Interview von Xavier Bettel im Luxemburger Wort

"Es geht um Solidarität"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Dani Schumacher: Xavier Bettel, die Grenzen sind teilweise geschlossen, entlang der Mosel wehen die Fahnen deshalb auf halbmast. Gibt die Europäische Union am Europatag in diesem Jahr nicht ein recht trauriges Bild ab?

Xavier Bettel: Geschlossene Grenzen sind in der Tat nicht das, was wir an einem Europatag feiern wollen. Die Corona-Krise ist ein gemeinsames Problem. Leider waren bei einigen Politikern die nationalen Reflexe schneller, als die Bereitschaft, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen. Die nationalen Reflexe haben sich aber als falsch erwiesen. Die luxemburgische Regierung hat von Anfang an nach Lösungen für die vielen Grenzgänger gesucht. Ohne die Pendler wäre unser Gesundheitssystem kollabiert.

Dani Schumacher: Am vergangenen Montag hat Bundesinnenminister Horst Seehofer die Grenzkontrollen bis zum 15. Mai verlängert. Wurden Sie diesmal im Voraus von Berlin über die Entscheidung informiert?

Xavier Bettel: Nein, wie schon bei der Einführung-der Grenzkontrollen wurden wir auch diesmal von der Entscheidung überrascht. Obwohl fortwährend Gespräche laufen, erfahren wir solche einschneidenden Schritte oft erst aus der Presse. So geht man nicht mit seinen Nachbarn um. Leider bekommen wir anschließend auch noch abweichende Informationen. Die Grenzkontrollen sind eine unilaterale Entscheidung, die Kommunikation zwischen unseren beiden Ländern könnte besser sein. Als die Grenzkontrollen eingeführt wurden, haben wir unverzüglich nach einer Lösung gesucht. Die Grenzgänger haben schließlich eine Art Passierschein erhalten. Es ist wichtig, dass die deutschen Pendler weiterhin nach Luxemburg kommen dürfen.

Dani Schumacher: Grenzkontrollen gibt es nicht nur zwischen Deutschland und seinen Nachbarländern. Innerhalb der EU sind im Moment viele Binnengrenzen geschlossen. Und das genau in dem Jahr, in dem wir das 25. Jubiläum des Schengen-Abkommens feiern ...

Xavier Bettel:... gefeiert haben wir aus gegebenem Anlass nicht! Es gab den 25. Jahrestag der Unterzeichnung der Sehengen-Verträge. Der freie Personen- und Warenverkehr gehören zu den Grundprinzipien der Europäischen Union. 25 Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens haben nationale Überlegungen leider dazu geführt, dass Schutzmaterial nicht geliefert werden konnte, weil die Lastwagen an den Grenzen aufgehalten wurden. Das darf nicht sein. Solche Maßnahmen müssten aufeinander abgestimmt werden. Normalerweise müsste die Europäische Kommission die Erlaubnis erteilen, wenn ein Land seine Grenzen schließen will. Ich erwarte mir daher, dass die Kommission die Mitgliedstaaten an die Spielregeln erinnert. Wenn man wieder Grenzkontrollen einführt, bröckelt das Vertrauen in den Nachbarn.

Dani Schumacher: Apropos Kommission. In den ersten Tagen der Krise hat man nicht allzu viel aus Brüssel gehört. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen musste später sogar Versäumnisse einräumen. Ist die Kommission, ist die Kommissionspräsidentin der Corona-Krise überhaupt gewachsen?

Xavier Bettel: Die Kommission kann nicht allein entscheiden. Es sitzen 27 Länder am Tisch und es gab 27 unterschiedliche Meinungen. , Kommissionspräsidentin von der Leyen sind die Hände gebunden, wenn jedes Land in eine andere Richtung zieht. Als es darum ging, eine gemeinsame Strategie im Kampf gegen das Virus zu entwickeln, haben einige Länder unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass Brüssel.nicht darüber zu entscheiden habe, wie sie die Bevölkerung im eigenen Land schützen sollen. Folglich konnte keine gemeinsame Marschroute gefunden werden. Ich bin aber froh, dass wir am Ende doch noch einen gemeinsamen Nenner gefunden haben.

Dani Schumacher: Und was ist dieser gemeinsame Nenner?

Xavier Bettel: Wir haben uns darauf verständigt, dass die Kommission konkrete Regeln für die EU-Bürger für die kommenden Wochen und Monate ausarbeiten soll, wenn die Ausgangsbeschränkungen aufgehoben werden. Einige Länder haben nach der Lockerung beispielsweise eine vierzehntägige Quarantäne für alle Personen angeordnet. Nun wurde vereinbart, dass die Quarantäne für Drittstaatler gelten soll, nicht aber für EU-Bürger, die innerhalb der Union reisen. Es bleiben aber weiterhin noch viele Fragen offen. Was passiert beispielsweise mit den Studenten? Können sie in die Länder zurückkehren, in denen sie studieren, um ihre Examen zu schreiben? Es ist im Augenblick äußerst schwierig, eine Lösung für solche Probleme zu finden, weil es in einigen Staaten an der nötigen Bereitschaft fehlt. Gerade weil jedes Land im Kampf gegen das Virus zunächst seinen eigenen Weg gegangen ist, ist es nun so schwer, einen gemeinsamen Weg zurück in die Normalität zu finden. Der Umgang mit der Corona-Krise ist, was die Abstimmung zwischen den Mitgliedsländern anbelangt, keine Sternstunde der Europäischen Union. Ich wiederhole es noch einmal: Corona ist ein gemeinsames Problem, also brauchen wir auch eine gemeinsame Lösung.

