Interview von Xavier Bettel im Luxemburger Wort

"Ich bin der Kapitän einer Mannschaft"

Interview: Luxemburger Wort (Annette Welsch)

Luxemburger Wort: Xavier Bettel, wir sitzen auf einem Spielplatz und Sie fühlen sich sichtlich wohl. Sie haben eine Legislatur als Premier hinter sich und noch immer diesen jungenhaften Spaß an der Politik. Wird Xavier Bettel jemals erwachsen? 

Xavier Bettel: Wenn erwachsen sein heißt, keinen Spaß mehr an der Arbeit haben zu dürfen, dann nie. Es ist wichtig, dass man egal in welchem Alter die Freude, die Leidenschaft, die Lust hat, morgens aufzustehen und zu arbeiten. Das ist bei mir solange ich denken kann der Fall. Für mich ist es auch keine Inkompatibilität, erwachsen zu handeln und dennoch ein gut gelaunter Mensch zu sein, der Freude an der Arbeit hat. 

Luxemburger Wort: Der Spielplatz hier war das erste politische Projekt, das Sie durchsetzten. Was ist heute Ihr größtes Anliegen? 

Xavier Bettel: Gerechtigkeit. Ob das bei der Bildung ist, dass Kinder unabhängig von ihrer Herkunft alle Chancen bekommen sollen, ob das bei der Steuerreform ist, ob das bei der Umwelt ist, weil das eine Gerechtigkeitslast ist, die wir der nächsten Generation aufbürden. 
Ich vertrage keine Ungerechtigkeit, keine Vorurteile, keinen Populismus, der probiert, Ungerechtigkeiten zu simulieren, um populär zu sein. 

Luxemburger Wort: Die DP betont immer wieder ihre sozialliberale Ausrichtung. Schaut man sich die Entwicklung in der Gesellschaft an, geht die Schere zwischen Arm und Reich auch in Luxemburg auseinander. Treibt Sie das um? 

Xavier Bettel: Selbstverständlich. Und wir machen wirklich alles, damit die Schere nicht noch größer wird: Bei den Hilfen, die wir den Leuten gezielt bieten wollen, das heißt indem wir sie auch aktiveren; in der Schule, indem wir Kindern, die am Anfang wenig Chancen haben, einen sozialen Lift ermöglichen; durch die Steuerreformen; durch die Familienhilfen; durch gratis Kinderbetreuung; durch gratis Schulbücher; durch Wohnungshilfen. 
Wir haben ganz oft die Armut in Luxemburg verwaltet, aber nicht im positiven Sinn bekämpft, das heißt die Menschen aus der Armutssituation herausgeholt. 
Aber es ist wie beim Wohnungsbau: Es gibt kein Wundermittel, um sie - Hokuspokus - von heute auf morgen von Armut zu befreien. Der Wohnungsbau, vor allem eben von erschwinglichen Wohnungen, ist in dieser Hinsicht ein ganz wichtiger Faktor, der noch viel Anstrengungen erfordert. 

Luxemburger Wort: Hat sich die Regierung genug vorgenommen? In vielen Bereichen hat man eher den Eindruck, es geht um ein „Weiter so", von dem, was in die Wege geleitet wurde ohne große Ambitionen. 

Xavier Bettel: Ich würde das nicht sagen. Gerade die Gerechtigkeit ist, wenn ich ganz ehrlich sein darf, noch nicht erreicht - Sie haben selber von der Schere gesprochen. Für mich sind die Infrastrukturen - jeder im ganzen Land soll dieselben haben -, der Mensch im Digitalen und sein Platz gegenüber der künstlichen Intelligenz, Umweltfragen, Transportfragen, die Bildung, die Steuerpolitik, Herausforderungen, vor denen wir stehen. Es ist bei Weitem nicht so, dass wir in Routine verfallen sind. 
Es waren vielleicht beeindruckendere Projekte in der vergangenen Legislatur, weil sie einfach auch die Gewohnheiten verändert haben. Aber die Arbeit geht weiter und es ist keineswegs so, dass wir uns jetzt auf die faule Haut legen können - weit davon entfernt. 

