"Es gibt keine kohärente Art der Haushaltskonsolidierung". Jean-Claude Juncker au sujet de l'actualité 2012/2013

Luxemburger Wort: Herr Staatsminister, das Jahr 2011 endete mit einer gescheiterten Tripartite, das Jahr 2012 mit einem Untersuchungsausschuss zum Geheimdienst. Was kümmert den Premier mehr?

Jean-Claude Juncker: Die zwei Ereignisse stehen in keinem inhaltlichen Zusammenhang. Es war nicht das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass eine Tripartite ergebnislos auseinanderging, die Regierung hat daraufhin gehandelt und unter anderem eine Indexmodulierung in die Wege geleitet; es galt, wirtschaftliche und soziale Probleme in Angriff zu nehmen, die mir näher gehen als ein politischer Beschluss wie die Einführung einer Untersuchungskommission.

Luxemburger Wort: Bei einer anderen Affäre fand sich keine parlamentarische Mehrheit für einen solchen Ausschuss, nämlich bei Wickringen/ Liwingen. In beiden Fällen steht die Politik nicht gerade in günstigem Licht da.

Jean-Claude Juncker: Sie vermischen wieder einmal zwei völlig unterschiedliche Angelegenheiten. Beim Geheimdienst handelt es sich in der Tat um eine Affäre, es gibt gute Gründe für den Untersuchungsausschuss. Bei Wickringen/ Liwingen und den Begleitumständen handelt es sich um einen Sachverhalt. Die langfristigen Folgen beider Vorkommnisse lassen sich schwer vorhersagen. Dass die Politik darunter leidet, scheint mir klar.

Luxemburger Wort: Liegt das Problem nicht auch darin, dass die Wahrheit nur scheibchenweise ans Licht rückt, dass bei den Menschen also der Verdacht entsteht, die da oben haben etwas zu vertuschen?

Jean-Claude Juncker: Ich weise diese Darstellung zurück. Im Zusammenhang mit Wickringen/ Liwingen habe ich bereits im Frühjahr 2009 erklärt, wieso die Regierung die Entscheidungen getroffen hat, die zu treffen waren. Und bei der Geheimdienst-Affäre gibt es nun einmal Dinge, die man sagen darf, andere wiederum nicht. Eigentlich hätte ich erwartet, dass Sie sich erstaunt darüber zeigen, dass ein Gespräch mit dem Staatsminister heimlich aufgezeichnet wurde, was nun jeder im Radio nachhören kann. Für Sie scheint das jedoch nicht weiter bedenklich zu sein, ich nehme das zur Kenntnis. Nicht nur die Politik hat Schuld daran, dass die öffentliche Auseinandersetzung auf ein lamentables Niveau gesunken ist.

Luxemburger Wort: Wäre es denn ratsam, Rechtsmittel gegen jene einzulegen, die dieses Gespräch veröffentlicht haben?

Jean-Claude Juncker: Ich verstehe die suggestive Wirkung Ihrer Frage, und indem ich sie als Suggestivfrage bezeichne, mache ich deutlich, was ich davon halte.

Luxemburger Wort: Zurück zum Geheimdienst: Auf einer Pressekonferenz haben Sie gesagt, dass es Aufgabe der Staatsanwaltschaft wäre, eventuelle Gesetzesverstöße des Srel aufzudecken. Wo bleibt die politische Verantwortung?

Jean-Claude Juncker: Pierre Werner kann nicht mehr zurücktreten. Ich trete zurück, wenn ich es entscheide, und nicht wenn das "Luxemburger Wort" es bestimmt.

Luxemburger Wort: Im Zusammenhang mit Wickringen/ Liwingen wurde ein Verhaltenskodex für Minister und Abgeordnete angekündigt. Wie weit ist dieses Vorhaben vorangeschritten?

Jean-Claude Juncker: Wir haben darüber im Ministerrat beraten, wir wollen uns an entsprechenden Vorlagen aus dem Ausland orientieren. Entscheidend bleibt die innere Einstellung: Entweder man hat eine Deontologie oder man hat keine.

Luxemburger Wort: Ebenfalls in Aussicht gestellt wurde ein Rundtischgespräch über den administrativen Beschleunigungsprozess. Das Thema scheint schwieriger als erwartet.

Jean-Claude Juncker: Meine Mitarbeiter haben eine Vielzahl von Gesprächen geführt, aus denen müssen nun Schlüsse gezogen werden, was gar nicht so einfach ist. Ich war zum Beispiel der Meinung, dass man einheitliche Normen für Investitionsvorhaben definieren sollte. Nun wird mir erklärt, dass einheitliche Normen Investitionen auch behindern könnten. Ich bin noch am Überlegen, wie wir dieses Dilemma lösen werden.

Luxemburger Wort: Die langsamen Verwaltungswege mögen ein Grund dafür sein dass einige Unternehmen von einer Niederlassung in Luxemburg absehen. Nicht gerade gut für den Standort sind auch manche rassistischen Untertöne gegenüber ausländischen Investoren. Was ist dagegen zu tun?

