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Interview mit Luc Frieden im Luxemburger Wort "Wir sollten unseren Fokus nicht ausschließlich auf Russland richten"
Interview: Luxemburger Wort (Jan Kreller)
Luxemburger Wort: Premierminister Luc Frieden, die Regierung hat sich dazu entschieden, das NATO-Zwei Prozent-Ziel nicht erst 2030, sondern bis zum Jahresende zu erreichen. Wie viel Donald Trump steckt in dieser Entscheidung?
Luc Frieden: Wir leben in einer Welt, in der sich Fundamentales verändert. Auf der einen Seite steht ein zunehmend aggressives Russland, das den Versuch unternimmt, eine neue Art Sowjetunion aufzubauen. Auf der anderen Seite sehen wir die Vereinigten Staaten unter neuer Führung, die unmissverständlich klargemacht haben, dass Europa in Sicherheitsfragen eigenständiger werden muss.
Diese Kombination - die Erfahrung mit Russland, insbesondere im Umgang mit der Ukraine, und die deutlichen Signale aus Washington - führt uns Europäer dazu, verstärkt in unsere eigene Sicherheit zu investieren. Es handelt sich dabei nicht nur um eine bloße Aussage, sondern um eine Reaktion auf die gefährliche Lage, in der wir uns befinden.
Luxemburger Wort: Der NATO-Gipfel in Den Haag könnte wegen der Ungeduld Donald Trumps verkürzt werden. Gibt es nach der schnellen Abreise des US-Präsidenten überhaupt noch etwas zu diskutieren?
Luc Frieden: Ein NATO-Gipfel ist ein Treffen der Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten. Die NATO trifft ihre Entscheidungen im Konsens - nach Diskussionen, wie sie unter Partnern üblich sind. Die Staats- und Regierungschefs mögen wechseln, doch das gemeinsame Ziel bleibt: die Verteidigung unserer Sicherheit, unseres Lebensstils und unserer Art, in Freiheit und Frieden zu leben.
Das wird auch beim NATO-Gipfel unverändert bleiben. Aber klar ist auch: Wir Europäer innerhalb der NATO müssen mehr Verantwortung übernehmen. Ich bin überzeugt, dass wir genau das beim NATO Gipfel in Den Haag erreichen werden.
Luxemburger Wort: Beim Gipfel werden sich die NATO-Staaten auf mindestens 3,5 Prozent Verteidigungsausgaben einigen. Für Luxemburg sind das - Stand heute - rund zwei Milliarden Euro Belastung oder gut angelegtes Geld?
Luc Frieden: Alle zusätzlichen Ausgaben sind selbstverständlich eine Belastung - für unser Land ebenso wie für die anderen 31 Mitgliedstaaten des NATO-Bündnisses. Wir müssen sicherstellen, dass diese notwendige Sicherheitspolitik nicht zulasten anderer wichtiger Bereiche geht. Das ist eine Herausforderung, die nicht nur Luxemburg betrifft, sondern alle Mitgliedstaaten.
Luxemburger Wort: Eine Art Triage wird es im Finanzministerium nicht geben?
Luc Frieden: Die Ziele, die wir in Den Haag besprechen und möglicherweise beschließen, sind langfristig angelegt. Wie lange genau, darüber muss noch gesprochen werden. Das ist natürlich eine große Herausforderung - für die Haushaltspolitik, für den Finanzminister, aber auch für die gesamte Regierung.
Jeder Haushalt ist anspruchsvoll, und zusätzliche Aufgaben und Ausgaben machen ihn noch komplexer.
Ich möchte betonen: Das gilt nicht nur für uns, sondern für alle NATO-Staaten.
Wenn wir also mehr Geld ausgeben und dies gemeinsam beschließen, ist das eine kollektive Herausforderung. Wir müssen dann gemeinsam in Europa überlegen, wie wir diese Last schultern - vielleicht durch gemeinsame Anleihen oder Mittel aus dem EU-Haushalt. Diese Diskussionen stehen uns noch bevor.
Luxemburger Wort: Sind die 3,5 Prozent innerhalb der Regierung Konsens?
Luc Frieden: Wir haben uns noch nicht auf einen genauen Prozentsatz festgelegt, da diese Diskussionen innerhalb der NATO geführt werden müssen. Deshalb reisen wir gemeinsam mit dem Außenminister und der Verteidigungsministerin zum Gipfel. Nach dem wir zugehört haben, werden wir gemeinsam handeln. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Luxemburg einen anderen Weg geht als seine Partner.
Luxemburger Wort: Macht es für Luxemburg mit seinen spezifischen Limitierungen Sinn, Verteidigungsausgaben bis zu fünf Prozent mitzutragen?
