Interview von Xavier Bettel im Luxemburger Wort

"Recht viele Freiheiten"

Interview: Luxemburger Wort (Dani Schumacher)

Luxemburger Wort: Xavier Bettel, wie fühlt man sich, wenn man als liberaler Premierminister wegen der Corona-Pandemie schwerwiegende Eingriffe in die Grundrechte der Bürger vornehmen muss?

Xavier Bettel: Die DP wie auch die beiden Koalitionspartner LSAP und Grüne halten an den demokratischen Werten fest. Daher war es uns sehr wichtig, dass das Parlament bei den Covid-Gesetzen eingebunden wird. In anderen Ländern werden die Maßnahmen am Parlament vorbei in Kraft gesetzt. Es ist zwar ein schwieriger und kräftezehrender Prozess, doch in meinen Augen führt kein Weg am Parlament vorbei. Als liberaler Premier ist es für mich wirklich nicht einfach, wenn ich eine Ausgangssperre verhängen oder die Kontakte der Bürger untereinander auf zwei Personen begrenzen muss. Deshalb dürfen die Einschnitte auch nicht zum Dauerzustand werden. Die Beschneidung der Grundrechte darf unter keinen Umständen zur Gewohnheit werden. Es geht darum, eine Balance zu finden. Durch die verschiedenen Maßnahmen wie beispielsweise die Ausgangssperre haben wir das Infektionsgeschehen soweit in den Griff bekommen, dass wir den Menschen andere Freiheiten geben konnten. Ich denke etwa an die Kultur oder den Sport, aber auch an die Schulen, an die Geschäfte oder an die Außengastronomie. Diese Freiheiten haben wir uns durch die Einschränkungen erkauft. Der Drahtseilakt besteht darin, dass wir die Maßnahmen nur so lange wie nötig aufrechterhalten und nicht solange wie möglich. Für mich als liberaler Premier war, wie gesagt, es schwer, die Einschränkungenzu verhängen, doch es führte kein Weg daran vorbei. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern verfügen die Menschen in Luxemburgimmer über recht viele Freiheiten.

Luxemburger Wort: Das Parlament ist zwar eingebunden, die Maßnahmen haben eine legale Basis. Doch der parlamentarische Prozess erfolgt stets unter enormem Zeitdruck, die Covid-Gesetze werden mit den Stimmen der Mehrheitsparteien regelrecht durchgepeitscht. In den Debatten hört man von der Opposition daher den Vorwurf, die Fraktionen von DP, LSAP und Grünen seien nur noch der verlängerte Arm der Regierung. Sind sie das?

Xavier Bettel: Nein. Aber ich nehme die Kritik ernst. Es gibt allerdings Unstimmigkeiten. Zu Beginn der Pandemie bestand Einigkeit. Auf einmal wollte aber eine Partei so schnellwie möglich alles öffnen. Wenig später hat die gleiche Partei uns vorgeworfen, dass die Öffnung zu schnell käme. Im Dezember hat sie uns dann wieder kritisiert, weil wir einige Öffnungen zugelassen haben. Die Aussage derOpposition, sich konstruktiv einbringen zu wollen, ist zumindest fragwürdig. Die Kritik ist oft parteipolitisch motiviert. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Opposition sehr weit ausholen muss, um nicht zugeben zu müssen, dass die Regierung richtig handelt. Sie macht kaum Vorschläge, wie man es besser machen kann. Das Argument, man werde das Covid-Gesetz wegender Ausgangssperre nicht mittragen, lasse ich nicht gelten. Die Ausgangssperre trägt dazu bei, die Pandemie einzudämmen, es gibt Studien, die dies belegen. Die Ausgangssperre bringt mehr, als wenn wir die Schulen schließen würden.

Luxemburger Wort: Sind die Mehrheitsparteien nun der verlängerte Arm der Regierung oder nicht?

Xavier Bettel: Nein, die Fraktionen von DP, LSAP und Grünen sind durchaus kritisch. Sie haben ihre eigene Dynamik im Parlament. Immer wieder nehmen sie Änderungen an unseren Covid-Texten vor.

Luxemburger Wort: Die Pandemie geht nun schon ins zweite Jahr. Hätten Sie im Rückblick etwas anders gemacht? Vizepremier François Bausch hat im Interview erklärt, dass er sich eine 'filigranere' Vorgehensweise gewünscht hätte. Stimmen Sie dem zu?

