"Es gibt Themen, die wichtiger sind als die Rente"

Interview mit Luc Frieden im Luxemburger Wort

Interview: Luxemburger Wort (Thomas Klein, Nadine Schartz)

Luxemburger Wort: Die Sozialrunden wurden ohne Einigung abgeschlossen. Nun kritisieren die Gewerkschaften, dass Sie Entscheidungen vorbereitet und Fakten geschaffen haben. Wie legitim ist die se Kritik?

Luc Frieden: : Wir haben über das schwierige Thema des Rentensystems diskutiert. Dabei wurde je doch zunehmend klarer, dass die Positionen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sehr weit auseinanderlagen und eine gemeinsame Lösung unmöglich war. Die Regierung hat sich bewegt. Wir haben zugehört. Wir haben nicht das durchgesetzt, was wir am Anfang geplant hatten, aber wir haben trotzdem Fortschritte erzielt. Wir haben zugehört, unsere Meinung überdacht und Kompromisse vorgelegt. Ich glaube, das ist ein Resultat des Sozialdialogs. Wenn ich ins Ausland oder in die Vergangenheit Luxemburgs blicke - etwa bei den Rentenreformen in den Jahren 1999 und 2012 -, dann ist es sehr schwierig, bei diesem Thema eine Einigung mit den Sozialpartnern zu finden.

Luxemburger Wort: Hatten Sie gehofft, dass nach den Sozialrunden Ruhe einkehren und sich das Verhältnis zu den Gewerkschaften verbessern würde?

Luc Frieden: Ich bin der Meinung, dass wir mit den Sozialpartnern stets im Dialog stehen sollten. Ich bin davon überzeugt, dass das auch in Zukunft möglich sein wird. Es gibt viele Themen, die wir mit den Sozialpartnern diskutieren müssen. Und sie scheinen auch bereit zu bilateralen Gesprächen zu sein. Wir werden also weiter zuhören. Unser Ziel ist es, Strukturreformen in Luxemburg zu machen, die Wirtschaft und den Sozialstaat zu stärken sowie Armut zu be kämpfen. Wir müssen vorankommen und deshalb müssen wir dieses Thema jetzt ab schließen und den Blick nach vorn richten.

Luxemburger Wort: Die Tatsache, dass bei der Sozialrunde keine Einigung erzielt wurde, wurde kritisiert. War um haben Sie nicht weiterverhandelt?

Luc Frieden: Weil wir gemerkt haben, dass es überhaupt keinen Fortschritt bei einigen fundamentalen Punkten gab. Zum Beispiel haben die Gewerkschaften gefordert, die Anpassungen am Ajustement, wie sie das Gesetz von 2012 vorsieht, zurückzuziehen. Die Arbeitgeberseite hingegen stellte sich gegen jede Beitragserhöhung. Das heißt, es gab einige Punkte, bei denen eine gemeinsame Lösung einfach nicht möglich war. Nach drei Runden und vielen bilateralen Gesprächen wurde klar: Auch weitere Sitzungen hätten keinen Fortschritt gebracht. Und deshalb haben wir beschlossen, dass es jetzt an der Zeit wäre, mit unseren Kompromissvorschlägen ins Parlament zu gehen.

Luxemburger Wort: Verstehen Sie die Wut der Gewerkschaften oder halten Sie das für strategisches Spektakel, um Konzessionen herauszuhandeln?

Luc Frieden: Ich kann nicht für die Gewerkschaften sprechen, ich kann nur für die Regierung sprechen. Wir sind weiterhin interessiert am Sozialdialog. Kritik gehört zur Demokratie.

Luxemburger Wort: Sie haben sich die drei zentralen Reformvorhaben Rente, Sonntagsarbeit und Arbeitszei ten gleichzeitig vorgenommen. Die Rentenreform ist dringlicher als die beiden anderen. War es vielleicht zu viel, alle drei Reformen gleichzeitig in Angriff zu nehmen?

Luc Frieden: Es ist klar, dass die drei Themen nicht direkt miteinander verbunden sind. Am wichtigsten war ganz sicher die Rentenreform, weshalb ich froh bin, dass wir dabei ein Stück weitergekommen sind. Es handelt sich um eine strukturelle Re form, auch wenn sie nicht so weit geht, wie die Regierung sie anfangs geplant hatte. Dass wir drei sehr unterschiedliche Themen miteinander behandelt haben, war aber, glaube ich, kein Problem.

Luxemburger Wort: Weshalb wollten Sie denn nicht auf das Tripartite-Format umsteigen?

Luc Frieden: Wir befinden uns nicht in einer Krisenlösung. Bei der Corona-Pandemie oder der Stahlkrise ging es darum, kurzfristige Proble me zu lösen und Schaden von den Menschen abzuwenden. Beim Rentensystem hingegen geht es darum, eine dauerhafte Lösung zu fin den, damit die Menschen - und vor allem die junge Generation - auch in Zukunft eine Rente erhalten. Das ist ein Thema, das nicht zum Kriseninstrument Tripartite gehört. Deshalb habe ich gesagt, dass wir keine Tripartite einberufen werden.