Luc Frieden: Wir sprechen hier nicht nur über Verteidigung, sondern über Sicherheit. Und natürlich ist Sicherheit sinnvoll. Wenn wir in Freiheit leben wollen, müssen wir sicherstellen, dass unsere Infrastruktur - Rechenzentren, Computersysteme, Krankenhäuser - widerstandsfähig und resilient ist. Dafür müssen wir investieren, um diese Resilienz langfristig aufzubauen.
Diese Ausgaben sind sinnvoll, wenn sie klug eingesetzt werden. Deshalb müssen wir in den kommenden Jahren klar definieren, was wir vorrangig schützen wollen.
Die NATO liefert dazu gemeinsame Analysen, welche militärischen Kapazitäten gebraucht werden - und jedes Land hat seinen Beitrag zu leisten.
Luxemburger Wort: Man könnte es auch wie kürzlich der spanische Ministerpräsident machen und den fünf Prozent gleich eine Absage erteilen...
Luc Frieden: Eine Entscheidung wird nur dann getroffen, wenn wir uns nach ausführlichen Diskussionen gemeinsam auf einen bestimmten Prozentsatz einigen. Diese Gespräche laufen bereits und werden auch in Den Haag mit unseren Kolleginnen und Kollegen sowie mit unseren Nachbarstaaten fortgeführt.
Wir wissen, dass die osteuropäischen Länder heute bereits deutlich mehr Geld ausgeben als die west- und südeuropäischen Staaten, da sie geografisch näher an Russland liegen. Dennoch sollten wir unseren Fokus nicht ausschließlich auf Russland richten.
Es gibt viele Bedrohungen, denen wir ausgesetzt sind - und durch neue Technologien entwickeln sich diese Gefahren oft sehr schnell. Auf all diese Szenarien müssen wir vorbereitet sein.
Luxemburger Wort: Sie sprachen eben von Kapazitäten. Wie sehen Sie in den kommenden Jahren die Rolle Luxemburgs innerhalb der NATO?
Luc Frieden: Luxemburg ist Teil dieses Bündnisses und trägt Verantwortung. Wie dieser Beitrag im Detail aussieht, wird von der Verteidigungsministerin in Abstimmung mit der NATO festgelegt. Für die Regierung ist es jedoch auch wichtig, dass ein Teil der Ausgaben der Verteidigungspolitik in die luxemburgische Wirtschaft zurückfließt.
Deshalb wurde eine interministerielle Arbeitsgruppe eingerichtet, die in den kommenden Jahren prüfen wird, welche Unternehmen in Luxemburg - bestehende oder neu angesiedelte - zur Zulieferkette der Verteidigungsindustrie beitragen können.
Die zuständigen Ministerien arbeiten aktiv an dieser Aufgabe.
Luxemburger Wort: Laut des jüngsten Politmonitors befürworten nur die Hälfte der Luxemburger Verteidigungsausgaben von mehr als fünf Prozent. Auf welch wackeligen Beinen steht die NATO-Politik der Regierung?
Luc Frieden: Ich verstehe das Umfrageergebnis gut - ich hätte selbst ähnlich geantwortet. Trotz dem bleibt die Grundfrage bestehen: Wenn alle NATO-Staaten ihren Beitrag leisten, ist es aus meiner Sicht verantwortungsvoll und notwendig, dass auch Luxemburg sich im gleichen Maße beteiligt. Würde ein Land ausscheren, gäbe es die NATO in ihrer heutigen Form nicht mehr. Deshalb ist es so wichtig, beim Gipfel in Den Haag zu zuhören, zu diskutieren und gemeinsam zu entscheiden.
Natürlich wünschen sich viele - auch ich - eine Welt, in der wir keine Verteidigungsausgaben mehr brauchen. Doch die Realität, etwa in der Ukraine oder im Nahen Osten, zeigt uns leider das Gegenteil. Sicherheit kostet kurzfristig Geld, aber sie schützt langfristig unsere Lebensweise. Und dafür müssen wir Verantwortung übernehmen.
Luxemburger Wort: Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz hat angekündigt, die Bundeswehr zur größten Armee Europas aufbauen zu wollen. Wie besorgt sind sie über dieses Vorhaben? Wir reden hier über mehr als 200.000 Soldaten...
Luc Frieden: Ich betone noch einmal: Wir sind ein Verteidigungsbündnis, in dem jeder dem anderen beisteht. Wenn andere Staaten ihre Verteidigungskapazitäten ausbauen und diese der NATO zur Verfügung stellen, liegt das auch in unserem Interesse. Wir sollten es ausdrücklich begrüßen, wenn andere Länder auch unsere Verteidigung mit absichern.
Wenn die USA ihre militärische Präsenz in Europa künftig nicht mehr im gleichen Umfang wie früher aufrechterhalten, müssen die europäischen Staaten mehr Verantwortung übernehmen. Ich hoffe jedoch, dass Amerika - im eigenen Interesse und im Interesse Europas - weiterhin militärisch in Europa präsent bleibt.
