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Jean-Claude Juncker au sujet de l'intégration européenne et de la crise de la dette publique dans la zone euro et de l'avenir de l'euro
Wolfgang Bergsdorf: Jedermann kann sich vorstellen, dass die Funktion des Chefs der Eurogruppe in der europäischen Finanz- und Staatsschuldenkrise nicht vergnügungssteuerpflichtig ist. Eine solche Feststellung bedarf keiner Fantasie, aber ist es nicht ein bedrohliches Zeichen für die Zukunft des Euro, wenn der erfahrene, mit allen Aspekten und Dimensionen der Krise vertraute Kapitän nun die Brücke verlässt?
Jean-Claude Juncker: Ich habe nicht den Eindruck, alleiniger Kapitän an Bord zu sein, und ich habe auch nicht den Eindruck, die Brücke nun im Sturm zu verlassen. Die Intensität der Arbeit des Eurogruppen-Vorsitzenden hat sich während der Finanz- und Wirtschaftskrise maximal gesteigert. Man kann die Eurogruppe quasi nicht im Nebenjob neben der eigentlichen Arbeit eines Premierministers führen. Nun bin ich Premierminister von Luxemburg, das ist zwar nicht vergleichbar mit der Arbeit der deutschen Kanzlerin, aber es ist genauso aufwendig und zeitintensiv. Es fehlt mir also an Zeit. Weil es mir an Zeit fehlt und daher auch an der Möglichkeit, allen so lange zuzuhören, wie sie es an und für sich gern hätten, dass man ihnen zuhört, deshalb ist nach sieben Jahren, nach all den Irrungen und Wirrungen, die Zeit gekommen, den Stabwechsel zu programmieren.
Wolfgang Bergsdorf: Wäre es dann nicht sinnvoll, dass man diesen Job hauptamtlich macht?
Jean-Claude Juncker: Ich habe das vorgeschlagen. Der Europäische Rat hat in einer seiner vielen, nicht mehr zu zählenden Schlussfolgerungen festgelegt, die Antwort auf die Frage, ob der Eurovorsitz hauptamtlich oder eben nicht hauptamtlich besetzt werden soll, auf später zu verschieben. Mein Eindruck ist, dass die Bereitschaft, den Eurogruppen-Vorsitz hauptamtlich zu besetzen, gegen null tendiert.
Wolfgang Bergsdorf: Die EU-Hilfe für Griechenland scheint ja nun zu greifen. Die Ratingagentur Fitch hat die griechischen Staatsanleihen kürzlich mit B bewertet, also besser als zuvor. Ist Griechenland über den Berg, oder wird es notwendig oder sinnvoll sein, einen hauptamtlichen Aufbaukommissar für die Zusammenarbeit einzusetzen?
Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass man sich a priori oder apodiktisch festlegen oder feststellen kann, dass die Griechenlandkrise ausgestanden wäre. Dies hängt wesentlich davon ab, inwieweit die griechische Regierung, ein nur geringes Windaufkommen reicht, um die zerbrechliche griechische Konstruktion wieder ins Wanken zu bringen. Das griechische Parlament und die nachgeordneten griechischen Behörden die vereinbarten Programmpunkte eins zu eins umsetzen. Wenn das gelingt und wenn die Privatgläubigerbeteiligung so wie verabredet maximal greift, dann erscheint die griechische Schuldentragfähigkeit besser gesichert, als dies noch vor Jahresfrist der Fall war. Aber auch ein nur geringes Windaufkommen reicht, um die zerbrechliche griechische Konstruktion wieder ins Wanken zu bringen. Weil Haushaltskonsolidierung allein nicht genügt und Griechenland auch Wachstumsimpulse benötigt, habe ich vorgeschlagen, ein Mitglied der Kommission erstrangig zuständig zu machen für die griechisch-europäische Wachstumsstrategie.
Der Kommissar soll nicht nach Athen entsandt werden, sondern in der Brüsseler Zentrale alle griechenlandrelevanten Zuständigkeiten bündeln. Er könnte mit Investoren reden, die nach Griechenland weiterzuvermitteln wären. Dieser Kommissar könnte dafür sorgen, dass die Griechenland zustehenden Strukturfondsmittel aufgrund festzulegender Investitionsprojekte abgerufen werden könnten. Aber sowohl der griechische Premierminister als auch der Kommissionspräsident haben diese Idee abschlägig beschieden, weil man in Griechenland dachte, wir würden eine weitere Prüfkommission nach Griechenland senden. Das war aber nicht die Absicht. Es reicht nicht, obwohl das optionslos richtig ist, nur der Haushaltskonsolidierung das Wort zu reden. Dies muss auf alle Fälle durchgeführt werden, man muss aber auch Wachstumspolitik organisieren.