Luxemburger Wort: Ich weiß schon gar nicht mehr, wann das letzte Pressebriefing nach einem Ministerrat war. Gibt es keine Projekte mehr? 

Xavier Bettel: Ich weiß das auch nicht mehr (lacht). Ich gebe zu, als ich anfing, habe ich mir vorgenommen, jede Woche oder halt regelmäßig Pressebriefings zu machen. Ich habe aber festgestellt, dass ich ganz oft auf Sachen reagieren musste, die schon an die Öffentlichkeit gedrungen waren, die eigentlich aber noch nicht spruchreif waren. Dann musste ich sie erklären oder rechtfertigen, ohne die Premiere der Nachricht zu haben. Bis zum Pressebriefing zu warten, um eine Neuigkeit anzukündigen, ist einfach nicht opportun und ich habe ja auch fast jeden Tag einen Minister, der eine Pressekonferenz hält. 
Wenn früher der Premier die Presse rief, um etwas anzukündigen, dann bin ich heute eher der Kapitän einer Mannschaft, der dem, der das Dossier erarbeitet hat, auch die Premiere lässt, wenn es anzukündigen ist. 

Luxemburger Wort: Sie pflegen da einen anderen Stil als Jean-Claude Juncker, der gerne die Presse rief und jedes Dossier kannte. Wie sehen Sie Ihre Rolle als Premier? Eher als Moderator? 

Xavier Bettel: Ich bin nicht der Präsident vom Club und auch nicht der Moderator, sondern der Orchesterchef oder Kapitän vom Schiff, der ja auch die Verantwortung zu tragen hat, dass das Schiff mit der ganzen Besatzung im Hafen einlauft. 
Sprich: Ich habe ein Koalitionsabkommen und muss schauen, dass es umgesetzt wird. 
Im Übrigen sieht die Verfassung ja auch die Rolle als "Primus inter Pares" und die Verantwortung der einzelnen Minister für ihr Ressort vor. Wenn früher schon mal gesagt wurde, "das ist jetzt Chefsache", möchte ich dagegen, dass die Minister ihre politische Verantwortung übernehmen. 

Luxemburger Wort: Sie haben auch den Ministern François Bausch und Félix Braz die Rolle überlassen, sich beim Datenschutz vor dem Parlament zu verantworten, obwohl man sich von Ihnen eine Stellungnahme erwartete. 

Xavier Bettel: Das Parlament hat mich geladen und ich war da. Es ist ja auch normal, dass man dann kommt.
Ich habe am Anfang eine Einführung gehalten und am Schluss die Konklusionen gezogen. Aber es ging um die Polizei und die Justiz und ich bin nicht der Sprecher dieser beiden Minister - ich gehe nicht ins Parlament und sage Sachen in ihrem Namen. Die Minister haben ihre Verantwortung und das Wissen, um auf die konkreten Fragen zu ihren Dossiers auch zu antworten. 
Vor allem ist es ein Dossier, wo man das Parlament nicht gegen die Regierung und die Mehrheit nicht gegen die Opposition aufhetzen soll. Mein Appell war, dass es ein gemeinsames Problem ist, das gemeinsam gelöst werden muss. Ich brauche das Parlament dafür und sehe es als Alliierten und zwar das gesamte Parlament - nicht nur die Mehrheitsabgeordneten, sondern auch die Opposition. Wir sollten uns zusammen an einen Tisch setzen und die Sachen, die nicht in Ordnung sind, diskutieren. 

Luxemburger Wort: Ist das Problem all die Jahre vom, Umfang her unterschätzt worden? 

Xavier Bettel: Ich denke, es wurde nicht unterschätzt und es gab ja auch immer Texte, wie die Datenschutzverordnung RGPR, aber man muss sich heute eben die Frage stellen, ob das noch konform ist. 
Und man muss das richtige Gleichgewicht finden zwischen Datenbank und Sicherheit. 
Es soll kein parteipolitisches Dossier sein, sondern alle Akteure müssen konstruktiv an den Tisch, denn wir tragen alle Verantwortung für das Problem und haben alle eine gemeinsame Verantwortung, konkrete Lösungen zu finden. Der Datenschutz ist mir zu wichtig, als dass damit Parteipolitik betrieben werden soll. 

