„Ein Schatten liegt über Griechenland“, Jean-Claude Juncker au sujet de la crise de la dette publique dans la zone euro et de la situation en Grèce

Handelsblatt: Herr Premierminister, die Welt schaut wieder einmal nach Davos. Wie fanden Sie die Eröffnungsrede der Bundeskanzlerin?

Jean-Claude Juncker: Sie war überraschungsfrei und trotzdem nützlich. In Davos treffen sich viele Nichteuropäer, die genüsslich unsere Kontroversen außerhalb Europas ausbreiten. Es ist hilfreich, sie zu belehren, was in Europa alles geht.

Handelsblatt: Die einen loben Merkel als Fels in der Brandung, die anderen werfen ihr vor, sie zeige in der Krise nicht genügend Führung. Was meinen Sie?

Jean-Claude Juncker: Frau Merkel wird ihrer Rolle in Europa gerecht. Sie hat erhebliches Gewicht, weil Deutschland das finanzstärkste Land in der Euro-Zone ist und weil die deutsche Volkswirtschaft sich bisher meisterhaft durch die Krise bewegt. Ich wehre mich allerdings gegen den Eindruck, dass die ganze EU sich ständig im deutsch-französischen Maschinenraum zusammenrotten würde.

Handelsblatt: Stimmt es nicht, dass die Euro-Zone den deutsch-französischen Initiativen immer folgt?

Jean-Claude Juncker: In der Öffentlichkeit entsteht dieser Eindruck. Jeder, der die Innereien der Währungsunion kennt, weiß aber, dass Merkel und Sarkozy öfter Vorschläge als neu verkaufen, die in Wahrheit längst in der Euro-Gruppe beschlossen wurden.

Handelsblatt: Sind Sie darüber verärgert?

Jean-Claude Juncker: Ich gehöre nicht zu den Klageweibern im Kreise der kleineren Staaten.

Eins gefällt mir allerdings nicht: Deutschland tut so, als ob es die Haushaltsorthodoxie ständig gegen die kleineren Sünder rundherum verteidigen müsste. In der EU haben aber 17 von 27 Ländern weniger Schulden als Deutschland.

Handelsblatt: Deutschland geht aber die größten finanziellen Risiken ein mit einem Anteil von 27 Prozent am Rettungsschirm.

Jean-Claude Juncker: Luxemburg zahlt pro Kopf mehr in den Kapitalstock des Europäischen Stabilitätsmechanismus ein als die Deutschen. Ich bin froh, dass die Luxemburger das noch nicht gemerkt haben.

Handelsblatt: Trotzdem warnt Merkel davor, Deutschland zu überfordern.

Jean-Claude Juncker: Damit hat sie recht, doch das gilt auch für andere Euro-Staaten

Handelsblatt: ... für alle mit Triple A?

Jean-Claude Juncker: Diese Gruppe ist ja mittlerweile relativ übersichtlich. Weltweit gibt es nur noch 13 Länder und in der Euro-Zone noch vier mit Topnote. Es stimmt, dass sich diese Länder nicht zu generösen Gesten hinreißen lassen dürfen. Solidarität funktioniert nicht ohne Solidität. Ich bin sehr dafür, Solidarleistungen auszuweiten. Aber zugleich dürfen die Anstrengungen zur Haushaltskonsolidierung nicht erlahmen.

Handelsblatt: Besteht diese Gefahr?

Jean-Claude Juncker: In Spanien, Portugal, Italien und anderen problembehafteten Staaten nicht. Diese Länder sind keineswegs untätig.

Handelsblatt: Doch Griechenland ist aus der Spur. Was heißt das eigentlich?

Jean-Claude Juncker: Das Haushaltsdefizit ist 2011 höher als geplant. Die neue Regierung strengt sich zwar an, doch die Strukturreformen kommen zu langsam voran. Erst am Montag ist ein wichtiges Reformgesetz im Parlament gescheitert. Vereinzelte Lobbys sind immer noch stärker als denkbare parlamentarische Mehrheiten. Das wirft einen Schatten auf Griechenland.

Handelsblatt: Ist Premier Papademos zu schwach?

Jean-Claude Juncker: Papademos ist ein ausgesprochener Glücksfall. Ich wünsche mir, dass ihm die relevanten Parteien keine weiteren Steine in den Weg legen. Die Chefs der drei führenden Parteien müssen wieder eine Reformvereinbarung unterschreiben, bevor wir ein neues Kreditpaket für Griechenland verabschieden.

Handelsbtatt: Ist das zwingend notwendig?

Jean-Claude Juncker: Ja.

Handelsblatt: Wieso sollten sich Reformblockierer wie Antonis Samaras darauf einlassen. Die Euro-Zone kann Griechenland schließlich nicht aus der Währungsunion hinauswerfen.

Jean-Claude Juncker: Nein. Aber Griechenland steht ständig unter massivem Druck. Alle äußern sich permanent negativ über die Causa Greca. Kein Land hält es aus, pausenlos am Pranger zu stehen.

Handelsblatt: Deshalb wird Griechenland die Euro-Zone vielleicht doch verlassen?

Jean-Claude Juncker: Das ist die freie Entscheidung Griechenlands. Den Willen dazu kann ich dort allerdings nicht erkennen.