Jean-Claude Juncker: In einer globalisierten Welt ist es nur normal, dass Investoren aus entfernten Kulturkreisen sich für Luxemburg interessieren. Nicht alles, was diese uns über unsere Art des Wirtschaftens erzählen, ist falsch. Vieles, was wir ihnen über uns erzählen, ist richtig. Es gilt, eine Schnittmenge zu finden, die die verschiedenen Mentalitäten zusammenführt. Das braucht seine Zeit. Den Einstieg der Kataris bei Cargolux halte ich übrigens nach wie vor für einen Schritt, der aufgrund der damaligen Sachlage nachvollziehbar war. Weniger nachvollziehbar ist hingegen die Sprachlosigkeit zwischen den alten und neuen Anteilseignern. Außer Frage steht aber, dass Cargolux auch ohne die Kataris in Schwierigkeiten wäre. Die Gesellschaft kann so nicht weiter machen, sonst wird es sie nicht mehr lange geben. Ich würde die Gewerkschaften und eine breite Öffentlichkeit darum bitten, dies zur Kenntnis zu nehmen.

Luxemburger Wort: Cargolux gehört neben Luxair und ArcelorMittal zu den Unternehmen, die einseitig den Kollektivvertrag aufgelöst haben. Was halten Sie von dieser Vorgehensweise?

Jean-Claude Juncker: Das ist alles legal, dennoch stimmt es mich bedenidich, dass dabei der Bruch mit der Jahrzehnte alten Gepflogenheit des Sozialdialogs bewusst in Kauf genommen wird. Die Regierung hat sich nicht in die Tarifautonomie einzumischen. Dennoch bin ich erstaunt, dass einige Unternehmen scheinbar bereit sind, sich dem Vorwurf der Provokation auszusetzen. Wie soll eine Regierung Brücken zwischen den Sozialpartnern bauen, wenn diese sich immer mehr in eine Atmosphäre des Kalten Kriegs hineinmanövrieren? Die Gewerkschaften sollen endlich zur Kenntnis nehmen, dass Luxemburg unter der Krise leidet. Und einzelne Patronatskreise möchte ich darauf hinweisen, dass es in Luxemburg bestimmte Verhaltensweisen gibt, und es in ihrem Interesse wäre, diese in Ehren zu halten.

Luxemburger Wort: Vor einem Jahr haben Sie im LW-Interview eine Bronchitis beim Luxemburger Modell diagnostiziert. Ist der Patient auf dem Weg der Besserung?

Jean-Claude Juncker: Ich habe im vergangenen Jahr gesagt, dass die Bronchitis des Tripartite-Modells nicht zum Tode des Patienten führen darf. Ich bin mittlerweile zum Schluss gekommen, dass man ziemlich lange an einer Bronchitis leiden kann, ohne daran zu sterben.

Luxemburger Wort: Leicht erkrankt schien in diesem Jahr auch die Budgetpolitik gewesen zu sein. Ein paar Tage, nachdem Sie den Etatentwurf 2013 verteidigt hatten, kündigten die Mehrheitsfraktionen Nachbesserungen an. Wurden Sie desavouiert?

Jean-Claude Juncker: In den Wochen zwischen der Vorstellung des ersten Etatentwurfs und dessen endgültiger Fassung saß ich insgesamt 38 Stunden lang mit den Fraktionen und manchmal auch mit dem Finanzminister zusammen, um über zusätzliche Sparanstrengungen zu beraten. Was andere als Streit in der Koalition bewerten, gehört für mich zu den normalen Auseinandersetzungen zwischen dem Parlament und der Regierung. Ich habe mich doch nicht darüber zu beschweren, dass die Abgeordnetenkammer sich mit Kritiken oder Verbesserungsvorschlägen in die Budgetprozedur einbringt.

Luxemburger Wort: Wenn wir den Budgetberichterstatter richtig verstanden haben, hatten die Partei- und Fraktionsvorsitzenden von CSV und LSAP bereits im September zusätzliche Konsolidierungsbemühungen angemahnt. Wieso wurde dem lediglich verspätet Rechnung getragen?

Jean-Claude Juncker: Man muss ein tugendhaftes Gespräch führen über Sparmaßnahmen, die dem Wirtschaftswachstum schaden oder ihm eher nutzen. Der Statec hat ja berechnet, dass die Konsolidierungsbemühungen nicht ohne Folgen für die Konjunktur bleiben. Diesen Rückgang nehmen wir nun nach Rücksprache mit den Fraktionen in Kauf. Im Übrigen halte ich die Konjurikturdelle für verkraftbar, weil ich nicht der Denkschule angehöre, derzufolge die Konsolidierungsbemühungen der Wirtschaft nachhaltig schaden, vielmehr schaffen sie die Voraussetzungen für ein zügiges Wachstum. Mit der Frage, wie wir diese Bemühungen konkret ausgestalten, wird sich die Koalition auch in den kommenden Monaten befassen.