Luxemburger Wort: Datenschutz müsste Ihnen als Liberaler ein hohes Gut sein und ist ja auch eine wichtige Frage bei der Digitalisierung - Stichwort Recht auf Vergessen. Müsste das nicht Chefsache sein? 

Xavier Bettel: Ich kann das Wort Chefsache nicht mehr hören. Zuletzt war es Jean-Claude Juncker mit dem Wohnungsbau und ich kann mich erinnern, dass sich im Resultat - Chefsache hin oder her - nicht viel geändert hat. Das klingt gut, das klingt nach mit der Faust auf den Tisch hauen und Chefsachen sind auch medienwirksam, sie ändern aber nichts, weil noch immer der einzelne Minister die politische Verantwortung trägt. 
Ich habe ganz viele Dossiers, wo ich mich mit den Regierungsmitgliedern nicht als Chefsache, aber als Kapitän zusammensetze, wenn ich merke, dass die Meinungen oder Interpretationen auseinandergehen. Ich mache selbstverständlich hinter den Kulissen Koordinationsarbeit, wenn der eine in die eine, der andere in die andere Richtung geht und wir aber ein gemeinsames Ziel haben, das wir erreichen wollen. Auch das ist meine Rolle - dass wir kollegial Verantwortung übernehmen und ich nicht Chefsachen daraus mache. 

Luxemburger Wort: Was erwarten Sie sich von der Opposition? 

Xavier Bettel: Ich erwarte mir, dass es um das Wohl vom Land geht. Ich erwarte mir nicht, dass die Opposition zu allem im Koalitionsabkommen ja sagt, aber es muss Argumente geben, warum man das ein oder andere nicht mitträgt. Ich habe ganz viel Respekt vor der Oppositionsarbeit, es ist eine noble Aufgabe.
Ich verschließe mich auch Vorschlägen und Argumenten nicht, ich-war weder als Bürgermeister noch bin ich als Premier hermetisch - das ist das größte Qualitätsmanktum, was ein Politiker haben kann.
Wir haben nicht das Monopol auf gute Ideen, nur weil wir in der Mehrheit sind. Wenn gute Vorschläge kommen, soll man darüber reden können. Ich bin ein ganz konsensueller Mensch und sage nicht prinzipiell nein, nur weil es von einem anderen kommt. Ich bin auch nicht als Premier auf die Welt gekommen, lerne jeden Tag dazu. Ich habe auch schon Fehler gemacht und werde verschiedene Sachen sicher nicht perfekt machen. Wichtig ist, dass man offen ist und zuhört. 

Luxemburger Wort: Die Opposition hat kürzlich geschlossen das Parlament verlassen. Hat Sie das schockiert, amüsiert oder begrüßen Sie diese neue Streitlust? 

Xavier Bettel: Es hat mich erstaunt. Aber ich kommentiere es nicht weiter. 

Luxemburger Wort: Hat die Ankündigung der CSV, die Verfassungsreform nicht mitzutragen, wenn nicht gewisse Bedingungen erfüllt sind, überrascht, schockiert wie die LSAP oder sehen Sie es auch als Chance, verschiedene Fragen neu zu diskutieren? 

Xavier Bettel: Das hat mich erschreckt. Gegenüber einem Paul-Henri Meyers (CSV), der der Vater der neuen Verfassung ist, jetzt zum Schluss so ein Kurswechsel - das hat mich erschreckt.

Luxemburger Wort: Sie haben von den Parteien Stellungnahmen verlangt zum Wahlbezirk und zu den Doppelmandaten beispielsweise. Sind Sie der Meinung, das sollte nun doch geklärt werden, obwohl sich keine 2/3-Mehrheit finden ließ? 

