt habe, würde ich meinen, dass so eine Kandidatur, würde sie von anderen vorgebracht werden, nicht auf spontane Zustimmung stoßen würde.

Télécran: Sie rechnen sich also momentan keine großen Chancen aus?

Jean-Claude Juncker: Es ist keine Frage von Chanceneinteilung. Es ist die Frage, ob man in einem bestimmten Moment der nationalen Biografie und der europäischen Notwendigkeit europäische Aufgaben übernimmt. Ich bin ja sehr zufrieden hier in Luxemburg, ich habe für meine Partei und auch persönlich ein Wahlresultat erzielt, das andere auch gerne gehabt hätten. Ich habe also keinen Grund, Fahnenflucht zu begehen. Ich habe den Luxemburgern 2004 erklärt, als ich Kommissionspräsident hätte werden können, dass ich gerne Staatsminister in Luxemburg bleiben würde, wenn sie mich dann wählen würden. Das habe ich diesmal nicht getan. Aber ich sitze nachts nicht schweißgebadet im Bett und stelle mir die Frage, ob ich erster EU-Präsident werde oder nicht. Ich warte ab, schätze die Chancen aber als relativ gering ein, würde ich den Posten denn wollen was ich noch überhaupt nicht weiß, weil ich nicht weiß, wie das Profil für diesen Job aussieht. Es gibt eine Reihe von Kollegen, die mir nicht spontan verzeihen, dass ich ihnen in den letzten Monaten aus der Luxemburger Interessenslage heraus heftig widersprochen habe. So dass ich mich mit dieser Frage eigentlich weniger beschäftige, als ich es ohne diese Kontroversen mit den großen Nachbarländern getan hätte.

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