Luxemburger Wort: Sie haben bereits angesprochen, dass Sie Kompromisse eingegangen sind. Die große Reform wurde nun auf das Jahr 2030 vertagt. Ist das angesichts der Dringlichkeit dieses Dossiers nicht trotzdem ein Rückschritt?

Luc Frieden: Wir hätten gerne noch mehr gemacht, aber das war nicht möglich. Interessant finde ich, dass vor drei Monaten jeder sagte, die Vorschläge würden zu weit gehen, und jetzt sagen die Leute, dass diese nicht weit genug gehen. Ich bin der Meinung, dass sich die Politik in jeder Legislaturperiode mit diesem Thema befassen muss - auch, weil die wirtschaftliche Entwicklung sehr schwer vorauszusehen ist. In dem aktuellen, schwierigen geopolitischen Kontext gilt das umso mehr. Niemand kann genau sagen, wie sich die Wirtschaft von 2025 bis 2030 entwickeln wird. Wir setzen uns in Europa und in Luxemburg mit Nachdruck dafür ein, dass die Wirt schaft wieder wächst und Arbeitsplätze geschaffen werden. Denn würden diese nicht geschaffen, würde das Rentenproblem noch größer.

Luxemburger Wort: Können Sie die Enttäuschung von manchen Jugendvertretern verstehen, die sagen, die Jungen werden bei der Rentenreform unverhältnismäßig stark belastet?

Luc Frieden: Ich möchte in den nächsten Monaten das Gespräch mit den Jugendlichen suchen. Ich hatte Diskussionen mit vielen jungen Leuten, die sehr wohl wissen, dass das System, das vor Jahrzehnten aufgebaut wurde, heute nicht mehr zukunftstauglich ist. Die Leute werden heute viel älter als früher. Also ist die Zeit, in der die Rente ausbezahlt wird, natürlich auch viel länger. Und ich glaube nicht, dass die Reform auf dem Rücken der Jungen gemacht wird, im Gegenteil. Ich glaube, es geht uns eben um die Jugendlichen, damit die auch in Zukunft eine Rente bekommen. 

Luxemburger Wort: Da das Rentensystem nun in drei, vier oder fünf Jahren noch einmal reformiert werden muss, ist auch klar, dass es das beherrschende Thema des nächsten Wahlkampfs sein wird. Kommt es Ihnen entgegen, dass die anderen Parteien sich damit auch aus der Deckung wagen müssen, wie sie eine Reform angehen wollen?

Luc Frieden: Ich glaube nicht, dass der nächste Wahl kampf sich prioritär um das Rententhema drehen wird. Es gibt viele andere Themen, an denen die Regierung hart arbeitet, die noch wichtiger sind als die Rente: wirtschaftliche und soziale Entwicklung, er neuerbare Energien, Armutsbekämpfung, Gesundheitsreform, Wohnungsbau.

Luxemburger Wort: Bei der Gesundheitskasse hat man ein ähnlich gelagertes Finanzproblem, das auch da her kommt, dass die Beschäftigung langsamer wächst. Wie gehen Sie das an, damit das nicht so konfliktreich verläuft?

Luc Frieden: Ich möchte diesen Diskussionen nicht vorgreifen. Die Sozialpartner und die Regierung sind im Gespräch. Und ich möchte also abwarten, was die Sozialpartner zusammen mit der Ministerin für soziale Sicherheit und dem Finanzminister da auf den Tisch legen werden. Ich begrüße die guten Diskussionen, die bislang dort gelaufen sind.

Luxemburger Wort: Sie haben die wirtschaftliche Entwicklung bereits angesprochen. Was kann Luxemburg noch tun, um der Wirtschaft in Zukunft auf die Sprünge zu helfen?

Luc Frieden: In den ersten beiden Jahren der aktuellen Regierung haben wir wieder ein Wachstum erreicht. Das war in den letzten beiden Jahren der vorigen Legislaturperiode nicht der Fall - damals gab es ein negatives Wachstum. Das hängt natürlich auch damit zusammen, was in den Nachbarstaaten passiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir kontinuierlich daran arbeiten, das Regelwerk nicht zu kompliziert zu gestalten. Das geschieht im Übrigen auch im Europäischen Rat. Ebenso wichtig ist es, die Besteuerung von Unternehmen und Privatpersonen im Blick zu behalten. Zur Mitte der Legislaturperiode wird es zu einer weiteren Senkung der Körperschaftssteuer kommen, damit Luxemburg attraktiv bleibt - auch im Vergleich zu anderen Staaten. Wir müssen auch weiterhin in erneuerbare Energien investieren, da die Energie preise für viele Unternehmen ein enormer Kostenfaktor sind. Der Ausbau der Aktivitätszonen gehört ebenso dazu. Es gibt mit Sicherheit einige Bereiche, in denen wir noch Verbesserungsbedarf haben.