Dani Schumacher: Müsste es nicht eine der Lehren aus der Krise sein, dass Brüssel mehr Kompetenzen im Gesundheitsbereich bekommt, Beispiel Schutzmaterial?

Xavier Bettel: Die Pandemie hat uns allen unmissverständlich gezeigt, dass die europäische Produktion bei weitem nicht ausreicht, um den Bedarf zu decken. Das muss sich ändern. Europa darf nicht länger von anderen Ländern abhängig sein. Die nächste Herausforderung steht bereits vor der Tür: Wenn es einen Impfstoff gibt, wie können wir garantieren, dass er in einer ersten Phase dort ankommt, wo er gebraucht wird, nämlich bei den Menschen, die besonders gefährdet sind? Wenn auch beim Impfstoff die nationalen Reflexe wieder die Oberhand gewinnen, wird uns dies nicht gelingen. Wir müssen uns auf eine gemeinsâme Marschroute einigen. Ich habe mich deshalb beim letzten Gipfel für eine koordinierte, gemeinsame Strategie stark gemacht. Es ist absolut wichtig, dass die Kommission bei der Koordinierung die Führung übernimmt. Andernfalls beginnt ein gnadenloser Verteilungskampf, wenn der erste Impfstoff endlich zur Verfügung steht. Nicht nur in Europa, sondern weltweit. Die ärmeren Länder gehen dann leer aus, sie werden ihre Bevölkerung nicht impfen können, mit der Konsequenz, dass es nicht nur zu einer sanitären, sondern zu einer humanitären Krise kommen wird. Wir müssen über Europa hinaus blicken. Es braucht Solidarität.

Dani Schumacher: Der frühere EU-Kommissionspräsident Jacques Delors hat vor der Todesgefahr gewarnt, mit der Europa im Augenblick konfrontiert ist. Die EU drohe bei dem ersten Hustenanfall auseinanderzubrechen. Teilen Sie diese Meinung?

Xavier Bettel: Nein. Wir haben Lösungen gefunden. Es war beileibe nicht einfach, aber wir haben uns auf ein milliardenschweres Hilfspaket verständigt, damit die einzelnen Länder die Krise bewältigen können. Wir haben uns die erforderlichen Mittel gegeben, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Die Verhandlungen wurden wegen der Diskussion um die sogenannten Corona-Bonds erschwert. Einige Länder waren strikt dagegen, einige Staats- und Regierungschefs bekamen Pickel auf die Stirn, wenn man das Wort Corona-Bonds auch nur erwähnte.

Dani Schumacher: Die luxemburgische Regierung befürwortet die Corona-Bonds, weshalb?

Xavier Bettel: Es ist eine Frage der Solidarität. Aufgrund seiner guten Finanzlage konnte Luxemburg vor wenigen Tagen einen Kredit zu negativen Zinsen aufnehmen. Wir werden am Ende also noch Geld verdienen. Andere Länder wie Italien, Spanien oder Frankreich, die wesentlich stärker von der Krise betroffen sind und folglich mehr Geld brauchen werden, können dies nicht. Sie müssen sich Geld zu einem hohen Zinssatz beschaffen, um in ihr Gesundheitssystem zu investieren. Wenn die EU gemeinsame Kredite aufnimmt, bezahlen wir vielleicht etwa mehr Zinsen, wenn überhaupt, die anderen Länder können sich aber billigeres Geld beschaffen. Genau in dem Punkt kommen wir aber nicht weiter.

Dani Schumacher: Warum lehnen Länder wie Deutschland oder die Niederlande die Corona-Bonds so vehement ab? Geht es um das Prinzip, oder wo liegt das Problem?

Xavier Bettel: Es geht nicht um das Prinzip. Es gibt unterschiedliche Gründe, weshalb einige Länder strikt gegen die Bonds sind. Auf der einen Seite geht es sicherlich um Solidarität. Es geht aber auch um Disziplin, und genau dies ist den Ländern, die den Corona-Bonds kritisch gegenüberstehen, sehr wichtig. Es kann nicht sein, dass, die Gelder, die über die Bonds vergeben werden, dazu genutzt werden, um alte Schulden zu begleichen oder um Fehler aus der Vergangenheit zu beheben. Ich bin auch der Meinung, dass wir genau wissen müssen, wo die Gelder hinfließen und was damit gemacht wird. Es braucht also ein Monitoring. Darauf pocht vor allem Deutschland. Die Krux ist, dass jedes Land in dieser Diskussion einen anderen Punkt kritisiert. Für die einen ist das Monitoring das Problem, die anderen wiederum wollen nicht, dass eine europäische Institution kontrolliert, wie sie die Gelder einsetzen. Es ist aber auch verständlich, dass andere Länder sich weigern, einen Blankoscheck auszustellen. Egal wie die Dinger am Ende heißen werden, mir ist wichtig, dass die nötigen finanziellen Mittel bereitgestellt werden, damit die Länder aus der Krise kommen.