Luxemburger Wort: Die Regierung wird also in absehbarer Zeit neue Maßnahmen vorschlagen?

Jean-Claude Juncker: Ich gehe davon aus, dass ich bei der Erklärung zur Lage der Nation Hinweise auf das künftige Konsolidierungspaket geben werde.

Luxemburger Wort: Und dabei wird die Regierung kohärenter vorgehen als bei den Maßnahmen, die in den vergangenen Monaten beschlossen wurden?

Jean-Claude Juncker: Es gibt keine schlüssige und kohärente Art der Haushaltskonsolidierung, man muss die Bemühungen immer im Zusammenhang mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung sehen, und die kann binnen weniger Monate schon wieder eine ganz andere sein.

Luxemburger Wort: Besteht das Problem nicht auch darin, dass Luxemburg gemessen an den Maastricht-Kriterien noch relativ gut da steht, dass einige Entwicklungen, wie zum Beispiel die rasant steigenden Schulden, hingegen bedenklich sind?

Jean-Claude Juncker: Eigentlich leidet unsere Haushaltspolitik an drei Problemen: einem krisenbedingten Rückgang der Steuereinnahmen, einer Verringerung des budgetären Spielraums wegen der wachsenden Zinslast, die wir zur Schuldenbegleichung tragen müssen, sowie stark gestiegenen Ausgaben für die Arbeitslosenunterstützung, für die wir im kommenden Jahr 200 Millionen Euro mehr ausgeben als noch 2008. Außerdem kenne ich kein Land in der Eurozone, das seine Schuldenlast seit 2010 reduziert hätte. Es wäre illusorisch davon auszugehen, dass es möglich wäre, mitten in der Krise ohne Schulden auszukommen, diese sind sogar gerechtfertigt, wenn man damit langfristige Investitionen tätigt. Womit ich nicht gesagt haben will, dass mich die hohe Schuldenlast nicht kümmert. Wir brauchen eine energische Aktion, um die Schuldenzunahme zu bremsen.

Luxemburger Wort: Ein weiteres Thema der zurückliegenden Monate war das Verhältnis zwischen Staat und Glaubensgemeinschaften. Wie geht es nun weiter, nachdem alle Karten auf dem Tisch liegen?

Jean-Claude Juncker: Jedermann weiß, dass das Verhältnis in einzelnen Punkten überdacht werden muss. Wer nichts davon wissen will, lebt nicht in unserer Zeit. Diese Reflektionsarbeit soll sine ira et studio fortgeführt werden. Niemand soll sich gegen Veränderungen wehren. Und niemand soll glauben, dass diese Verändefungen tiefgreifender sein werden als im Ausland. Eine strikte Trennung von Kirche und Staat gibt es nirgends in Europa, auch nicht in Frankreich.

Luxemburger Wort: Die Überlegungen sollen einfließen in die Verfassungsreform, wobei sich die Frage stellt, ob über das neue Grundgesetz per Referendum abgestimmt werden soll oder nicht. Ihre Partei war sich in diesem Punkt nie ganz schlüssig.

Jean-Claude Juncker: Weil man sich diese Frage sorgfältig überlegen muss, ich habe meinen persönlichen Meinungsbildungsprozess noch nicht abgeschlossen, aber das ist ohnehin nicht von Belang, weil das Parlament in Sachen Verfassungsrevision den Vorrang vor der Regierung hat. Darüberhinaus kommt es bei Volksbefragungen immer auf die Frage an. Manchmal denke ich, es wäre besser, der Bevölkerung sieben oder acht verschiedene Fragen zur Abstimmung vorzulegen und erst dann über die Verfassung zu entscheiden, als per Referendum über den integralen Text zu befinden.

Luxemburger Wort: Das neue Jahr wird für Sie damit beginnen, dass Sie den Vorsitz der Eurogruppe in den kommenden Wochen abgeben werden. Werden Sie den Job vermissen?

Jean-Claude Juncker: Ehrlich gesagt, bin ich erleichtert, mich nicht mehr Tag für Tag dieser doch sehr belastenden Aufgabe stellen zu müssen.

Luxemburger Wort: Im vergangenen Jahr hat Xavier Bettel Sie in der nationalen Rangfolge der beliebtesten Politiker überholt. Stört Sie das?

Jean-Claude Juncker: Ich habe schon öfter erklärt, dass ich von Meinungsumfragen wenig halte. Und ich mache nicht Politik, um populär und beliebt zu sein. Mir reicht es, respektiert und für meine Arbeit geschätzt zu werden. Xavier Bettel halte ich für ein großes politisches Talent; er pflegt einen anderen Stil als ich. Der Unterschied besteht darin, dass er seit einem Jahr Bürgermeister ist und ich seit 30 Jahren in der Regierung bin.

Membre du gouvernement

JUNCKER Jean-Claude

Organisation

Ministère d'État

Date de l'événement

31.12.2012