Wolfgang Bergsdorf: Ist die Griechenland-Malaise nicht auch ein Beispiel dafür, dass eben ein Land unterbürokratisiert sein kann? Denn Bürokratie, wenn sie richtig funktioniert, bedeutet ja immer auch ein Mindestmaß an Gerechtigkeit und Gleichheit.
Jean-Claude Juncker: Über die griechische Bürokratie zerbreche ich mir fast täglich den Kopf. Es gibt in Griechenland rund 700 000 öffentlich Bedienstete plus einige 10000 andere im öffentlichen Dienst Beschäftigte, die sich nicht im Beamtenstand befinden. Es gibt also genug Leute an Bord, um die griechische Maschinerie am Laufen zu halten. Das Problem ist nicht, dass es nicht genügend Beamte gibt. Das Problem ist eher, dass es zu viele gibt und dass die innerverwaltungsmäßigen Zuständigkeiten nicht einwandfrei geklärt sind. Das ist das eigentliche Problem Griechenlands neben dem Haushaltsproblem.
Aber kann man beides trennen? Griechenland ist eine große Nation, der Europa viel verdankt, aber Griechenland ist auch ein sehr schwacher Staat. Worüber wir reden müssten, und deshalb auch der Vorschlag der Einsetzung dieses Wiederaufbaukommissars, ist das weite Feld der staatlichen Strukturen in Griechenland. Der griechische Staat funktioniert nicht, es gibt ihn in Griechenland ist eine große Nation, der Europa viel verdankt, aber Griechenland ist auch ein sehr schwacher Staat, in vielerlei Hinsicht. Es gibt kein Grundbuch in Griechenland. Die Steuerverwaltung funktioniert, wenn überhaupt, nur mit margmaler Effizienz. Notwendig ist also ein richtiges Aufbauprogramm effizienter staatlicher Strukturen in Griechenland. Daran mangelt es. Hinzu kommt das, auf allen Ebenen der griechischen Gesellschaft anzutreffende, breite Korruptionsphänomen, gegen das die jetzige Regierung energisch ankämpft. Wo es keinen Staat gibt, hat die Korruption freie Bahn.
Wolfgang Bergsdorf: Ist Griechenland nicht ein Beispiel dafür, dass die Geschichte nachwirkt, denn die osmanische Zugehörigkeit Griechenlands über Jahrhunderte hat dazu geführt, dass die Griechen den Staat als ihren Feind betrachten, den man betrügen und belügen muss?
Jean-Claude Juncker: Ich glaube, das ist die tiefer gehende Ursache für vieles, was Griechenland an Unbill und an Missgeschick eigentlich zugestoßen ist. Die Tatsache beispielsweise, dass Griechenland über kein Grundbuch verfügt, ist ein direktes Erbe des Ottomanischen Reiches. Nun sind die Türken ja schon geraume Zeit vom Peloponnes weg, und Griechenland ist Mitglied der Europäischen Union seit Beginn der 1980er-Jahre. Man hätte da vieles tun können, was Griechenland mehr in die Mitte europäischer Verwaltungstradition geführt hätte.
Dass dies alles nicht passiert ist, werte ich als Beleg dafür, dass wir in Europa viele Probleme haben, weil wir uns in völlig ungenügender Art und Weise füreinander interessieren.Das ist nicht nur ein Problem im Spannungsverhältnis Griechenland/ Eurogruppe, sondern das ist ein generelles Problem der Europäischen Union. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir doch zugeben, dass wir hier in unserem Teil der Europäischen Union relativ wenig über die Lebensverhältnisse im Norden Finnlands wissen, dass die Nordfinnen wenig Kenntnis haben über die Befindlichkeiten in Sizilien und dass wir hier im Benelux- und deutschen Raum nicht das notwendige Verständnis für die Zurückhaltung der baltischen Staaten haben, wenn es um das Neuerfinden der Beziehungen zwischen Europa und Russland geht. Wir wissen nicht genug übereinander. Würden wir uns mehr füreinander interessieren, dann wüssten wir auch genügend, um auf der Ebene der Europäischen Union zentrale Normen zu erlassen. Wir erlassen zentrale Normen, ohne die Befindlichkeiten vor Ort zu kennen, was wiederum zu einer Entfremdung zwischen Ländern, Regionen und der Europäischen Union führt.