Xavier Bettel: Ich habe einfach jeder Partei einen Katalog an Fragen gestellt, um den Puls zu fühlen: Es sind Fragen, die sich nicht auf die Verfassung beziehen, sondern ich wollte die Richtungen in Erfahrung bringen, wenn es um eine Reform des Wahlgesetzes geht. 
Denn eine solche Reform muss den größtmöglichen Konsens finden. Eine Wahlrechtsreform darf nie so aussehen, als ginge sie zum Vorteil oder Nachteil der einen oder anderen Partei. Sie darf nicht parteipolitisch sein. 

Luxemburger Wort: Sie haben bei Ihrer Rede an Nationalfeiertag betont: „Großherzog Jean hat mich daran erinnert, dass es nicht selbstverständlich ist, dass ich als liberaler Politiker, der Vorfahren mit katholischem, orthodoxem, jüdischem oder gar keinen Glauben hat und der mit einem Mann verheiratet ist, heute hier vor Ihnen stehen kann." Sie thematisieren die Verletzung von Rechten Homosexueller regelmäßig im Ausland. Sehen Sie das als Mission an? 

Xavier Bettel: Ich habe ein Mal in Ägypten im Zusammenhang mit einer Rede des Präsidenten reagiert. Ich hatte gar nicht vor, darüber zu reden, aber Abdel Fattah al-Sisi hat gesagt, er erwarte sich von Europa mehr Toleranz gegenüber Minderheiten und Religionen. Ich habe ihm zugehört und als Antwort gegeben, dass ich ihm ganz recht gebe - gegenüber Religionen und Ethnien, aber er habe auch verschiedene Punkte vergessen. Als Erstes die Frauen, dann die Meinung und schließlich erinnerte ich daran, dass ich - ginge es nach verschiedenen Ländern - gar nicht dort sitzen dürfte, ich wäre zum Tode verurteilt, weil ich mit einem Mann verheiratet bin. Homosexualität sei aber keine Wahl, die man trifft, sie nicht zu akzeptieren, sei es dagegen schon. Und dann habe ich meine Rede gehalten, wie vorgesehen. Frauenrechte und Meinungsfreiheit waren mir also gerade so wichtige Themen. 

Luxemburger Wort: Finden Sie es richtig, wie die neue Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgewählt wurde? 

Xavier Bettel: Frau von der Leyen erfüllt alle Anforderungen - sie ist halt ein Kompromisskandidat. Ich bin dafür, dass wir bei den nächsten Europawahlen eine richtige Wahl haben. Das heißt aber, dass ich in Bonneweg einen Timmermans, eine Vestager, einen Weber wählen kann - der hat dann eine Legitimität. Verschiedene Kollegen im EU-Rat sind aber der Meinung, dass das dann der Präsident des Europaparlaments werden soll. 
Die Meinungen gehen da ganz auseinander. 
Nun sollen der Rat und das Europaparlament jeweils eine Arbeitsgruppe aufstellen. Ich habe gesagt, dass wir damit einen Fehler machen, denn beide Institutionen haben eine Mitsprache, also brauchen wir eine einzige inter-institutionelle Arbeitsgruppe. Der designierte Ratspräsident Charles Michel hat mir versprochen, die auch einzusetzen. Für mich sollen die Wähler den Kommissionspräsidenten direkt wählen. Wenn das so durchgeht, hätte ich als Premierminister von Luxemburg in fünf Jahren nichts mehr zu sagen. 
Dann wird der, der die meisten Stimmen der Bürger hat, Präsident und muss sich seine Mehrheit im Parlament suchen. 

Luxemburger Wort: Und zum Schluss die klassische Sommerfrage: Was macht Xavier Bettel, um sich zu entspannen? 

Xavier Bettel: Er geht lesen. Ich habe mir fünf Bücher gekauft, die ich im August mit nach Griechenland nehme: Einen Mary Higgins Clark, den neuen Musso und Bücher, die eine Freundin mir empfohlen hat. Lesen ist für mich richtig Urlaub.

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