Xavier Bettel: Währen der ersten Welle haben wir in der Tat mit dem Vorschlaghammer gearbeitet und das gesamte öffentliche Leben heruntergefahren. Im Nachhinein ist man natürlich immer schlauer. Heute wissen wir, dass einige Maßnahmen nicht sehr viel gebracht haben. Aus heutiger Sicht würde ich deshalb sagen, dies oder das machen wir nicht. Aber zu Beginn der Pandemie verfügten wir nicht über das nötige Wissen, um gezielter vorzugehen. Daher war unsere Entscheidung zu dem Moment, wo wir sie getroffen haben, auch richtig. Es kann auch gut sein, dass wir in sechs Monaten Entscheidungen, die wir heute treffen, wieder infrage stellen. Es gibt einfach noch zu viele offene Fragen. Wir wissen beispielsweise nicht, ob nicht noch andere Virusvarianten auftauchen. Wir wissen auch nicht, welchen Impakt die Mutanten auf das Gesundheitssystem haben werden. Es ist daher sinnvoll, wenn wir jetzt analysieren, wieso einzelne Infizierte im Krankenhaus behandelt werden müssen und andere nicht. Wieso sind diesmal mehr jüngere Menschen betroffen als bei der ersten Welle und weshalb haben sie einen schwereren Krankheitsverlauf? Es gibt noch so viele offene Fragen. All diese Informationen brauchen wir.

Luxemburger Wort: Die Arbeit der Regierung stößt auf breite Zustimmung. Im März waren bei einer Umfrage immerhin 80 Prozent der Bevölkerung der Meinung, die Regierung führe das Land gut durch die Krise...

Xavier Bettel: Natürlich freut mich dieses Resultat. Doch die Bewältigung der Krise ist ein Akt der Solidarität. Ich würde mich daher glücklich schätzen, wenn es mir gelingen würde, auch den Rest der Bevölkerung vom Sinn und von der Notwendigkeit der Maßnahmen zu überzeugen. Es gibt beispielsweise Leute, die wollen sich nicht impfen lassen. Das ist ihre Entscheidung, ich werde niemanden zwingen, sich impfen zu lassen. Wir können lediglich versuchen, sie zu überzeugen. Deshalb war es mir wichtig, den Astra-Zeneca-Impfstoff auf freiwilliger Basis bei jüngeren Menschen einzusetzen. Es war eine schwere Entscheidung, aber sie ist in meinen Augen richtig. Es wäre falsch gewesen, einen Teil der Vakzine nicht zu nutzen, solange nicht alle die Möglichkeit hatten, sich impfen zu lassen. Andere Länder gehen jetzt auch auf diesen Weg.

Luxemburger Wort: Auch wenn die Zensur insgesamt gut ausfällt, so stehen doch mit Bildungsminister Claude Meisch und Familienministerin Corinne Cahen zwei DP-Minister in der Schusslinie. Können Sie die Kritik nachvollziehen?

Xavier Bettel: Die Altersheime sind ein sehr sensibles Thema. Altersheime sind keine Krankenhäuser, man kann sie nicht über Wochen und Monate vollständig abriegeln. Die Bewohner leben dort. Man kann ihnen nicht verbieten, ihr Zuhause zu verlassen. Wir müssen also ein Gleichgewicht finden. Das Familienministerium und die Santé haben eng mit den Betreibern zusammengearbeitet, um gemeinsame Lösungen zu finden. Dies ist ihnen gelungen. Copas-Präsident Marc Fischbach hat Familienministerin Corinne Cahen übrigens eine gute Arbeit bescheinigt. Die Opposition hat sich allerdings auf sie eingeschossen. Im Parlament gab es persönliche Attacken. Anstatt den Ball zu spielen, wurde auf die Frau gezielt. Die Debatte ging teilweise unter die Gürtellinie und war dem Thema nicht würdig. Sie war respektlos gegenüber den Bürgern. Ubrigens haben mir später auch CSV-Abgeordnete gesagt, dass sie mit der Art und Weise, wie die Diskussion verlaufen ist, nicht einverstanden waren.

Luxemburger Wort: Haben Sie aber Verständnis dafür, dass die Situation in den Altersheimen nun von einer Arbeitsgruppe untersucht wird, die von Jeannot Waringo geleitet wird?

Xavier Bettel: Absolut. Die Untersuchung ist wichtig, um herauszufinden, ob etwas schief gelaufen ist oder nicht, ob Fehler gemacht wurden oder nicht. Weder die Familienministerin noch die Gesundheitsministerin haben sich gegen eine solche Untersuchung ausgesprochen. Ich bin überzeugt, dass Jeannot Waringo die Untersuchung auf neutrale und objektive Art und Weise durchführen wird. Das Parlament hat sich einstimmig für ihn als Koordinator ausgesprochen. Wenn seine Schlussfolgerungen vorliegen, soll eine breite Debatte darüber stattfinden.

Luxemburger Wort: In Deutschland fand vor wenigen Tagen eine Gedenkfeier für die Toten der Pandemie statt. Luxemburg plant auch eine Zeremonie, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt. Wieso erst später?

Xavier Bettel: Wir befinden uns noch immer mitten in einer Pandemie. Das bedeutet, dass die Gedenk zeremonie nur in kleinem Rahmen stattfinden könnte, mit den üblichen Vertretern aus Politik und Gesellschaft. Ich will aber, dass die Hinterbliebenen teilnehmen können. Schließlich geht es um sie.