Wolfgang Bergsdorf: Was sind eigentlich die Ursachen für die Krise? Ist es einfach Schlamperei oder mangelnde Transparenz des Finanzgeschehens in Europa, oder sind es auch mentale Unvereinbarkeiten, zum Beispiel zwischen Nord und Süd, Klein und Groß?
Jean-Claude Juncker: Alles davon ist richtig, aber die eigentliche Ursache der globalen Krise, in der wir uns befinden, ist das rücksichtslose Sich-Verabschieden von den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft. Diese verrückte Einstellung, der wir auch als Christdemokraten nicht energisch genug widersprochen haben, bestand darin, dass Geldgier und leicht verdientes Geld plötzlich als ernst zu nehmender Lebensentwurf galten und nicht die alte Erkenntnis vorherrschte, dass a) Wirtschaft in ihrer moralischen Tragfähigkeit sich an ihrer Allgemeinwohlorientierung messen muss und dass b) Wohlstand nur dann verdient ist, wenn er durch Arbeit entsteht.
Mich hat an Inseraten führender deutscher Banken immer sehr geärgert, dass es in ganzseitigen Anzeigen hieß: "Lassen Sie Ihr Geld über Nacht arbeiten." Man muss selbst arbeiten und sich nicht darauf verlassen, dass andere mit Geld arbeiten ohne dass man selbst zur Geldvermehrung beiträgt. So sind alle diese hoch komplizierten Finanzprodukte entstanden, die auch die Banker, die sie verwalteten, überhaupt nicht mehr überblickten. Ich wehre mich deshalb dagegen, jetzt unser Gesellschaftsmodell als zur Disposition stehend hinzunehmen.
Nicht die Soziale Marktwirtschaft versagt, sondern der Umgang mit dieser Ordnung, den wir unter dem Eindruck neoliberaler Entfesselungstheorien praktiziert haben, hat uns in die Krise geführt. Dazu kommt, dass in einigen hoch verschuldeten Staaten Europas sträflich ungenügend auf eine mustergültige Führung der Staatsfinanzen geachtet wurde. Allerdings gebietet es die vollständige Wahrheit hinzuzufügen, dass wir seit Eintritt in die Eurowirklichkeit in Sachen Konsolidierung der öffentlichen Finanzen relativ weit vorangekommen sind. Niemand kann sich heute noch daran erinnern, dass wir im Jahre 2007, also vor Beginn der Finanzkrise, ein durchschnittliches Flaushaltsdefizit in der Eurozone von nur 0,6 Prozent hatten, dass die Schuldenstände sich auf 65 Prozent des BIPs zubewegten, dass 2007 kein Euroland höhere Haushaltsdefizite als drei Prozent hatte und dass zehn Euroländer überschüssige Haushaltsabschlüsse vorlegen konnten. Dann mussten wir wegen des Schwächeanfalls der privaten Nachfrage dieselbe durch einen massiven Ausbau der öffentlichen Nachfrage stützen, die mit Haushaltsmitteln zu finanzieren war.
Diese budgetare Finanzierung der Konjunkturprogramme hat natürlich die Defizite verbreitert und die Schuldenstände wieder massiv ansteigen lassen. Jetzt sind wir dabei, die Defizite wieder zu verringern, die Schuldenstände sich nach unten bewegen zu lassen, was wiederum dazu führt, dass es Wachstumseintrübungen massivster Art vor allem in den hoch verschuldeten Staaten gibt. Aber die Frage war ja, wo der Ursprung zu suchen ist. Der Ursprung ist der Verrat an den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft.
Wolfgang Bergsdorf: Noch einmal zurück zur Aktualität: Auch Irland und Portugal bedurften der Hilfe durch die Europäische Union. Hat diese Hilfe das Ärgste endgültig abgewendet, oder kann man davon nicht sprechen?