Luxemburger Wort: Wie die Öffnungszeiten im Handel?

Luc Frieden: Die Diskussion über die Öffnungszeiten des Handels sollte auch sicherstellen, dass sie im Wettbewerb mit dem Ausland und Online-Plattformen überleben können. Die Vorschläge, die Öffnungszeiten zu verlängern, dienen dazu, sich dem Ausland anzupassen. In einem kleinen Land wie Luxemburg ist es schließlich wichtig, den Überblick über das Geschehen in Europa zu behalten.

Luxemburger Wort: Zur Außenpolitik: Die Provokationen Russlands gegenüber NATO-Staaten nehmen zu. Jüngste Beispiele hierfür sind die Drohnenangriffe in Richtung Polen und Rumänien. Was muss jetzt geschehen, um Russland in die Schranken zu weisen, ohne die Situation eskalieren zu lassen?

Luc Frieden: Europa muss zeigen, dass es diese inakzeptable Politik Russlands nicht hinnimmt. Das geht nur durch eine Politik der Stärke. Dazu gehören natürlich Sanktionen, aber auch eine Verteidigung, die zeigt, dass wir den Russen keine Chance geben, uns anzugreifen. Wenn Drohnen über Polen abgeschossen werden, zeigt das, dass die NATO und unsere Verbündeten unser Territorium verteidigen können. Wir sehen, dass Russland nicht friedensbereit ist. Russland zeigt keine Anzeichen, auf uns zuzugehen. Deshalb müssen wir uns leider auch sehr viel mit Verteidigungsausgaben sowie Verteidigungs- und Sicherheitspolitik, darunter auch Cybersicherheit, beschäftigen. Denn die internationale Lage, bedingt durch den schrecklichen Krieg in der Ukraine, ist sehr gefährlich. Etwas Positives an den aktuellen Entwicklungen ist, dass die Europäer und Länder wie Amerika näher aneinandergerückt sind.

Luxemburger Wort: Sie haben am Montag in der Kommission gesagt, dass Sie bereit sind, Palästina als Staat anzuerkennen. Was hat den Ausschlag gegeben für diese Entscheidung?

Luc Frieden: Die Situation im Nahen Osten ist dramatisch. Wir sehen das jeden Tag an den Bildern aus Gaza. Dabei rückt die Zweistaatenlösung in die Ferne. Premierminis er Netanjahu hat öffentlich gesagt, dass es keinen Platz gibt für einen palästinensischen Staat. Die Terrororganisation Hamas hat auch gesagt, dass sie nicht an einer Zweistaatenlösung interessiert ist. Wir wollen Frieden und Stabilität für Israel und wir wollen Frieden und Stabilität für die Palästinenser. Und deshalb haben wir nach reiflicher Überlegung gesagt, dass es jetzt wichtig ist, dass wir zusammen mit anderen eine öffentliche Erklärung abgeben, dass wir dem palästinensischen Staat im Rahmen einer Zweistaatenlösung eine Existenzmöglichkeit geben. Wir werden das zusammen mit einigen Nachbarstaaten wie Belgien und Frankreich, aber auch mit anderen Staaten wie Kanada, Australien und Großbritannien nächste Woche in New York machen. Wir bleiben Freunde von Israel und des israelischen Volkes. Aber wir können nicht zulassen, dass eine Regierung die Zweistaatenlösung, an der wir seit Jahrzehnten arbeiten, einfach aufgibt. Und zu gleich darf die Hamas als Terrororganisation in einem zukünftigen palästinensischen Stadt nicht das Sagen haben.

Luxemburger Wort: Der US-Präsident hat angedroht, Staaten, die den Schritt gehen, zu sanktionieren. Befürchten Sie negative Auswirkungen auf den Finanzplatz?

Luc Frieden: Wir müssen unsere Außenpolitik mit unseren europäischen Freunden besprechen. Ich stelle fest, dass einige europäische Staaten Palästina schon anerkannt haben und trotzdem die Beziehungen zu Amerika gut blieb.

Luxemburger Wort: Kommissionspräsidentin von der Leyen ver langte vergangene Woche ein Aussetzen der bilateralen Unterstützung für Israel und Sanktionen gegen Einzelpersonen. Unterstützen Sie das? Was wird Luxemburg hier tun?

Luc Frieden: Wir müssen das immer auf europäischer Ebene machen. Wir müssen das mit unseren Partnern machen, sonst hat das wenig Sinn. Für uns ist es wichtig, dass jede Handlung, die wir beschließen, nicht gegen Israel gerichtet ist, sondern gegen die Politik der israelischen Regierung, die in unseren Augen Regeln des internationalen Rechts verletzt hat. Dass es dazu auch zu europäischen Sanktionen kommen kann, findet auch unsere Unterstützung.