Luxemburger Wort: In einem Interview vor dem LSAP-Parteikongress hat Vizepremier Dan Kersch eine Corona-Steuer ins Spiel gebracht. Wie stehen Sie dazu?

Xavier Bettel: Die aktuellen wirtschaftlichen Daten zeigen, dass der Impakt der Pandemie in Luxemburg weniger spürbar ist als in den meisten anderen Ländern. Wir müssen trotzdem das Ende der Krise abwarten, bevor wir über eine solche Steuer reden. Erst müssen wir einen Kassensturz machen, um zu wissen, wie es um die Finanzen gestellt ist. Zum jetzigen Zeitpunkt wäre eine Steuererhöhung Gift. In demZusammenhang will ich aber auch betonen, dass die Debatte um die vermeintlichen Krisengewinner zu kurz greift. Es gibt keine Krisengewinner. Betriebe, die mehr verdient haben, haben auch mehr gearbeitet, sie haben sich angepasst und sich neu aufgestellt, haben mehr Steuern bezahlt und sie haben unter Umständen neue Mitarbeiter eingestellt. Das sind keine Krisengewinner. Im Moment brauchen wir Investitionen.

Luxemburger Wort: Schließen Sie eine Corona-Steuer kategorisch aus?

Xavier Bettel: Nein, aber ich plane sie auch nicht ein. Es ist einfach noch zu früh, um zu sagen, wie es weitergehen wird. Wie ich bereits gesagt habe, wir müssen erst einmal einen Kassensturz machen. Ich wäre aber sehr froh, wenn wir ohne Steueranhebung zurechtkämen.

Luxemburger Wort: Apropos Steuern. Ist die geplante große Steuerreform endgültig vom Tisch?

Xavier Bettel: Ich fürchte ja, ich bin eher pessimistisch, dass die Reform noch in dieser Legislaturperiode kommt. Nach dem Kassensturz wird sich zeigen, wie es weitergeht. Es sind nur noch gut zwei Jahre bis zu den Wahlen, die Zeit ist knapp. Die Arbeiten waren bereits weit fortgeschritten und laufen auch weiter. Finanzminister Pierre Gramegna hat im vergangenen Jahr bereits Teilaspekte der anvisierten Steuergerechtigkeit umsetzen können. So haben wir beispielsweise steuerliche Instrumente abgeschafft oder abgeschwächt, die die Spekulation mit Bauland und Immobilien angeheizt haben. Außerdem hat die Regierung eine soziale Kompensation in Form eines Steuerkredits eingeführt, um die finanziellen Auswirkungen unserer Klimapolitik auf schwache Einkommen auszugleichen.

Luxemburger Wort: Seit Jahren fordert der Journalistenverband ein Informationszugangsrecht. Wieso versperren Sie als liberaler Medienminister sich dieser Forderung?

Xavier Bettel: Wir hatten uns zum Ziel gesetzt, dass wir nach zwei Jahren das Transparenzgesetz aus dem Jahr 2018 überprüfen werden. Wir haben den Presserat um ein Gutachten gebeten, das aber noch nicht vorliegt. Die Anmerkungen werden dann in die Bilanz einfließen und bei Bedarf werden wir den Text anpassen. Im Rahmen dieser Debatte können wir auch über das Informationszugangsrecht reden. Wir müssen allerdings ein gutes Gleichgewicht finden.

Luxemburger Wort: Die DP hat gestern Abend bereits zum zweiten Mal ihren Kongress in digitaler Form abgehalten. Welche Auswirkungen hat die Pandemie auf die Parteiarbeit? Wie halten Sie den Kontakt zur Basis?

Xavier Bettel: Es ist in der Tat schwer. Versammlungen in den Lokalsektionen werden zurzeit fast ausnahmslos in digitaler Form abgehalten. Die statutarisch vorgegebene Parteiarbeit kann stattfinden. Das ist in Ordnung. Mir fehlt aber das Menschliche. Wenn ich eine Rede halte, brauche ich das Feedback aus dem Saal, um richtig in Fahrt zu kommen. All das fehlt, wenn man vor einem leeren Saal in eine Kamera blickt. Ich brauche Menschen um mich herum, ich liebe es unter Menschen zu sein. Es sind aber nicht nur die Parteien, die unter der Situation zu leiden haben. Auch das Vereinsleben hat sich total verändert. Die Pandemie hat ganz generell den Alltag der Menschen durcheinandergewirbelt. Ich hoffe, dass die Menschen nach dem Ende der Pandemie ihre Kontakte in gewohnter Form wieder aufnehmen.Es wäre tragisch, wenn das menschliche Zusammensein sich langfristig verändern würde.

Luxemburger Wort: Ist der Fall Semedo innerhalb der Partei verdaut?

Xavier Bettel: Ja. Das Ganze stimmt mich allerdings traurig.

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