Handelsblatt: Herr Ministerpräsident, werden die EU-Regierungschefs am Donnerstag entscheiden, wer der erste Ratspräsident der Europäischen Union wird?
Jean-Claude Juncker: Das ist nicht ausgeschlossen, sofern der tschechische Präsident Klaus bis dahin verspricht, den Lissabon-Vertrag schnell zu unterschreiben. Ich rate allerdings davon ab, die Entscheidung übers Knie zu brechen. Wir müssen erst über den Aufgabenzuschnitt der neuen Ämter reden.
Handelsblatt: Wie soll der aussehen?
Jean-Claude Juncker: Der Hohe Repräsentant für Außenpolitik muss der europäischen Diplomatie seine Handschrift geben. Die EU-Kommission bleibt für Themen wie Handelspolitik voll zuständig, was der Kommissionschef zu vertreten hat. Beide dürfen nichts tun ohne den Ratspräsidenten. Deshalb müssen die drei sich täglich beraten. Dabei entsteht dann der Stoff, aus dem die europäische Politik gemacht wird.
Handelsblatt:Wie harmonisch muss es dabei zugehen?
Jean-Claude Juncker: Kontroverse Diskussionen müssen sein. Doch der Ratspräsident darf nicht zum systematischen Gegenspieler des Kommissionspräsidenten werden. Falls es zu einem Laufsteg-Wettbewerb zwischen Ratspräsident, Kommissionschef und Hohem Beauftragten kommt, dann würden wir den europäischen Karren sehr schnell an die Wand fahren.
Handelsblatt: Angenommen, Sie würden die Stelle des Ratspräsidenten ausschreiben: Welche Voraussetzungen würden Sie vom idealen Bewerber verlangen? Muss er aus einem kleinen Land kommen?
Jean-Claude Juncker: Ja. Das haben die kleinen EU-Staaten damals gefordert, als das Amt des Ratspräsidenten geschaffen wurde. Leider kann sich daran heute außer mir kaum noch jemand erinnern. Ich bin ja im Europäischen Rat der letzte Überlebende aus dieser Zeit.
Handelsblatt: Muss der Kandidat aus einem Land kommen, das der Euro-Zone und dem Schengen-Raum angehört?
Jean-Claude Juncker: Ja.
Handelsblatt: Damit würden alle Osteuropäer sowie Iren und Briten ausscheiden - also auch der immer wieder als Kandidat ins Spiel gebrachte britische Ex-Premier Tony Blair.
Jean-Claude Juncker: Ich formuliere die Anforderungen an den Ratspräsidenten nicht national, sondern prinzipiell.
Handelsblatt: Muss der Ratspräsident aus einem Land kommen, das die Integration der Europäischen Union stets befördert hat?
Jean-Claude Juncker: Die fragliche Person muss einen einwandfreien europäischen Lebenslaufvorweisen können.
Handelsblatt: Der Niederländer Jan-Peter Balkenende kann das nicht. Denn er trug dazu bei, die europäischen Symbole aus dem EU-Reformvertrag zu streichen. Doch Sie selbst würden alle Kriterien erfüllen. Wie steht es um Ihre Ambitionen?
Jean-Claude Juncker: Ich interessiere mich für das Amt, will es aber nicht um jeden Preis. Wenn man mich bittet, würde ich mich nicht grundsätzlich verweigern. Als Präsident eines Minimal-Europas stehe ich aber nicht zur Verfügung. Der EU-Reformvertrag von Lissabon nützt gar nichts, wenn die handelnden Personen die Möglichkeiten des Vertrages nicht wirklich nutzen wollen. Anders formuliert: Der Ratspräsident und der Hohe Beauftragte für Außenpolitik können die Europäische Union nur dann stark machen, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten das auch wirklich wollen.
Handelsblatt: Und wollen die Regierungschefs der EU das?
Jean-Claude Juncker: Diese Frage kann ich nicht mit einem spontanen Ja beantworten.
Handelsblatt: Das klingt ernüchtert.
Jean-Claude Juncker: Nein. Ich will damit sagen, dass es in der Welt eine große Nachfrage nach Europa gibt. Wir stehen am Scheideweg. Wenn sich die EU intern festigt, dann kann sie nach außen große Wirkung entfalten. Dann können wir unser Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weltweit zum Gelingen bringen. Die EU würde zum Glücksfall nicht nur für sich selbst, sondern für die Welt. Doch wenn wir uns in innereuropäischer Taktiererei verhaken, dann wird es ganz anders kommen. Wenn wir in Eurozentrismus versinken, dann wird Europa in zehn Jahren in der Welt leider keine Rolle mehr spielen.