Jean-Claude Juncker: Ich sehe Irland und Portugal auf einem Erfolg versprechenden Konsolidierungsweg, immer unter der Annahme, dass die vereinbarten Programme auch wirklich durchgeführt werden. Ich sehe keinen zusätzlichen Finanzierungsbedarf aus heutiger Sicht für Irland und Portugal. Wir haben eine Brandschutzmauer von immerhin achthundert Milliarden Euro errichtet und damit deutlich gemacht, dass wir zu sehr konsequenten Abwehrmaßnahmen bereit sind. Als jemand, der dreißig Jahre Politik in Europa mitzugestalten versucht, füge ich hinzu, dass ich nie eine Zeitspanne erlebt habe, innerhalb derer eine derartige Entscheidungsdichte angehäuft wurde wie in den letzten zwei Jahren. Ich habe den Eindruck, dass trotz mancher Irrungen und Wirrungen die Antwort, die wir auf die Krise formuliert haben, die denkbar beste war.
Wir haben zwei Vertragsänderungen gemacht, wir haben die Griechenlandhilfe verabredet, wir haben den europäischen Rettungsschirm EFSF in die Welt gesetzt, wir haben den dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus aus der Taufe gehoben, wir haben die Brandschutzmauer massiv erhöht, wir haben unser Verhältnis zum Internationalen Währungsfonds geklärt. Wir haben in vielerlei Hinsicht Ernst gemacht mit der Finanzmarktregulierung, obwohl wir noch nicht alles bewerkstelligen konnten, was bewerkstelligt werden muss. Insofern bin ich mit dem, was erreicht wurde, eigentlich nicht unzufrieden.
Wolfgang Bergsdorf: Im Augenblick sorgt man sich um Spanien und munkelt über Italien. Reichen die Rettungsschirme und Brandmauern aus, um notfalls diese beiden Länder auch zu schützen?
Jean-Claude Juncker: Nein.
Wolfgang Bergsdorf: Das heißt, wir müssen die Rettungsschirme erweitern.
Jean-Claude Juncker: Die Spanier und die Italiener müssen in ihren internen Entscheidungsabläufen für jedermann nachvollziehbar konsequent den Weg in Richtung endgültiger Konsolidierung ihrer Staatsfinanzen beschreiten. Konsolidierung beginnt zu Hause.
Wolfgang Bergsdorf: Kommt die Finanztransaktionssteuer, und wie wird sie sich auf die Verbesserung der Rahmenbedingungen für das europäische Finanzgeschehen auswirken?
Jean-Claude Juncker: Ich bin der Auffassung, dass wir eine stärkere steuerliche Belastung des Finanzsektors benötigen, damit dieser an den Kosten der Krisenbewältigung stärker beteiligt wird. Die Wirtschafts- und Finanzkrise wurde von unverantwortlichen Verhaltensweisen im Finanzsektor ausgelöst, und es ist deshalb vielen Bürgern absolut nicht mehr vermittelbar. Die Notwendigkeit der Zeit und empirische Erfahrungen vor Augen, müsste sich ein Belastungsinstrument für den Finanzsektor finden lassen, das diese Gerechtigkeitslücke schließt. Ob die Finanztransaktionssteuer so wie angedacht der einzig denkbare und ergo richtige Weg ist, zu diesem Ziel zu gelangen, weiß ich nicht. Ich bezweifle auch die Durchführbarkeit dieser Maßnahme, gegen die es sehr erheblichen Widerstand sowohl in der Eurozone als auch in der Europäischen Union gibt. Ich plädiere deshalb dafür, dass man ein anderes Belastungsinstrument wählt als die hoch umstrittene Finanztransaktionssteuer, die die Briten nicht wollen, die die Schweden eingeführt hatten und wieder abschaffen mussten, weil es zu einer totalen Delokalisierung schwedischer Finanzgeschäfte nach London kam. Die Notwendigkeit der Zeit und empirische Erfahrungen vor Augen, müsste sich ein Belastungsinstrument für den Finanzsektor finden lassen, das diese Gerechtigkeitslücke schließt. Diese empfinden viele Menschen, weil sie sehen, dass hierfür Steuermittel in Aufstellung gebracht werden und dass die Praxis der überhöhten Vergütungen der Boni ungehindert fortgeführt wird. Viele Finanzmarktakteure haben ferner aus der Krise und aus den gesellschaftlichen Folgen, die sich aus der Krise ergeben, nichts gelernt.