Luxemburger Wort: Welche Sicherheitsinteressen wären das in den Augen von US-Präsident Trump?
Luc Frieden: Amerika hat kein Interesse daran, dass sich Russland in Europa ausbreitet. Ebenso wenig kann es im Interesse der USA sein, dass sich ihre traditionellen Partner abwenden oder amerikanische Unternehmen in Europa gefährdet sind.
Deshalb bin ich überzeugt, dass es auch in Zukunft ein gemeinsames Werte-, Wirtschafts- und Sicherheitsbündnis zwischen Europa und den USA geben wird.
Solche Beziehungen sollte man nicht kurzfristig betrachten, sondern im langfristigen, geopolitischen Kontext - über die rein bilaterale Beziehung hinaus.
Luxemburger Wort: Sie vermeiden jetzt den Namen Donald Trump... Sehen Sie tatsächlich, dass ihm an der Sicherheit Europas etwas liegt?
Luc Frieden: Heute werde ich den amerikanischen Präsidenten in Den Haag zum ersten Mal treffen. Ich möchte ihm zunächst zuhören - erfahren, was er zur NATO und zur transatlantischen Partnerschaft zu sagen hat.
Erst danach kann ich mir ein klareres Bild machen.
Was sich in der amerikanischen Politik verändert hat, ist die Art, wie das Interesse an Europa formuliert wird - anders als bei einigen seiner Vorgänger. Damit müssen wir umgehen. Gleichzeitig entsteht daraus die Notwendigkeit, dass sich Europa sicherheitspolitisch stärker auf eigene Füße stellt.
Luxemburger Wort: Die EU hat einen 800-Milliarden-Schuldenrahmen für Wiederaufrüstung lanciert. Sollte sich die EU damit von der NATO emanzipieren?
Luc Frieden: Europa muss in vielen Bereichen auf eigenen Füßen stehen - in der Sicherheit, der Wirtschaft, der Technologie und der künstlichen Intelligenz.
Das schließt Partnerschaften in der Welt nicht aus. Aber wir sollten unsere Souveränität und unsere Stärken gezielt nutzen.
Gerade in der aktuellen geopolitischen Lage hat Europa eine wichtige Rolle zu spielen - und Luxemburg wird sich daran beteiligen.
Luxemburger Wort: Das klingt sehr positiv. Russland ist allerdings immer noch in der Lage, mehr Rüstung pro Dollar zu generieren als EU-Staaten. Europa ist rüstungspolitisch stark fragmentiert. Für wie verteidigungsfähig halten Sie die EU?
Luc Frieden: Ich sehe das deutlich positiver, denn in Europa arbeiten wir in vielen dieser Fragen sehr eng zusammen. Der Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO hat uns zusätzlich gestärkt.
Auch wenn es gelegentlich Gegenstimmen gibt, habe ich in den 18 Monaten meines Amts festgestellt, dass die Staats- und Regierungschefs bei sicherheitspolitischen Fragen, insbesondere zur Ukraine, stets sehr geschlossen auftreten. Das beeindruckt auch Russland.
Luxemburger Wort: Geschlossenheit gibt es auch beim mittlerweile 18. EU-Sanktionspaket gegen Russland. Warum haben die Pakete bisher scheinbar keinen Effekt auf die Lage in der Ukraine?
Luc Frieden: Russland hat sein Ziel, die Ukraine zu vernichten, nicht erreicht. Auch nach drei Jahren hat es diesen Krieg nicht gewonnen - und das ist auch der starken Unterstützung der Europäischen Union für die Ukraine zu verdanken. Die Ukraine kämpft nicht nur für ihre eigene Freiheit, sondern auch für unsere - und für die Achtung des internationalen Rechts. Das ist von großer Bedeutung.
Ich bin überzeugt, dass unsere Maßnahmen Wirkung zeigen. Doch Russland verfolgt weiterhin eine aggressive Expansionspolitik. Deshalb ist es notwendig, den Druck aufrechtzuerhalten.
Luxemburger Wort: Wie sehen Sie die Chancen der Ukraine für einen NATO und EU-Beitritt?
Luc Frieden: Zuerst müssen wir die Ukraine unterstützen, damit sie als souveräner Staat überleben kann. Ihr Weg in die EU muss - wie bei allen Kandidaten - nach objektiven Kriterien erfolgen. Das ist anspruchsvoll, aber notwendig.
Ein möglicher EU-Beitritt ist nicht die vordringlichste Frage. Vorrang hat, wie wir einen dauerhaften Frieden in der Ukraine erreichen. Gleichzeitig müssen wir unsere Nachbarn unterstützen, um Stabilität rund um die EU zu sichern - im Balkan, in der Ukraine und auch im Nahen Osten, wo Frieden und internationales Recht ebenso gelten müssen.