Handelsblatt: Wie lange wird das Land noch am Tropf der Euro-Zone hängen? Zehn Jahre?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass dieser Zeitraum ausreicht. Der Anpassungsprozess dauert sehr lange.

Handelsblatt: Und die Gläubiger Griechenlands? Können Sie ewig weiterpokern?

Jean-Claude Juncker: Die Banken müssen sich bewegen. Das jetzt vorliegende Angebot reicht nicht aus, um die Staatsverschuldung bis 2020 auf 120 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt zu senken.

Handelsblatt: Müssen sich alle Gläubiger Griechenlands an dem Hair-Cut beteiligen, notfalls auch über rückwirkende Collective Action Clauses?

Jean-Claude Juncker: Ja.

Handelsblatt: Auch die EZB?

Jean-Claude Juncker: Ich halte sehr wenig davon, der EZB Anweisungen zu geben. Sie muss wissen, was sie tut, und sie wird es tun.

Handelsblatt: Sollten nicht auch die Euro-Staaten Griechenland Schulden erlassen, damit das Land eine neue Startchance bekommt?

Jean-Claude Juncker: Ich halte keinen der von Ihnen vorgetragenen Lösungsvorschläge für völlig absurd. Es wäre aber absurd, sie jetzt öffentlich zu kommentieren.

Handelsblatt: Nicht nur Griechenland, sondern auch andere Euro-Staaten stecken tief in der Rezession. Spart sich die Euro-Zone kaputt?

Jean-Claude Juncker: Als die Finanzkrise über den Atlantik zu uns kam, wurden wir aufgefordert, die nachlassende private Nachfrage durch öffentliche Nachfrage zu ersetzen. Notgedrungen mussten wir dafür Schulden machen. Damals haben alle Gurus dieser Welt kritisiert, dass wir die Defizite aus dem Ruder laufen lassen. Dieselben Gurus werfen uns jetzt vor, dass wir mit dem Sparkurs die wirtschaftliche Erholung gefährden.

Handelsblatt: Die drohende Rezession hat der Euro-Zone noch schlechtere Bonitätsnoten eingebracht. Verstehen die Ratingagenturen die europäische Politik nicht?

Jean-Claude Juncker: Nein, was teils an den Agenturen, teils aber auch an uns liegt.

Handelsblatt: Die Zeit für Selbstkritik ist gekommen?

Jean-Claude Juncker: Die kontroverse Debatte in Europa klang schon manchmal wie ein Panikorchester. Das wird in Asien und andernorts falsch verstanden. Seit Ausbruch der Krise ist die EU zwar so beherzt vorgegangen wie nie zuvor. Trotzdem war vieles zu zaghaft.

Handelsblatt: Was denn?

Jean-Claude Juncker: Zum Beispiel hatten wir in der Euro-Gruppe schon letztes Jahr beschlossen, das Kapital in den Rettungsfonds sofort einzuzahlen. Doch die Regierungschefs entschieden sich dann für eine Ratenzahlung über fünf Jahre. Nun wird das wieder zurückgenommen.

Handelsblatt: Werden die 80 Milliarden Euro nun auf einen Schlag eingezahlt?

Jean-Claude Juncker: Nein, aber schneller. Wobei es nicht sein kann, dass Deutschland in Vorleistung geht. Alle müssen ihren Anteil zeitgleich einzahlen.

Handelsblatt: Der Rettungsschirm hilft aber nichts gegen die Rezession. Was kann die Euro-Zone dagegen tun?

Jean-Claude Juncker: Die Haushaltskonsolidierung ist nationale Aufgabe, Wachstumspolitik hingegen eine europäische Angelegenheit. Die EU-Kommission muss darüber intensiv nachdenken. Ich erwarte, dass die Kommission eine Wachstumstrategie für die nächsten fünfJahre vorlegt.

Handelsblatt: Die Lissabon-Strategie erwies sich als Lachnummer. Wieso soll es mit der nächsten Strategie anders sein?

Jean-Claude Juncker: Die Zweifel kann ich nachempfinden. Doch der Druck wächst, nicht nur zu sparen, sondern auch neue Wachstumsimpulse zu setzen. Die Kommission hätte eigentlich schon vor dem Gipfel am Montag Vorschläge dazu machen müssen. Und alle, die viel über Wirtschaftsregierung reden, müssen die jetzt auch mal mit Leben füllen.

Handelsblatt: Was heißt das?

Jean-Claude Juncker: Wenn ein Land größere Reformen unternimmt, muss es sich in der Euro-Gruppe nach den Auswirkungen auf die anderen fragen lassen. Wenn Frankreich zum Beispiel eine soziale Mehrwertsteuer einführt, müssen die Effekte auf andere Volkswirtschaften vorher in der Euro-Gruppe besprochen werden.

Handelsblatt: Zum Schluss eine persönliche Frage: Werden Sie im Herbst noch Vorsitzender der Euro-Gruppe sein?

Jean-Claude Juncker: Die Führug der EuroGruppe ist ein aufreibender Job, der aus-einer Unmenge Gesprächen und Telefonaten besteht. Es liegt nicht im Spektrum meiner Ambitionen, dieses Amt weiterzuführen. Aber man muss jemanden finden, der es machen kann und will.

Handelsblatt: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für dieses Interview.

Membre du gouvernement

JUNCKER Jean-Claude

Organisation

Ministère d'État

Date de l'événement

27.01.2012

Type(s)

gouv:tags_type_event/interview