Dani Schumacher: Durch die Corona-Krise scheint der Nord-Süd-Konflikt erneut ausgebrochen zu sein.

Xavier Bettel: Diese Debatte flammt immer wieder auf. Generell gilt: Es kann nicht sein, dass gerade die Länder, die schon vor der Krise gut dastanden, besser durch die Krise kommen, als die Staaten, die schon vorher mit Problemen zu kämpfen hatten. Wir dürfen sie nicht im Regen stehen lassen.

Dani Schumacher: Besteht überhaupt noch eine Chance, dass die Corona-Bonds Wirklichkeit werden?

Xavier Bettel: Meiner Meinung nach sind sie noch nicht tot. Es geht nicht um den Namen, es geht um die Solidarität. Und daran arbeiten wir. Wie gesagt, wir haben jetzt schon ein Finanzpaket, das sich aus den 750 Milliarden von der EZB und aus den 540 Milliarden vom Rat zusammensetzt, sowie die Mittel aus dem geplanten Wiederaufbaufonds. Das ist viel Geld. Mit diesen drei Instrumenten haben wir schon viel erreicht, um die Krise zu überwinden.

Dani Schumacher: Auch wenn es sich um enorme Summen handelt, reicht das Geld?

Xavier Bettel: Es ist ein korrekter Beitrag. Wir brauchen jetzt eine Starthilfe, um Europa wieder auf die Beine zu bringen. Wir müssen aber auch die mittel- und langfristige Entwicklung im Auge behalten.

Dani Schumacher: Die Corona-Krise überlagert die Migrationskrise. Bislang fehlt es in dieser Frage an klaren Aussagen aus Brüssel.

Xavier Bettel: Wir haben leider immer noch keine Lösung bei der Migration. Auch hier mangelt es an der erforderlichen Solidarität. Wir dürfen Länder wie Griechenland, Spanien, Italien oder Malta nicht alleinlassen. Wir brauchen dauerhafte Lösungen, langfristig braucht die EU eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, daran führt kein Weg vorbei. Wir können uns nicht ewig mit Ad-Hoc-Lösungen durchwursteln. Ich will aber realistisch sein. Wir müssen jetzt die Corona-Krise bewältigen.

Dani Schumacher: Am 8. Mai vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Die EU versteht sich auch als Friedensprojekt. Ist dieses Projekt angesichts der aktuellen Zerstrittenheit in Gefahr?

Xavier Bettel: Leider können wir wegen der Pandemie den 75. Jahrestag vom Ende des Zweiten Weltkrieges nicht feiern. Die Gedenkfeiern können nicht stattfinden, wir müssen uns auf Kranzniederlegungen vor den einzelnen Gedenkstätten beschränken, um die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten. Am B. Mai sollten wir uns wieder bewusst werden, dass Europa in seiner Geschichte noch nie eine so lange Friedenszeit erlebt hat. Mit Ländern wie Slowenien und Kroatien gehören heute Länder der EU an, in denen vor nicht allzu langer Zeit noch Krieg herrschte. Es sind Länder aus dem früheren Ostblock dabei, in denen die Menschen lange in einer kommunistischen Diktatur leben mussten. Dank der Europäischen Union sitzen all diese unterschiedlichen Staaten heute an einem Tisch und reden miteinander. Wir sind uns nicht immer einig, aber wir reden miteinander. Ich frage mich, ob die vielen Probleme, mit denen wir aktuell konfrontiert sind, ohne diese gemeinsame Basis nicht ein Konfliktpotenzial hervorgebracht hätten, das Europa erneut in Gefahr gebracht hätte. Leider vergessen wir aber allzu oft, was die Union uns gebracht hat. Auch Luxemburg wäre ohne die EU nicht das Land, das es heute ist. Die wichtigste Errungenschaft ist und bleibt aber der Frieden. Wir sollten uns immer wieder vor Augen führen, dass es beispielsweise in der Ukraine, also vor der europäischen Haustür, noch einen Konflikt gibt. Wenn das Image der Union heute nicht das allerbeste ist, ist das auch auf die Kommunikation zurückzuführen. In Brüssel versuchen wir Politiker uns vor den Kameras stets als Sieger zu verkaufen, anstatt den Akzent darauf zu legen, dass wir einen Kompromiss erreicht haben. In der Union muss man manchmal auf etwas Kleines verzichten, damit wir morgen etwas Größeres erreichen können. In Brüssel geht es nicht darum zu gewinnen, es geht darum, zusammen etwas aufzubauen.

 

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