Wolfgang Bergsdorf: Was ist den Leuten zu sagen, die Angst haben um ihre Währung, um die Zukunft ihres Wohlstandes und glauben, dass die Europäische Union an allem Elend schuld ist?
Jean-Claude Juncker: Die Tatsache, dass viele Menschen denken, die Europäische Union und die gemeinsame Währung wären an vielen Elendsmerkmalen schuld, ist darauf zurückzuführen, dass viele Verantwortliche in den Mitgliedstaaten einen Erklärungsumgang mit der Europäischen Union haben, der einfach nicht korrekt ist. Man tut so, als gingen alle Verheißungen und alle guten Taten auf das innenpolitische Geschick führender Akteure zurück, als wäre alles, was schief und uneben scheint, durch die Europäische Union verschuldet.
Dieser Beschreibung, die auch zu manchen populistischen Ausuferungen Anlass gibt, entspricht das kollektive Wettern der europäischen Regierungschefs. Es gibt keinen Grund, darauf stolz zu sein. Hingegen wäre es angebrachter, wenn Regierungen erklären würden, dass in dieser Finanz- und Wirtschaftskrise der Euro eher ein Schutzwall denn eine Abwärtsspirale ist. Denn wären wir noch im alten Europäischen Währungssystem, dann wäre dieses total implodiert, dann hätten wir höhere Zinsen in vielen Ländern, hätte die D-Mark aufgewertet und die Südwährungen nach unten korrigiert werden müssen. Die siebzehn Mitglieder der Eurogruppe würden sich, wirtschaftspolitisch betrachtet, in absoluter Feindseligkeit gegenüberstehen. Jetzt haben wir eine gemeinsame Währung, Wäre es angebrachter, wenn Regierungen erklären würden, dass in dieser Finanz- und Wirtschaftskrise der Euro eher ein Schutzwall denn eine Abwärtsspirale ist. deren Innenwert sich positiv entwickelt hat. Wir haben seit der Euroeinführung eine durchschnittliche Jahresinfiation von 1,97 Prozent. Das hat die D-Mark zu ihren besten Zeiten nicht leisten können. Der Außenwert des Euro ist ja angesichts der Unruhe, die die Finanzmärkte beherrscht, und des Durcheinanders eher erstaunlich stabil. Man müsste jeden Tag einen Artikel schreiben, wie es denn am Tag vorher zugegangen wäre, wenn es den Euro nicht gäbe, und am Tag darauf zeigen, dass der Euro nach wie vor stabilisierend wirkt, die Ersparnisse schützt und deshalb auch den Wohlstand vieler in Europa besser absichert, als nationale Währungen dies je hätten tun können.
Wolfgang Bergsdorf: Deutschland ist bisher dank struktureller Reformen und dank der Konjunktur gut durch die Finanzkrise gekommen. War das das Glück der Tüchtigen oder der Erfolg kluger Führung?
Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht bereit, die deutsche Wirklichkeit anders zu beschreiben, als sie offiziell beschrieben wird.
Man könnte sie aber auch anders betrachten. Niemand weiß in Deutschland, dass Spanien eine niedrigere Staatsschuld hat als Deutschland. Niemand weiß in Deutschland, dass von den siebzehn Eurostaaten sieben eine niedrigere Staatsschuld haben als Deutschland. Niemand weiß in Deutschland, dass von den siebenundzwanzig EU-Staaten siebzehn eine niedrigere Staatsschuld als die Bundesrepublik haben. Niemand versteht deshalb in Deutschland, wieso die anderen manchmal irritiert auf deutsche Zurechtweisungen reagieren. Man nimmt in Deutschland nur ungenau zur Kenntnis, dass trotz unverkennbarer Strukturreformen, die vor allem in die Schröder-Ära zurückdatiert werden müssen, es dennoch einen sehr expandierenden Niedriglohnsektor gibt. Viele Arbeitnehmer in Deutschland wissen am Monatsende nicht, wie sie ihre Ausgaben bestreiten. Es gibt also Licht und Schatten.
Ich möchte mich nicht allzu sehr mit dem Schatten beschäftigen, sondern mit dem Licht, weil ich der Meinung bin, dass andere in Europa sich eher an dem Positiven des deutschen Umganges mit der Krise ausrichten sollten, als sich in die Meckerecke zurückzuziehen. Man wird sehen, wie die jüngsten Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, die Tarifabschlüsse in der Metallindustrie und in anderen Bereichen der deutschen Wirtschaft sich letztendlich auf die deutsche Wettbewerbsfähigkeit auswirken und welchen Einfluss diese Tarifabschlüsse auf die deutsche Exportwirtschaft haben werden. Ich bin der Meinung, dass das, was jetzt in Deutschland passiert, nämlich dass die Reallöhne wieder angehoben werden, dass dem Binnenkonsum größere Bedeutung zukommt als nur dem exportgetriebenen Anteil am deutschen Wirtschaftswachstum, sich insgesamt positiv für Deutschland und auch für die anderen Teile der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion auswirken wird.
Wolfgang Bergsdorf: Hat der bisherige Verlauf der Finanz- und Schuldenkrise eine Verlagerung der Macht von Brüssel zurück auf die Mitgliedstaaten bewirkt, wie kürzlich eine Schweizer Studie behauptet hat?
Jean-Claude Juncker: Das muss man nuanciert betrachten. Richtig ist, dass fast alle Instrumente, die wir zur Krisenabwehr ersonnen und aufgebaut haben, intergouvernementalen Zuschnittes sind. Diese Kriseninstrumente wurden innerhalb der Eurogruppe, innerhalb der Europäischen Union entwickelt, sind aber keine Instrumente der Europäischen Union bis hin zum Fiskalvertrag, der ja nicht ein Vertrag der Europäischen Tatsache ist, dass die Nationalstaaten wieder an Bedeutung gewonnen haben, und Tatsache ist, dass kein Nationalstaat mit eigenen Mitteln allein der Krise hatte standhalten können. Union, sondern ein Vertrag der unterzeichnenden fünfundzwanzig Mitgliedstaaten ist. Meine Hoffnung ist, dass alle diese Instrumente nach einigen Jahren in den Gemeinschaftsrahmen überführt werden können. Tatsache ist, dass die Nationalstaaten wieder an Bedeutung gewonnen haben, und Tatsache ist, dass kein Nationalstaat mit eigenen Mitteln allein der Krise hätte standhalten können. Das wissen auch die, die sich vorübergehend von der Gemeinschaftsmethode verabschiedet haben.
Wolfgang Bergsdorf: Hat die Krise in der Europäischen Union die Kluft zwischen Nord und Süd, zwischen kleinen und großen Mitgliedstaaten, zwischen den Euroländern und den Mitgliedsländern ohne Euro verschärft?
Jean-Claude Juncker: Ich bin versucht zu sagen, dass, obwohl die Notwendigkeit gemeinsamen Handelns begriffen wurde, sich trotzdem eine Gewichtsverlagerung in Richtung größere Mitgliedstaaten ergeben hat. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung kleiner wird. Am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts haben die Europäer zwanzig Prozent der Weltbevölkerung gestellt, am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts nur elf Prozent. 2050 werden es sieben Prozent sein, 2100, also zu Beginn des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts, wird es nur vier Prozent Europäer auf zehn Milliarden Menschen geben. Daraus ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass jetzt nicht eine Re-Kategorisierung in nationale Einheiten geschehen darf, sondern dass aufgrund dieser einsehbaren demografischen Zukunftslage mehr Europa angesagt ist.
Wolfgang Bergsdorf: Bisher galt immer der Grundsatz, jede Krise hat am Ende die Integration gestärkt. Kann man das aus dieser Krise nun auch prognostizieren?
Jean-Claude Juncker: Ja, ich bin der Meinung, und die Meinung ist nicht nur Hoffnung, sondern auch Überzeugung, dass wir am Ende dieser Finanz- und Wirtschaftskrise als Europäische Union integrationsfester sein werden, als wir dies zu Beginn waren, obwohl ja intergouvernementale Vereinbarungen getroffen werden müssen, weil die innenpolitische Ausgangslage in einigen großen europäischen Flächenstaaten dies bedingt hat. Aber am Ende des Tages, in zehn Jahren, wird man den Umgang der Europäer mit dieser Krise als Musterbeispiel dafür werten, wie die Europäische Union auf externe Herausforderungen reagieren muss.
Wolfgang Bergsdorf: Ich danke Ihnen, Herr Premierminister, für dieses ausführliche und aufschlussreiche Gespräch.